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Blindheit

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Bereits in ↗ Mythos und Religion (↗ heiliger Raum) nimmt B. einen zentralen Platz ein. Das Fehlen (↗ Fehl) oder der Verlust des Sehsinnes (↗ Optik) durch Blendung und gewaltsames Ausstechen der Augen (↗ Blick) ist hierbei nicht nur Beraubung eines ↗ Sinnes, sondern nicht selten mit einer Steigerung insbesondere der inneren, auf die ↗ Wahrnehmung eines Transzendenten gerichteten Sinne verbunden. Aufgrund der kulturgeschichtlich engen Kopplung zwischen Sehen und Erkennen, Synopsis (↗ Zusammenschau) und ↗ Wissen, steht B. daneben für ein Verleugnen, ein Verkennen oder ein Nichtwissen (↗ Lichtung). Erst später, wie an der Justitia als einer der vier Kardinaltugenden zu sehen ist, erhält B. die Bedeutung der Unparteilichkeit (Resnik/Curtis 2011). In der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Allegorese und Ikonographie sind neben der Justitia die Synagoga sowie verschiedene Götter und Begriffe (u.a. Fortuna, ↗ Eros, Ambitio, Ignorantia) durch die Augenbinde als Symbol der B. gekennzeichnet. Zugleich wird B. zum modellhaften Gegenüber, das der erkenntnistheoretischen Reflexion des Sehens dient. In dieser Funktion taucht die Figur (↗ Figuralität) des Blinden in René Descartes‘ (1596–1650) Schrift La dioptrique auf, die 1637 im Anhang des Discours de la méthode erscheint. Die gekreuzten (↗ Kreuzung) Blindenstöcke stehen bei Descartes sowohl für die Lichtstrahlen und deren Brechung im Auge als auch für den auf sie verlängerten Tastsinn (↗ Haptik), der, gleich einem Geometer, räumliche ↗ Distanzen über die ↗ Winkel der Stöcke bemisst. Die Analogie zwischen dem Sehen und dem Tasten bleibt damit ebenso wie die von Descartes aufgegriffene jüngere ikonographische Tradition, nach der sich im Blinden der Tastsinn verkörpert, der Rückführung von sinnlicher Erkenntnis auf die ↗ Geometrie untergeordnet. Erst in Empirismus und Sensualismus erweist sich der Tastsinn als aktuale Bedingung räumlicher Vorstellungen: Initiiert durch die von John Locke (1632–1704) in An Essay Concerning Human Understanding von 1690 aufgenommene Frage William Molyneuxs (1656–1698), ob ein Blindgeborener nach Wiedererlangung der Sehkraft in der Lage ist, eine ↗ Kugel von einem ↗ Würfel zu unterscheiden (2,9), wird davon ausgegangen, dass nur durch die Assoziation von Gesichts- und Tastempfindungen eine über die reine Unterscheidung der beiden Körper hinausgehende Erkenntnis derselben möglich ist. In seiner New Theory of Vision von 1709 wird George Berkeley (1685–1753) über Molyneux und Locke hinaus Bewegung für die Raumwahrnehmung geltend machen. Die von Voltaire (1694–1778), Denis Diderot (1713–1784) und Étienne Bonnot de Condillac (1714–1780) fortgesetzte Diskussion entwickelt sich parallel zu operativen Eingriffen am Star, an denen sich wie bei William Cheselden (1688–1752) die Molyneuxsche Frage erneut entzündet. Im Zusammenhang mit der Multimodalität der neuen ↗ Medien erlangt die im Kontext B. reflektierte Beziehung zwischen der durch Gesichts- und Tastsinn vermittelten ↗ Erfahrung von ↗ Raum neue Bedeutung.

Literatur: Bexte 1999; Derrida 1997; Hildebrandt 2002; Paterson 2007.

Bexte, Peter (1999): Blinde Seher, Dresden.

Derrida, Jacques (1997): Aufzeichnungen eines Blinden, in: ders.: Aufzeichnungen eines Blinden, München, 9–128 [frz. 1990]

Hildebrandt, Alexandra (2002): Blindheit im Kontext der Romantik, Würzburg.

Paterson, Mark (2007): The Senses of Touch, Oxford/New York.

Resnik, Judith/Curtis, Dennis (2011): Representing Justice, New Haven/London.

Kirsten Wagner

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