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Chora
ОглавлениеCh. bedeutet gr. allgemein ‚Umgebung‘ (↗ Gegend) oder ↗ Platz von etwas. Ursprünglich bedeutet es einen ↗ zentralen Ort der zumeist landwirtschaftlichen Nutzung (↗ Kultur). Als philosophischer Terminus wird er von Platon (427–347 v. Chr.) im Dialog Timaios (52d2–e1), in der Rede von der Entstehung (↗ Entwicklung) der sinnlichen (↗ Sinn) ↗ Welt als ↗ Kosmos, eingeführt. Hier tritt Platon aber gerade der Auffassung entgegen, dass alles Seiende notwendig an einem ↗ Ort sein müsse (52d3–6). Ch. ist vielmehr ein drittes Prinzip neben Seiendem – was Parmenides (ca. 520–ca. 460 v. Chr.) vertritt – und ↗ Werden – wie Heraklit (ca. 520–ca. 460 v. Chr.) annimmt. Für dieses Prinzip verwendet Platon auch die Ausdrücke das Aufnehmende, die ‚Amme des Werdens‘, die Prägemasse (↗ Masse) oder die Mutter (↗ Matrix). Ch. ist das, worin die Idee wird, d.h. sinnlich in Erscheinung tritt (↗ Wahrnehmung). Ch. unterscheidet sich von Raumbegriffen wie Ort (gr. topos) nach Aristoteles (384–322 v. Chr.) und ↗ Strecke (lat. spatium) dadurch, dass sie völlig strukturlos (↗ Struktur) ist. Am nächsten kommt Ch. noch der Begriff des ↗ Chaos nach Hesiod aus dem 7. Jh. v. Chr. oder der aristotelische Begriff der Ersten ↗ Materie (gr. prote hyle, lat. prima materia), die auch als solche nicht in Erscheinung treten kann. Auch schon bei Platon sind die ersten sinnlich-körperlichen Gebilde (↗ Gestalt), die aus der Ch. in Erscheinung treten, die vier ↗ Elemente Feuer (↗ Herd), Wasser (↗ Meer), ↗ Erde, ↗ Luft. Die Ch. ist daher erfüllt von chaotischen Bewegungstendenzen (↗ Bewegung): „Da sie aber weder von ähnlichen, noch von im Gleichgewicht stehenden Kräften (↗ Kraft) erfüllt werde, befinde sie sich in keinem ihrer Teile im Gleichgewicht“ (52e2–5). Die vier Elemente treten in der Ch. hervor, indem ihre Zitterbewegungen in Stabilitätsformen, wie sie durch die Figuren der sog. Platonischen Körper (Tetraeder, Ikosaeder, Würfel, Oktaeder) vorgegeben sind, einrasten. Jacques Derrida (1930–2004) hat Ch. als Terminus an der ↗ Grenze von ↗ Mythos und ↗ Logos situiert. Ausgehend von einer frühen Stelle im Timaios (19a) bringt Derrida (2005) die Textgestalt (↗ Text) dieser Rede (↗ Sprache) des Sokrates, die wahrscheinliche Darstellung (gr. eikos logos), mit der logischen (↗ Logik) Zwischenstellung (↗ Zwischen) der Ch. in Verbindung.
Literatur: Böhme 2000, 297–301; Gosztonyi 1976, 77–89; Kratzert 1998; Lee 2001.
Böhme, Gernot (2000): Platons theoretische Philosophie, Darmstadt.
Derrida, Jacques (22005): Chora, Wien [frz. 1987].
Gosztonyi, Alexander (1976): Der Raum, Bd. 1, Freiburg i. Br./München.
Irigaray, Luce (1991): Der Ort, der Zwischenraum, in: dies.: Ethik der sexuellen Differenz, Frankfurt a. M., 46–70 [frz. 1984].
Kratzert, Thomas (1998): Die Entdeckung des Raums, Amsterdam/Philadelphia.
Lee, Kyung-Jik (2001): Platons Raumbegriff, Würzburg.
Gernot Böhme