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Blick

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Das Auftauchen einer genuinen Problematik des B.es bei Jean-Paul Sartre (1905–1980) und Jacques Lacan (1901–1981) hält sich noch im Bannkreis (↗ Bann) des kartesischen Rationalismus der Selbstbegründung (↗ Grund) eines Subjektes im Cogito. Edmund Husserl (1859–1938) wirft im Rahmen einer ‚konstitutiven Theorie der Fremderfahrung (↗ Fremde)‘ (Husserl 1963, 122) die Frage auf, wie das ‚Für-mich-da der Anderen‘ (ebd., 124) als Wahrnehmungskorrelat (↗ Wahrnehmung) meines weltkonstituierenden Bewusstseins einen Zugang zu einer Weltkonstitution durch den Anderen ermöglicht. Sartre (1991, 406) erschließt aus einer ersten Analyse des ↗ Gefühles der ‚Scham‘ eine eigene ↗ Dimension eines ‚Für-Andere-Seins‘ innerhalb meines ‚Für-Sich‘ und damit die Frage nach einer „ursprünglichen Beziehung (↗ Relation) zum Andern“ (ebd., 458), die aber nicht auf einer eigenen Konstitutionsleistung beruht – „Man begegnet (↗ Begegnung) dem Andern, man konstituiert ihn nicht“ (ebd., 452) – und auch nicht auf einer Erkenntnis, weil diese den Anderen nur als Objekt erfahrbar macht. Im „Erlebnis“ des B.es des Anderen erfährt das Ich diesen dagegen radikal als „das, was nicht Objekt sein kann“ (ebd., 483), was sich nicht in die vom Ich als Aktzentrum (↗ Zentrum) aus organisierte ↗ Welt von Wahrnehmungsgegenständen fügt, sondern deren „Umgruppierung“ und damit „Desintegration“ erzwingt, indem der Andere eine eigene „Räumlichkeit“ entfaltet und die „↗ Distanzen“ (ebd., 460f.) zwischen den Objekten nunmehr von diesem als Aktzentrum (↗ Aktant) aus neu formiert werden. Dadurch wird dem Ich die Welt „gestohlen“: Sie wird „von einem Abflußloch durchbohrt“ (ebd., 462), durch das sie und ihre Gegenstände fortwährend abfließen (↗ Fluss) und mich fliehen; ich erleide eine „innere Hämorraghie“ (ebd., 465). Letztlich beruht meine Räumlichkeit auf dem B. des Andern, der sowohl verräumlichend als auch verzeitlichend (↗ Zeit) wirkt. Für das notwendig andere Raumverständnis greift Sartre (1971, 273, u. 1991, 547) ohne genauere Explikation auf Kurt Lewins (1890–1947) hodologischen Raum (↗ Hodologie) zurück. Sartres radikalster Schritt besteht in der Ablösung des B.es vom (sehenden) Auge, überhaupt von der Sehfunktion; die Augen fungieren nur noch als „Träger des B.s“ (ebd., 466); überhaupt „sind es nie Augen, die uns anblicken: es ist der Andere als Subjekt“ (ebd., 497). Es braucht dazu keinen Anderen als identifizierbare Person oder „bestimmte Gestalt“ (ebd., 465); die Funktion „B. des Andern“ kann ein fernes Gebäude (↗ Haus), ein Geräusch (↗ Hörraum), ja die eigene Imagination z.B. aufgrund eines schlechten Gewissens hervorrufen. Es genügt ein „Exterioritätsphantom“ (Cremonini 2003, 84). Anhand der Regung der Scham, aber auch von Hochmut, ↗ Angst und Stolz, wird das Für-Andere-Sein in dem Sinne bestimmt, dass das Ich immer schon auf den Anderen als Vermittler zwischen dem Ich (frz. je) und dem Selbst oder dem ‚Mich‘ (frz. moi) angewiesen ist. Lacan weist dem B. zunächst eine Funktion innerhalb seines Theorems der „logischen Zeit“ zu, als „Augenblick des B.s (frz. instant du regard)“ (Lacan 1966, 205) oder „Augen-B.“ (Lacan 1980, 111) eines unmittelbaren Erkennens, was in Le Séminaire sur ‚La lettre volée‘ von 1955 zu einem Zusammenwirken von drei B.en erweitert wird (Lacan 1973, 13). In den 1960er Jahren reformuliert Lacan die Theorie der Triebe nach Sigmund Freud (1856–1939); der orale und der anale Trieb werden um zwei Triebe erweitert – mit den Objekten B. und Stimme. Der Zeitpunkt ihrer Einführung fällt mit Lacans (1966a, 649) Interesse an der mathematischen ↗ Topologie von Oberflächen zusammen, von der Lacan (2001, 476) sich eine Erfassung der realen ↗ Struktur des unbewussten Subjektes (↗ Unterbewusstsein) verspricht, und für das Verständnis des B.es als Objekt eines Triebes fordert er im Sinne seiner Überlegungen zur Topologie und zur Anamorphose (Lacan 1978, 93–95) eine Abkehr von der transzendentalen Ästhetik (↗ Anschauung) Kants (Lacan 2001, 472, u. 2010, 314) und ihrer Voraussetzung des leeren, das Objekt unberührt lassenden ↗ Raums. Die unter dem Terminus „Objekt a“ zusammengefassten vier Objekte bilden die Prototypen einer bis zu einer Art „Selbstverstümmelung“ forcierten „Urseparation“ (Lacan 1978, 89), die wiederum paradigmatisch ist für ein Verständnis der Kastration und des imaginären Phallus als Objekt. Die ↗ Bewegung des Triebes ist als Umkreisung (↗ Kreis) des Objekt a zu begreifen, ohne dass dieses je erreicht wird, und ohne Rücksicht auf die Körpergrenzen (↗ Grenze), was eine topologisch aufwändige Rekonstruktion erfordert (ebd., 185–190 u. 203). Der B. als Objekt a ist insofern am schwersten auszumachen, als auf der Ebene des Sehens und seiner scheinbaren Grenzenlosigkeit die Kastration die geringsten Effekte zeitigt. An Hans Holbeins (1497–1543) Gemälde The Ambassadors von 1533 zeigt Lacan, wie im anamorphotisch verzerrten (↗ Pangeometrie) Totenschädel (↗ Tod), der schräg ins Bild (↗ Bildraum) hineinragt und sich erst mit dem Abwenden des Betrachters vom Bild zu sehen gibt, der Kastrationseffekt auf der Ebene des B.es zum Tragen kommt (Lacan 1978, 94f.) – für Lacan beinhaltet jede Bewegung des Triebes auch ein ↗ Moment von Todestrieb (ebd., 215).

