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5 Handeln wir in deinem Sinne? – Was tun, wenn ein alter Mensch nicht mehr selbst entscheiden kann? Susanne Schragel Vorbemerkung5

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Wie der Großteil dieses Buches wurde auch der nachfolgende Text vor rund 20 Jahren geschrieben. Seither ist viel geschehen, um die Rechte hochbetagter, zumal auch demenzkranker Menschen auf ein selbstbestimmtes Leben zu verbessern. 2013 veröffentlichte die Niederösterreichische Patienten- und Pflegeanwaltschaft einen Wegweiser zum Thema Patientenrechte und freiheitsbeschränkende Maßnahmen (Bürger 2013). Das Konzept von Advance Care Planning (Coors et al. 2015) entstand nach 1990 in den USA. Richtig durchgesetzt hat sich dieser Denkansatz – zumal im Kontext von Alter und Demenz – erst in den letzten zehn Jahren (Lum et al. 2015; Bosisio et al. 2018). In Österreich übernahm bis 2018 ein Sachwalter/eine Sachwalterin (in Deutschland gesetzlicher Betreuer/gesetzliche Betreuerin) die gesetzliche Vertretung von Menschen, die nicht mehr in der Lage sind, bestimmte Angelegenheiten selbst zu regeln. 2018 trat in Österreich das neue Erwachsenenschutzrecht in Kraft (Barth 2017), demzufolge die Betroffenen selbst rechtzeitig jemanden bestimmen können, der falls erforderlich und soweit möglich mit ihnen gemeinsam ihre Interessen vertritt. In Österreich gibt der Vorsorgedialog® (www.hospiz.at), ein strukturierter Kommunikationsprozess für Alten- und Pflegeheime den alten Menschen im Rahmen wiederholter Gespräche die Möglichkeit selbst zu bestimmen, was sie sich für ihre letzte Lebenszeit wünschen. Ähnliche Instrumente kommen auch in Deutschland (gesundheitliche Versorgungsplanung) und in der Schweiz (gesundheitliche Vorausplanung) zum Einsatz.

Dennoch ist es auch heute oft sehr schwierig im Einzelfall zu entscheiden, ob dem Recht auf Selbstbestimmung oder der gebotenen Fürsorglichkeit der Vorrang zu geben ist. Vieles, was auf den nachfolgenden Seiten steht, hat bis heute seine Gültigkeit behalten.

Immer öfter kam es vor, dass wir es mit Patientinnen zu tun hatten, die ihre Entscheidungen nicht mehr selbst treffen konnten. Je älter die Menschen wurden und je stärker die Zahl der Demenzkranken zunahm, desto mehr Personen waren davon betroffen. Das Wort Paternalismus hat einen schlechten Beigeschmack bekommen, die mündige Patientin ist gefragt. Doch es sind ausschließlich Mündige, die diese Forderung aufstellen und von ihren eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen ausgehen. In der Kinderheilkunde ist man längst davon abgekommen, Kinder einfach wie kleine Erwachsene zu behandeln und hat erkannt, dass die Verhältnisse für sie vollkommen anders sind. Warum ist dieser Rückschluss bei sehr alten und speziell bei demenzkranken Menschen so schwierig?

Bereits bei der Aufnahme ins Pflegeheim wussten die meisten unserer Patientinnen nicht, warum ihre Übersiedlung notwendig war. Jemand anderer hatte die Entscheidung für sie getroffen; sehr oft war es nicht einmal eine Angehörige. Der Gesellschaft war im Grunde genommen immer schon klar, dass man kranke, in jeder Weise hilfsbedürftige Menschen nicht einfach ohne ausreichende Hilfe in ihren Wohnungen lassen kann, nur weil sie selbst das so wollen. Dennoch wagte es niemand, allgemeine Richtlinien zu geben. Die gesetzliche Lage war teilweise sperrig und nicht immer praktikabel. Wie akut gefährdet ist ein nur mehr teilorientierter Mensch, wenn er allein ist? Möglicherweise ist er nicht einmal desorientiert, sondern schätzt nur seine Hilfsbedürftigkeit nicht richtig ein? Muss immer zuerst etwas passieren, damit etwas passiert? Soll jedes Mal der Amtsarzt gerufen werden, der dann in zehn Minuten etwas richtig beurteilen soll, wofür man den ganzen Menschen in seiner komplexen Situation kennen müsste? Müsste jeder hilfsbedürftige Mensch, der nicht »einsichtig« ist, zuerst in die Psychiatrie, bevor er gegen seinen Willen ins Pflegeheim kommt? Oder müssten all diese Menschen einfach generell »besachwaltert« (früher hieß das »entmündigt«) werden? Und weil all diese Verfahrensweisen nicht wirklich befriedigend waren und die meisten Leute das im Grunde auch spürten, »wurschtelte« man weiter um die Probleme herum.

Mit dem Ziel, jeder Patientin auch nach ihrer Aufnahme ins Pflegeheim möglichst viele Wege offen zu halten, wurde im GZW (teilweise noch vor der Aufnahme) ein geriatrisches Assessment durchgeführt. Pflegeperson, Ärztin, Therapeutin, Sozialarbeiterin und soziale Dienste machten sich durch Einbeziehen vieler Faktoren – wie Patientenwünsche und -fähigkeiten, soziale Situation, Wohnsituation und Vorhandensein von Angehörigen (bzw. deren Bereitschaft, sich in die Betreuung einzubringen) – ein möglichst umfassendes Bild von der Gesamtsituation, um dann für jede Patientin individuell zu entscheiden. Der Weg ins Pflegeheim war schon damals im GZW längst keine Einbahnstraße mehr.

Der immer größer werdenden Zahl alter und hilfsbedürftiger Menschen musste laufend mehr Rechnung getragen werden. So machte innerhalb nur weniger Jahre der Ausbau der Hauskrankenpflege deutliche Fortschritte. Dies wurde für uns in der stationären Altenpflege Arbeitende insofern deutlich bemerkbar, als unsere Patientinnen in immer schlechterem geistigem und körperlichem Zustand zu uns kamen, da sie immer länger zu Hause betreut wurden. Je geringer jedoch ihr Rehabilitationspotenzial war, je kürzer die Lebenserwartung und je schlechter der geistige Zustand, desto weniger hatte ihnen die auf Heilung bedachte Medizin zu bieten. Sie brauchten hier und jetzt ein gutes Leben, und doch wurde es immer schwieriger zu erkennen, was sie selbst wollten. Und so sahen wir uns immer öfter gezwungen, Entscheidungen über Leib und Leben für Menschen zu treffen, die außer uns oft niemanden mehr hatten und die wir selbst zu wenig gut kannten. Für mich persönlich war dies die größte Herausforderung, aber auch die größte Belastung meines Berufes.

Alt, krank und verwirrt

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