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5.1.2 Altern als individueller Entwicklungsprozess

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Die Kritik an der Kategorisierung von Alternsverläufen und die Diskussion um die Gestaltbarkeit erfolgreichen Alterns verweist auf die Dynamik und Variabilität des Alterns. Das höhere Erwachsenenalter wird heute als eine vielfältige dynamische Lebensphase verstanden, die sich durch mehrere Prozesse und Eigenschaften auszeichnet, von denen hier vier erwähnt werden sollen (vgl. ausführlich Baltes 1997; Wahl und Heyl 2004):

• Zunächst ist der dynamische Prozess des Alterns nicht durch ausschließlich negative (oder positive) Funktionsverläufe gekennzeichnet, sondern dadurch, dass erlebte Gewinne und Verluste nebeneinanderstehen können (multiple Gerichtetheit).

• Zweitens kann die Richtung der Verläufe über die Zeit in unterschiedlichen Bereichen (z. B. Intelligenz, soziale Kontakte, Gesundheit) unterschiedlich sein (Multidimensionalität, Multidirektionalität).

• Drittens ist zu berücksichtigen, dass das Altern, vielleicht heute deutlicher als jemals zuvor, durch ein sehr großes Ausmaß an interindividueller Variabilität (zwischen Personen) und intraindividueller Variabilität (Phasen der Veränderung und Konstanz innerhalb einer Person) gekennzeichnet ist.

• Schließlich ist empirisch auch gut belegt, dass Menschen im höheren Alter nicht nur im Bereich kognitiver Fähigkeiten, sondern auch in den Bereichen Persönlichkeit, Motivation und Emotion über ein erhebliches Ausmaß an Plastizität ( Kap. 5.4)verfügen können, was einerseits für die Kompensation von Einbußen (z. B. im Bereich der Gesundheit) im Alltag bedeutsam sein kann, andererseits aber gerade auch im Hinblick auf Bildungs- und Lernprozesse im höheren Alter sowie auf die Gestaltbarkeit von Lebensbedingungen diskutiert wird (Kessler et al. 2009; Schramek et al. 2018; Wahl und Schilling 2012).

Vor diesem Hintergrund sollen die, insbesondere in der Entwicklungspsychologie des höheren Alters verortete Fragen nach Entwicklungsmöglichkeiten und Entwicklungszielen im Alter herausgestellt werden ( Kap. 5.6 und Kap. 5.7). Entwicklung im höheren Lebensalter hat drei unterschiedliche Ziele, nämlich (1.) Wachstum, (2.) Aufrechterhaltung einschließlich Wiederherstellung und (3.) Regulation von Verlusten. Je nach Lebenssituation werden die Ressourcen der Person in unterschiedlichem Ausmaß zur Erreichung dieser drei Entwicklungsziele eingesetzt. Wachstum dient der Weiterentwicklung eines Verhaltens in Richtung eines höheren Niveaus der Fähigkeiten. Mit Aufrechterhaltung und Wiederherstellung werden Verhaltensweisen beschrieben, die das einmal erreichte Niveau an Fähigkeiten trotz erlebter Einbußen zu erhalten versuchen. Verlustregulation schließlich beschreibt die »Orchestrierung« verbliebener Fähigkeiten, um eine Funktion auf niedrigerem Niveau zu sichern, wenn eine Aufrechterhaltung nicht möglich ist (Baltes 1997). Insbesondere bei vorliegenden Kompetenzeinbußen, Erkrankungen oder im Angesicht von Grenzen des Lebens sind die beiden letztgenannten Entwicklungsziele angesprochen. Wenn zudem aufgrund der Schwere des Eingriffs eine Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung des Status quo nicht erreicht werden können, beschränkt sich Entwicklung auf das Ziel der Regulation von Verlusten.

Unabhängig von den drei genannten Zielen werden Entwicklungsprozesse aber auch jenseits einer funktionalen Erhaltungs-, Wiederherstellungs- oder Regulationsperspektive beschrieben, beispielsweise wenn es um die Konfrontation mit einer nicht nur lebensbedrohlichen, sondern sogar infausten, also absehbar zum Tode führenden Diagnose oder um die Auseinandersetzung mit dem eigenen Sterben und Tod geht (z. B. Kruse 1995, 2007). Die Konfrontation mit Sterben, Tod und Endlichkeit stellt dabei eine Krise oder auch Grenzsituation (Jaspers 1932) dar, die nicht nur nach verantwortlichem Umgang und Bewältigung verlangt, sondern auch eine Möglichkeit zur Entwicklung der Persönlichkeit bieten kann (Kruse 2007, S. 81). Diese Perspektive wird hier nicht weiterverfolgt, verdeutlicht aber die Bandbreite möglicher Entwicklungsoptionen auch unter scheinbar widrigen Entwicklungsbedingungen.

Im höheren Alter, insbesondere im sehr hohen Alter (80 Jahre und älter), ist trotz der Gleichzeitigkeit erlebter Gewinne und Verluste von einer grundsätzlichen Verschiebung des Gleichgewichts zuungunsten der Gewinne und zugunsten der Verluste auszugehen (Mayer und Baltes 1996). Die Auseinandersetzung mit Verlusten (sozial, gesundheitlich, kognitiv), die erhöhte Wahrscheinlichkeit mehrfacher gleichzeitiger Belastungen (z. B. Multimorbidität) und ein eingeschränktes Fähigkeitsspektrum zur Kompensation der Einbußen können somit auch als zum »normalen« Altern gehörend interpretiert werden, sind gleichsam erwartbare Facetten des Alters, insbesondere des sehr hohen oder sogenannten »Vierten Alters« (Baltes und Smith 1999, Kap. 5.3). Die Unterscheidung eines »Dritten Alters« (ca. 65–80 Jahre) von einem »Vierten Alter« (ab ca. 80 Jahre) wird dabei nicht a priori durch die Zuordnung kalendarischen Alters bestimmt, sondern unter anderem empirisch gestützt durch durchschnittlich höhere Risiken für Multimorbidität, durch häufigere Verlusterfahrungen und weniger Möglichkeiten zur Kompensation von Einbußen (Baltes und Smith 1999). Für die Einordnung des individuellen Erlebens z. B. einer lebensbedrohlichen Erkrankung stellt sich aber für einen alten Menschen weniger die Frage, ob dies im Rahmen normaler oder krankhafter Alternsverläufe oder im Dritten oder Vierten Alter stattfindet, sondern eher, über welches Repertoire an Zielerreichungs- und Bewältigungsformen man verfügt, um mit Verlusten umzugehen und um Lebensqualität zu erhalten.

Praxishandbuch Altersmedizin

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