Literatur: Assoun 1995; Belting 2008, Blümle/von der Heiden 2005; Gondek 1997; Konersmann 1997.

Assoun, Paul-Laurent (1995): Leçons psychanalytiques sur le regard et la voix, 2 Bde., Paris.

Belting, Hans (2008): Florenz und Bagdad, München.

Blümle, Claudia/von der Heiden, Anne [Hg.] (2005): Blickzähmung und Augentäuschung, Zürich/Berlin.

Cremonini, Andreas (2003): Die Durchquerung des Cogito, München.

Gondek, Hans-Dieter (1997): Der Blick, in: RISS 12/37–38, 175–196.

Husserl, Edmund (1963): Cartesianische Meditationen, in: ders.: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, Den Haag, 41–183 [frz. 1931].

Konersmann, Ralf [Hg.] (1997): Kritik des Sehens, Leipzig.

Lacan, Jacques (1966): Le temps logique et l’assertion de certitude anticipée, in: ders.:Écrits, Paris, 197–213 [1945].

Ders. (1966a): Remarque sur le rapport de Daniel Lagache, in: ders.: Écrits, Paris, 647–684 [1961].

Ders. (1973): Das Seminar über E. A. Poes ‚Der entwendete Brief‘, in: ders.: Schriften, Bd. 1, Olten/Freiburg i. Br., 7–60 [frz. 1957].

Ders. (1980): Die logische Zeit und die Assertion der antizipierten Gewißheit, in: ders.: Schriften, Bd. 3,Olten/Freiburg i. Br., 101–121 [frz. 1945].

Ders. (1978): Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Olten/Freiburg i. Br. [frz. 1973].

Ders. (2001): L’étourdit, in: ders.: Autres Ècrits, Paris, 449–499 [1973].

Ders. (2010): Die Angst, Berlin/Wien [frz. 2004].

Sartre, Jean-Paul (1971): Das Imaginäre, Reinbek b. Hamburg [frz. 1940].

Ders. (1991): Das Sein und das Nichts, Reinbek b. Hamburg [frz. 1943].

Hans-Dieter Gondek

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