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Chronotopos

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Ch. ist ein von dem russischen Literaturwissenschaftler und Philosophen Michail M.Bachtin (1895–1975) in seinem zwischen 1937 und 1938 verfassten Aufsatz Formy vremeni i chronotopa v romane verwendeter Terminus, der die gegenseitige Abhängigkeit literarischer Darstellungen von ↗ Raum und ↗ Zeit in Hinblick auf die damit verbundenen Menschenbilder erfasst. Das Konzept des Ch. weist eine literaturtheoretische, kulturphilosophische (↗ Kultur) und eine anthropologische Dimension auf: Erzählte (↗ Erzählung) ↗ Welten verfügen über epochenspezifische räumliche Ordnungsgefüge (↗ Ordnung), in die ↗ Ereignisse und ↗ Orte sowie ihre handelnden Figuren (↗ Figuralität) eingebettet sind. Zugleich sind sie von unterschiedlichen zeitlichen Gestaltungstypen (↗ Gestalt) gekennzeichnet, die u.a. den Verlauf der ↗ Handlung oder die ↗ Entwicklung der Charaktere bestimmen (Bachtin 2008, 7–11). Die chronotopische Interpretationsperspektive setzt nun voraus, dass räumliche und zeitliche Kompositionselemente einander wechselseitig bedingen. Charakteristisch für den sog. Abenteuerroman der griechischen Antike ist bspw. die zeitliche Basiskategorie des „Zufalls“ (ebd., 18): Weil die ↗ Logik des unerwarteten Ereignisses keinen kontinuierlichen (↗ Kontinuum) Erzählzusammenhang stiften kann, besteht der Abenteuerroman aus voneinander isolierten und substituierbaren Einzelepisoden, denen die Darstellung eines abstrakten, nicht konkret lokalisierbaren Raums korrespondiert. Dieses chronotopische Gefüge gibt zugleich die Koordinaten zur Gestaltung der Figuren vor, die weder altern, noch über eine psychische Entwicklung verfügen und vom Zufall schicksalhaft bestimmt sind. Literarische Ch.i dokumentieren die kulturgeschichtliche Entwicklung raumzeitlicher Anschauungsweisen und Menschenbilder, wobei keinem Ch. eine privilegierte ↗ Position als übergreifende Bezugsgröße zugestanden wird (↗ Relativität). Als ↗ Schemata der ↗ Wahrnehmung prägen sie demzufolge zwar menschliches Erkennen fundamental, verfügen aber über eine kulturbedingte Wandelbarkeit und interne Dynamik (↗ Prozess), die nicht auf kategoriale Bestimmungen (↗ Anschauung) abzubilden ist. Aus dieser konstruktivistischen ↗ Perspektive heraus werden die anthropologischen Implikationen des Ch. konzeptes sichtbar. Bachtins Überlegungen sind nachweislich von Ernst Cassirers (1874–1945) zwischen 1923 und 1929 erscheinender Philosophie der symbolischen Formen und Georg Mischs (1878–1965) Geschichte der Autobiographie von 1907 geprägt, die eine ↗ Möglichkeit ontologischer Bestimmung des ↗ Menschen in Zweifel ziehen und damit die Kernkompetenz der philosophischen Anthropologie von der Wesensbestimmung zu einer Analyse der Repräsentationsmodi des spezifisch Menschlichen verschieben. Bachtins (2008, 8) These, dass das literarische Menschenbild „in seinem Wesen immer chronotopisch“ sei, zielt also weniger auf die Literatur als vielmehr auf eine sprachliche Form (↗ symbolische Form) unseres raumzeitlich geprägten Selbstverhältnisses als Menschen ab. Die Ausarbeitung des Ch.konzeptes hat trotz Bachtins intensiver Rezeption im Poststrukturalismus erst verspätet nach dem ↗ Spatial Turn begonnen, weshalb noch zahlreiche Anschlussstellen zu erschließen wären: So ließe sich mit dem Ch. konzept raumsoziologisch oder architekturtheoretisch (↗ Urbanität) erörtern, wie sich in der tätigen Gestaltung des Raums eine bestimmte Vorstellung von Zeit artikuliert, die mit Bachtin gegenwartdiagnostisch auf das damit vorausgesetzte Menschenbild zurückgeführt werden könnte.

Literatur: Eilenberger 2009, 189–219; Frank/Mahlke 2008; Scholz 1998; Soboleva 2010, 101–116; Wegner 1989.

Bachtin, Michail M. (2008): Chronotopos, Frankfurt a.M. [russ. 1975].

Eilenberger, Wolfram (2009): Das Werden des Menschen im Wort, Zürich.

Frank, Michael C./Mahlke, Kirsten (2008): Nachwort, in: Michail M. Bachtin: Chronotopos, Frankfurt a.M., 201–242.

Scholz, Bernhard F. (1998): Bakhtin’s Concept of ‚Chronotope‘, in: The Contexts of Bakhtin, hg. v. D. Shepherd, Amsterdam, 141–172.

Soboleva, Maja (2010): Die Philosophie Michail Bachtins, Hildesheim.

Wegner, Michael (1989): Die Zeit im Raum, in: Weimarer Beiträge 35/8, 1357–1367.

Malte Dreyer

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