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Dislokation
ОглавлениеSpätestens seit dem 15. Jh. ist der Begriff D. (lat. delocatio oder dislocare, von dis, für ‚auseinander‘ und locus, für ‚↗ Ort‘), der etymologisch ‚Verschiebung‘ oder ‚Umplatzierung‘ (↗ Platz) meint, in der Medizin als chirurgisch verwendeter Terminus für Knochenbrüche gebräuchlich. Eine Bedeutungserweiterung entsteht seit dem 16. Jh. im Bereich des Militärwesens, für die als Synonym auch der Ausdruck ‚Dislozierung‘ verwendet wird, welcher die von einer militärischen Führung vorgenommene räumliche Verteilung (↗ Strategie) von Truppen und das strategische Ausschwärmen von Einheiten im topographischen Raum (↗ Topographie) bezeichnet. Die Soziologie adaptiert mit Anthony Giddens (1988) diesen Begriff im konstruktivistischen ↗ Diskurs über hegemoniale Konzepte des ↗ Raums. In diesem Kontext betont die politische Theorie Ernesto Laclaus (↗ Ausdruck) die ebenso zeitliche Konstitution von Dislozierung (engl. dislocation), welche – eingreifend in ein System, in eine ↗ Struktur oder ↗ Topologie – destruierende Effekte erzeugt. Ein von ↗ Zeit subvertiertes Raumkonzept voraussetzend, ist Dislozierung nach Laclau (1990, 44) auch für die Subjektbildung konstitutiv, insofern das Subjekt (↗ Origo) seine Existenz (↗ Ekstase) nicht vollends in einer Struktur realisieren kann, auf die es diese gründet. Demnach relativieren sich über den dislokatorischen Einbruch von Zeitlichkeit Hegemonisierungen von „Raum/System/Identität/Gesellschaft“ (Marchart 1999, 121). Vor diesem Sinnhorizont zeigt sich eine Parallele zu einem der Hauptbegriffe der Situationistischen Internationale, der ↗ Zweckentfremdung (frz. détournement), die als künstlerisch-aktionistische ↗ Praxis auf die Umformulierung der kulturellen Repräsentationssysteme einer ‚Gesellschaft des ↗ Spektakels‘ zielt und dekonstruktivistische Theoriebereiche antizipiert, in welchen D. auf das Fehlen (↗ Fehl) singulärer ↗ Zentren in den Signifikationssystemen verweist. Im rhizomatischen (↗ Rhizom) Raum des ↗ Cyberspace eröffnet diese philosophisch reflektierte ↗ Möglichkeit ein widerständiges Potential: Die Debatte um den urbanen (↗ Urbanität) öffentlichen Raum (↗ Öffentlichkeit) und die kontextuelle Erweiterung des Werkbegriffes fasst Dislozierung als produktive Störung auf, die nach Rosalyn Deutsche (1996), in Übernahme der Grundannahmen der politischen Theorien von Laclau und Chantal Mouffe (1985) sowie Claude Leforts (1924–2010), öffentlichen Raum erst konstituiert, insofern dieser nicht durch Konsens, sondern im Dissens entsteht (Lefort 2011). Die in den Cultural Studies thematisierte ↗ Erfahrung „eines Bruchs mit der Gleichung von kultureller Identität und nationalem Territorium“ (Weigel 2002, 156) verdichtet sich in der semantisch (↗ Semantik) verwandten Figur (↗ Figuralität) des ‚Displacement‘, die unter den Bedingungen der neuen Weltordnung (↗ Weltsystem) und Migrationsdynamiken (↗ Exil) nach Michael Hardt und Antonio Negri (2002) für die Netzwerkgesellschaft (↗ Ströme) und die ‚Multitude‘ (↗ Masse) charakteristisch ist.
Literatur: Edwards 2005; Gaedke 1990; Kaplan 2005.
Deutsche, Rosalyn (1996): Evictions, Cambridge/London.
Edwards, Sean J. A. (2005): Swarming and the Future of Warfare, Santa Monica.
Gaedke, Dieter (1990): Dislokation des stehenden Heeres, in: Erläuterungsband zum administrativ-statistischen Atlas vom preussischen Staate, hg. v. W. Scharfe, Berlin, 67–77.
Giddens, Anthony (1988): Die Konstitution der Gesellschaft, Frankfurt a. M./New York [engl. 1984].
Hardt, Michael/Negri, Antonio (2002): Empire, Frankfurt a. M./New York [amerik. 2001].
Kaplan, Caren (2005): Questions of Travel, Durham.
Laclau, Ernesto (1990): New Reflections on the Revolution of Our Time, London/New York.
Ders./Mouffe, Chantal (1985): Hegemony and Socialist Strategy, London/New York.
Lefort, Claude (2011): Menschenrechte und Politik, in: Die Revolution der Menschenrechte, hg. v. Ch. Menke u. F. Raimondi, Berlin, 253–278 [frz. 1980].
Marchart, Oliver (1999): Kunst, Raum und Öffentlichkeit(en), in: stadtmotiv, hg. v.A. Lehner u. P. Maier, Wien, 96–158.
Weigel, Siegrid (2002): Zum ‚topographical turn‘, in: Kultur-Poetik 2/2, 151–165.
Ursula Frohne