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Bewegung

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Im klassischen griechischen Denken der antiken Physik und Metaphysik steht die B. (gr. kinesis) allgemein für Veränderung im Sinne eines Wechsels des ↗ Ortes, Anderswerdens oder einer Zu- und Abnahme (↗ Zuwachs). B. bedeutet dabei zuallererst Selbstb. und nicht ein Bewegtwerden durch etwas im ↗ Außen – ein Wesenszug alles Lebendigen und Natürlichen (↗ Natur). Im Gegensatz zu äußerlich hergestellten Artefakten liegt der Ursprung der natürlichen B. und seiner ↗ Ruhe in sich selbst. Platon (427–347 v. Chr.) erklärt im Dialog Phaidros (245c) die Seele als sich selbst bewegend. Ruhe und B. nimmt er im Dialog Sophistes (248e–251a) unter die Grundbestimmungen des Seins auf. Aristoteles (384–322 v. Chr.) untersucht in seiner Metaphysik die physische B., die er nicht nur als Selbstb., sondern auch als Zielb. ausführt. Alle B. finde ihre Quelle in Gott als dem ersten und unbewegten Beweger, der „als geliebter“ (1072 b3) bewegt, ohne selbst bewegt zu werden. Die klassische B.slehre, die sich an einer Kosmologie von Orten und ihrer Beziehungen untereinander orientiert, erfährt im 17. Jh. durch Galileo Galileis (1564–1642) Entdeckung, dass die ↗ Erde sich um die Sonne dreht (↗ Geozentrik), eine Neubestimmung (↗ Wende). René Descartes (1596–1650) erklärt alle Naturerscheinungen mit den Begriffen der ↗ Ausdehnung und B. Fasst man mit Descartes die Körperwelt rein geometrisch auf, dann muss die Materie ein ↗ Kontinuum und ins Unendliche teilbar sein. Er beschreibt vor dem Hintergrund der Erkenntnisse in der naturwissenschaftlichen Physik die B. als bloßen Ortswechsel, als eine Vertauschung einer Raumstelle (↗ Fleck) gegen eine andere, die sich in ein fertiges ↗ Schema von ↗ Raum und ↗ Zeit einfügen und sich messen (↗ Metrik), lokalisieren und datieren lässt. Kennzeichnend für die kartesische Raumvorstellung ist der in den Meditationes de prima philosophia von 1641 beschriebene Dualismus, den ↗ Geist bzw. die Seele als vom Körper getrennt zu betrachten. B.en werden von fremden Kräften (↗ Kraft) erzeugt und nicht von eigenen Zielen geleitet. Die geänderte heutige Sichtweise geht davon aus, dass Handlungen und menschliche (↗ Mensch) B.en verschiedene Bedeutungen haben können, die kontextgebunden sind, d.h. phänomenologisch gesprochen in einer sozialhistorischen Mit- und Dingwelt leiblich bzw. körperlich verankert sind. Marcel Mauss (1872–1950) in Soziologie und Anthropologie von 1950, Norbert Elias (1897–1990) in Über den Prozess der Zivilisation von 1939, Arnold Gehlen (1904–1976) in Der Mensch, seine Natur und Stellung in der Welt von 1940 und Michel de Certeau (1925–1986) in Arts de Faire von 1980 beschreiben den Körper und seine B. als Möglichkeit der ↗ Handlung, sich ↗ Welt anzueignen. Indem das handelnde Subjekt die Welt formt, macht es sie zu einem Teil von sich selbst. Umgekehrt wird das handelnde Subjekt von der ↗ Umwelt ergriffen und seinerseits von dieser geformt. Die Phänomenologie mit Edmund Husserl (1859–1938), die den ↗ Leib als „Umschlagstelle“ (Husserl 1952, 286) zwischen Natur und Geist begreift (↗ Zwischen), entdeckt die leibliche Selbstb. neu. Der menschliche Körper ist dabei als ↗ Nullpunkt der ↗ Orientierung im Raum zu sehen. In der B. wird der Raum hergestellt und bildet ihn zugleich ab (↗ Kinästhesie). Dabei verändern sich die leiblich gebundenen Standorte, von denen aus sich der Raum jeweils neu entfaltet. Maurice Merleau-Ponty (1980–1961) beobachtet darüber hinaus, dass Menschen einem Paradoxon ausgesetzt sind, wenn sich, beim Wechsel der ↗ Perspektive, der ↗ Horizont, der Raum in seiner ↗ Tiefe, jeweils zurückzieht und verbirgt (Merleau-Ponty 1966, 297–302). In Abgrenzung zum kartesischen Dualismus und einem einseitig orientierten Intellektualismus versteht er die leibliche B. als ein Zusammenspiel von Motorik (↗ Lokomotion), Sensorik (↗ Sinn) und Denken (↗ Logos). An der Beschreibung des Phänomens der B. über die motorische Aktivität hinausgehend, wirken nicht nur Philosophen wie Helmuth Plessner (↗ Auge-Hand-Feld) oder Martin Heidegger (↗ Dasein), sondern auch medizinische Anthropologen und Psychopathologen wie Erwin Straus (1891–1975) in Vom Sinn der Sinne von 1935, Victor von Weizsäcker (1886–1957) in Der Gestaltkreis (↗ Gestalt) von 1940 oder Biologen wie Jakob J. von Uexküll (1864–1944) und Frederik J. J. Buytendijk (1887–1974) mit. B. als ↗ Ereignis zu denken, findet in postmodernen und poststrukturalistischen sowie nachhusserlschen phänomenologischen Theorien vor dem Hintergrund der neuen Medien (↗ Medium), der Raumkünste (↗ Kunst) und Technologien sowie deren Vernetzungen (↗ Netzwerk) eine weitergehende Akzentuierung, die sich der Flüchtigkeit zuwendet, dem Gedanken der Abund ↗ Anwesenheit sowie der Eigen- und Fremdb. und Verschiebungen (↗ Differenz) in der Wahrnehmungsweise (↗ Wahrnehmungsraum) von zeitlichen und räumlichen Bezügen.

Literatur: Gebauer 1997; Müller 2006; Waldenfels 2009 u. 2010, 211–229.

Gebauer, Gunter (1997): Bewegung, in: Vom Menschen, hg. v. Ch. Wulf, Weinheim, 501–515.

Husserl, Edmund (1952): Ideen zu einer reinen Phänomenologie, Bd. 2, Den Haag/Dordrecht.

Merleau-Ponty, Maurice (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin [frz. 1945].

Müller, Sven (2006): Naturgemäße Ortsbewegung, Tübingen.

Waldenfels, Bernhard (2009): Ortsverschiebungen, Frankfurt a. M.

Ders. (2010): Sinne und Künste im Wechselspiel, Frankfurt a.M.

Kristin Westphal

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