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4.6 Fazit und Empfehlungen für die Praxis
ОглавлениеWas ist zu tun? Vier Aspekte sind aus Sicht der Autorin und des Autors zentral:
• Erstens geht es um Qualifikation (besser: Bildung). Ohne gemeinsame Anteile im Hinblick auf Aus-, Fort- und Weiterbildung in Medizin und Pflege fehlt eine zentrale Grundlage, auf der ein interprofessioneller Dialog gründen kann.
• Zweitens sind Anreize wichtig. Zu denken ist (auch) an finanzielle Aspekte, aber nicht nur. Entscheidend für die Arbeitsmotivation (sowohl von Ärzten als auch von Pflegenden) sind gute und die Selbstwirksamkeit fördernde Arbeitsbedingungen. Diesbezüglich sind entsprechende Strukturen bedeutsam wichtig, die einen geeigneten Rahmen für die Zusammenarbeit darstellen.
• Drittens sollten geeignete Verfahren und Instrumente implementiert werden. Die genannten multiprofessionellen Leitlinien sind ein wichtiger Ansatz hierzu.
• Viertens müssen gängige, vermeintliche Lösungsansätze, wie die Delegation ärztlicher Tätigkeiten, tiefergehend analysiert und hinterfragt werden, um eine Kooperation auf Augenhöhe zu ermöglichen.
• Auf dieser Grundlage kann sich – fünftens – eine Kultur der Zusammenarbeit entwickeln, bei der die Eigenlogik der Professionen relativiert und das Interesse des Patienten bzw. des Bewohners in den Vordergrund gerückt wird.
Es wird auch nicht ohne Fortschritte im Hinblick auf die akademische Entwicklung in der Pflege gehen. Aktuell (2020) existiert in allen deutschsprachigen Ländern eine Pflegewissenschaftliche Fakultät – bei mehr als 50 Medizinischen Fakultäten. Mit Trägerbeschluss von Ende März 2021 wurde diese Fakultät mit sofortiger Wirkung stillgelegt. Hier ist noch erheblicher Nachholbedarf. Aber all dies wird wenig helfen, wenn nicht die Bereitschaft zu einer »fairen Kooperation« der Akteure vorhanden ist. Dieser Begriff ist von dem amerikanischen Rechtsphilosophen Rawls entwickelt worden. Er hat zunächst überhaupt nichts mit den Akteuren im Gesundheitswesen zu tun. Rawls war daran interessiert, die Bedingungen in einem Gemeinwesen zu eruieren, die für ein gedeihliches Miteinander aller Voraussetzung sind. Ausgangspunkt war für ihn die Annahme, dass sich alle Beteiligten grundsätzlich auf etwas Neues, Gemeinsames einstellen müssen, damit die Zusammenarbeit gelingt. Eigene Denkweisen und Praktiken müssen infrage gestellt werden, eine Distanz zur eigenen professionellen Haltung und damit die Einsicht in deren Bedingtheit und Relativität sind notwendig. Rawls (2003, S. 82) hat dabei folgende Kriterien aufgestellt, denen ein »faires System der Kooperation« genügen muss:
• Es »wird von öffentlich anerkannten Regeln und Verfahren geleitet, die von den Beteiligten akzeptiert und von diesen als angemessene Regeln für ihr Handeln betrachtet werden.«
• »Faire Bedingungen der Kooperation konkretisieren eine Vorstellung von Reziprozität: alle, die sich beteiligen und ihren Beitrag leisten, so wie es die Regeln und Verfahren fordern, müssen nach Maßgabe einer geeigneten Vergleichsbasis in angemessener Weise davon profitieren.«
• »Die Idee sozialer Kooperation setzt eine Vorstellung davon voraus, was für jeden Teilnehmer in rationaler Weise vorteilhaft oder gut ist. Die Vorstellung des Guten konkretisiert, was die an der Kooperation Beteiligten […] zu erreichen versuchen, wenn das System von ihrem eigenen Standpunkt aus betrachtet wird.«
Rawls verfolgte ein pragmatisches Ziel: Er wollte zeigen, dass es denkbar und möglich ist, in der Kooperation zu einem tragfähigen »übergreifenden Konsens« zu gelangen, d. h. sich auf etwas Gemeinsames zu verpflichten, ohne die eigenen Überzeugungen und Handlungsziele aufzugeben. Wechselseitige Anerkennung ist zwingend und ermöglicht dann eine faire Kooperation, die nicht nur aus der Perspektive der eigenen Disziplin, durch Eigeninteressen etc. definiert wird. Rationalität ist wichtig, aber sie reicht nicht aus. Ohne Lust an einer kritisch-konstruktiven Auseinandersetzung mit dem Anderen wird es nicht gehen. Dabei sollte in Zukunft stärker ein bislang insbesondere in Deutschland vernachlässigter Aspekt der Gesamtproblematik in den Vordergrund gerückt zu werden – die Zusammenarbeit mit den Betroffenen (hiermit sind Patienten und Angehörige gemeint) selbst! Sie ist ein unverzichtbarer Bestandteil einer gelingenden (interdisziplinären) Zusammenarbeit. Betroffene sind Experten in eigener Sache, ihre Stimme muss zukünftig bei der Planung von Dienstleistungen und Angeboten im Versorgungssektor zunehmend gehört werden.