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Chaos

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Ch. kennzeichnet den ↗ Raum selbst oder räumliche Phänomene, wobei Letztere entweder negativ als ↗ Unordnung oder positiv als ↗ Möglichkeit des Wachsens (↗ Zuwachs) und des Sich-Selbst-Organisierens (↗ Umwelt) konnotiert sind. Die Begriffsprägung geht auf Hesiod im 7. Jh. v. Chr. zurück, der in seiner Theogonie (116) schreibt: „Wahrlich, zuerst entstand das Ch. und später die ↗ Erde“. Der Wortstamm geht auf gr. chainein zurück und bedeutet ‚klaffen‘, ‚sich auftun‘ oder ‚gähnen‘. Das germanische Wort für diesen Anfangszustand ist ginnunggagap, welches ‚gähnender Abgrund‘ bedeutet. In diesem Begriff ist engl. gap enthalten, das ‚Lücke‘, ‚Kluft‘ oder ‚Schlucht‘ heißt. Hesiod beschreibt mit Ch. einen gähnenden Raum oder Abgrund (↗ Grund), der bei der Weltentstehung zwischen ↗ Himmel und Erde aufreißt. So ist Ch. begriffsgeschichtlich nicht einseitig mit Durcheinander und Unordnung in Verbindung zu bringen: Als einen eigenschaftslosen leeren (↗ Leere) Raum begreift Aristoteles (384–322 v. Chr.) Ch. Von Zenon (ca. 333–ca. 262 v. Chr.), den Stoikern und Platon (427–347 v. Chr.) hingegen wird Ch. als ungeordnete ↗ Masse angesehen. Auf dieser Linie liegen auch frühe christliche Denker, die Ch. explizit negativieren (↗ Nichts), in ihm eine Bedrohung der räumlichen Schöpfungsordnung sehen und es in die Nähe des ‚Tohuwabohu‘ rücken. Die Schöpfung ist demgegenüber die ordnende und gestaltende ↗ Handlung Gottes (↗ Allgegenwart) gegen das Ch. (Gen 1f.). Eine Positivierung des Ch. findet sich bei Raimund Lull (1232–1316) und Jakob Böhme (1575–1624). Ch. wird von diesem als Möglichkeit (lat. possibilitas) mit einem ursprünglichen (↗ Anfang) Raum in Verbindung gebracht, der die zentralen Bestandteile alles Lebens und aller Dinge beherbergt. Weitergeführt werden diese Gedanken von Paracelsus (1493–1541), der Ch. als (materiellen) Urstoff der Schöpfung ansieht. Friedrich Nietzsche (1844–1900) schreibt 1883 im ersten Band von Also sprach Zarathustra, man müsse „noch Ch. in sich haben, um einen tanzenden Stern (↗ Bahn) gebären zu können“ (Vorrede, 5); oder zuvor bereits in Die fröhliche Wissenschaft von 1882: „Der Gesamtcharakter der ↗ Welt ist dagegen in alle Ewigkeit Ch.“ (109). Für Martin Heidegger (1889–1976), bezugnehmend auf Nietzsche, meint Ch. „jenes Drängende, Strömende (↗ Ströme), Bewegte (↗ Bewegung), dessen ↗ Ordnung verborgen ist, dessen Gesetz wir nicht unmittelbar kennen“ sowie „jene Verborgenheit des unbewältigten Reichtums des ↗ Werdens und Strömens der Welt im Ganzen“ (Heidegger 1989, 153). Zur ungebrochenen Begriffsgeschichte und ungebremsten Konjunktur eines zunehmend positiv gefassten Ch.begriffes haben die exakten Naturwissenschaften ab den 1970er Jahren durch die Entwicklung der sog. Ch.theorie beigetragen. Vorarbeiten gehen auf Norbert Wiener (1894–1964) zurück, der bereits von ‚Ch.theorie‘ (Wiener 1938) spricht, sich allerdings – entgegen dem heutigen Verständnis – auf stochastische Systeme bezieht (Wiener/Wintner 1943). Erst Tien-Yien Li und James Yorke (1975) sowie Robert M. May (1976) führen den Begriff in Mathematik, Physik und Biologie ein und tragen mit der Ch.theorie zum Boom der Theorie dynamischer Systeme bei, verbunden mit Schlüsselbegriffen wie Nichtlinearität, Instabilität und Sensitivität, Komplexität und Fraktalität (↗ Fraktal). Ch. wird positiviert, insofern in der zugrunde liegenden Instabilität die Quelle für Selbstorganisation und Emergenz gesehen wird. Zentrale Eigenschaft ist die sensitive Abhängigkeit von Start- und Randwerten: kleine Ursache (↗ Kausalität), große Wirkung (sog. Schmetterlingseffekt). Es kann ein strukturwissenschaftlicher, mithin interdisziplinärer Paradigmenwechsel der exakten Natur- und Technikwissenschaften diagnostiziert werden, welcher nicht allein durch die Ch.theorie, sondern durch verwandte Theoriekonzepte (mit-)induziert wird: dissipative Strukturbildung, fraktale ↗ Geometrie, Synergetik, autopoetische Systeme, Hyperzyklus sowie Katastrophentheorie. In diesen (nachmodernen) Naturwissenschaften spielt der Raum eine zentrale Rolle, insofern die Phänomene sowohl auf der phänomenal-gegenständlichen Objekt- wie der mathematisch-simulationsbasierten Darstellungsseite eine nichteliminierbare Räumlichkeit aufweisen und sich im Raum als solche zeigen. Historisch nicht durchsetzen konnte sich mithin eine Depotenzierung von Ch., verbunden mit einer Abwertung als räumliches Durcheinander.

Literatur: Gunkel 1895; Hülsewiesche 1994; Kratzert 1998; Schmidt 2008.

Gunkel, Hermann (1895): Schöpfung und Chaos in Urzeit und Endzeit, Göttingen.

Heidegger, Martin (1989): Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht als Erkenntnis, Frankfurt a. M. [1961].

Hülsewiesche, Reinhold (1994): Chaos, in: Archiv für Begriffsgeschichte 35, 274–280.

Kratzert, Thomas (1998): Die Entdeckung des Raums, Amsterdam/Philadelphia.

Li, Tien-Yien/Yorke, James A. (1975): Period Three Implies Chaos, in: American Mathematical Monthly 82/10, 985–992.

Lorenz, Edward N. (1963): Deterministic Nonperiodic Flow, in: Journal for Atmospheric Science 20, 130–141.

May, Robert M. (1976): Simple Mathematical Models with Very Complicated Dynamics, in: Nature 261, 459–467.

Schmidt, Jan C. (2008): Instabilität in Natur und Wissenschaft, Berlin.

Wiener, Norbert (1938): The Homogeneous Chaos, in: American Journal of Mathematics 60, 897–936.

Ders./Wintner, Aurel (1943): The Discrete Chaos, in: American Journal of Mathematics 65, 279–298.

Jan C.Schmidt

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