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Deterritorialisierung

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↗ Raum nicht als in sich geschlossenes (↗ Schachtel) Territorium zu fassen, sondern ihn als prozessual und dynamisch zu verstehen (↗ Glättung), liegt dem Begriffspaar D. und Reterritorialisierung zugrunde. Für die ↗ Geophilosophie des Philosophen Gilles Deleuze (1925–1995) und des Psychoanalytikers Félix Guattari (1930–1992) ist die Konzeption eines solchen Verständnisses von relationalem Raum (↗ Relation) fundamental. Aus der psychiatrischen Praxis kommend, in der D.s- und Reterritorialisierungsprozesse einerseits Entgrenzung (↗ Überschreitung) des als ‚normal‘ geltenden psychischen Zustandes und andererseits Rückführung in diesen meinen, wird die D. zur grundlegenden Formel ihrer auf ↗ Bewegung und ↗ Prozess ausgerichteten Denkweise (↗ Logos). In Abgrenzung von einem Raumverständnis, das die Aufteilung (↗ Nahme) eines bereits Verteilten beschreibt, will das Denken ihres ↗ Nomadismus als eines des noch nicht umgrenzten (↗ Zaun) Raums verstanden werden. Es geht nach Deleuze und Guattari (1992, 295) erst um die Zuteilung dessen, „was sich verteilt, in einem unbegrenzten offenen Raum, in einem Raum, der zumindest keine genauen ↗ Grenzen hat“. Die D. ist Ausdruck für die Dynamik und Beweglichkeit, die Raum nicht darüber definiert, was er umfasst, sondern vielmehr darüber, was ihn ‚entfliehen‘ (↗ Flucht) lässt: „Immer fließt oder flüchtet etwas, das den binären Organisationen entflieht, dem Resonanzapparat, der Übercodierungsmaschine entgeht“ (ebd., 295). Wenn die ↗ Vektoren der D. in diesem Sinne jeden Raum durchziehen, so kommt die D. als Bewegung der ↗ Fluchtlinie des Territoriums nicht ohne Reterritorialisierung vor. D. und Reterritorialisierung sind aneinander gekoppelt, es gibt keine D., die nicht von irgendeiner Art der Reterritorialisierung begleitet wird. Es wird aber eine ‚relative‘ von einer ‚absoluten‘ D. unterschieden, und lediglich in Letzterer werden nach Deleuze und Guattari (1977) ↗ Kodes – wie z.B. die der ↗ Sprache oder die des ↗ Kapitals – tatsächlich so durcheinandergewirbelt (↗ Wirbel), dass eine Reterritorialisierung nicht mehr daran gekoppelt ist, was jedoch nicht heißt, dass nicht letztendlich auch diese absoluten D.en in eine umso absolutere Reterritorialisierung münden können. Das auf ein Denken des ↗ Werdens (Thiele 2008) gegründete Verständnis der D. und Reterritorialisierung findet ihr berühmtestes Beispiel in dem von Deleuze und Guattari 1976 in ihrem Manifest Rhizom genannten ‚Werdens-Block‘, den etwa Orchidee und Wespe miteinander bilden. In ihrem Verhältnis zueinander durchlaufen beide D.sbewegungen und Reterritorialisierungsprozesse, die sie nach dem Biologen Remy Chauvin (1913–2009) aparallele Evolution (↗ Auswicklung) nennen: Weder Ähnlichkeit noch Imitation ist im ‚Orchidee-Werden‘ der Wespe und im ‚Wespe-Werden‘ der Orchidee ausschlaggebend, sondern das Aufeinandertreffen (↗ Begegnung) zweier Wesen, die absolut nichts miteinander zu tun haben (Chauvin 1969), aber ein gemeinsames ↗ Rhizom bilden. Das über die D. als fließend zu verstehende Raumverständnis kann auch ertragreich mit der geophysischen Theorie der Kontinentaldrift Alfred Wegeners (1880–1930) in Verbindung gebracht werden, die diesem Geowissenschaftler erst lange nach seinem Tod den verdienten Ruhm einbringt. Für die heutige Plattentektonik (↗ Tektonik) eine der wichtigsten Grundlagen, erntet Wegener (2005) zu seinen Lebzeiten kein Verständnis für seine These, dass sich die ↗ Kontinente über Millionen von Jahren verschoben haben, dass ihre ↗ Lage also nicht fixiert ist, sondern sie auf dem fließfähigen oberen Erdmantel (Lithosphäre) ‚schwimmen‘ (↗ Meer). Es ist ein solch fließender oder werdender ↗ Zeitraum, der über das Begriffspaar D. und Reterritorialisierung konzeptualisiert wird; ein Raum, der nicht einfach ist, sondern sich verteilt.

Literatur: Günzel 1998, 99ff.; Thiele 2008.

Chauvin, Rémy (1969): Entretiens sur la sexualité, Paris.

Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1977): Anti-Ödipus, Frankfurt a.M. [frz. 1972].

Dies. (1992): Tausend Plateaus, Berlin [frz. 1980].

Günzel, Stephan (1998): Immanenz, Essen.

Thiele, Kathrin (2008): The Thought of Becoming, Berlin.

Wegener, Alfred (2005): Die Entstehung der Kontinente und Ozeane, Berlin/Stuttgart [1915].

Kathrin Thiele

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