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5.1 Aufklärung

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Der Begriff »Aufklärung« ist nur scheinbar eindeutig und allgemein verständlich. Nimmt man ihn genauer unter die Lupe, teilt er sich in mehrere Bereiche auf. Aufklärung umfasst einerseits die Information der Patientin über ihre Krankheit sowie über mögliche therapeutische Konsequenzen und deren Erfolgsaussichten und Risiken. Andererseits sieht sich die Ärztin auch immer wieder vor die Aufgabe gestellt, mit Angehörigen Aufklärungsgespräche zu führen, was ganz andere rechtliche und ethische Probleme mit sich bringt.

Wenn es um die Krankheitsaufklärung geht, wird der Ruf nach Wahrhaftigkeit laut, gleichzeitig aber auch der Ruf nach Allgemeinverständlichkeit und Sicherheit. Die Ärztin soll wissen, was mir fehlt, sie soll es mir offen erklären und zwar so, dass ich es verstehe, vor allem aber soll sie meine Krankheit behandeln und wenn möglich heilen. Der Ärztin wäre nichts lieber, als alle diese Forderungen zu erfüllen. Die Schwierigkeiten beginnen dort, wo einer dieser Punkte unerfüllbar ist. Ist die Diagnose unklar, kann das leicht als Inkompetenz gedeutet werden. Gerade in der Geriatrie ist es jedoch oft schwierig, altersabhängige Beschwerden konkreten Ursachen zuzuordnen. Leicht kann ein »ich weiß es nicht genau« als ein »du nimmst mich nicht ernst« oder »du willst mir etwas verheimlichen« missdeutet werden. Selbst bei bekannter Diagnose (z. B. Knochenmetastasen), aber unbekannter Herkunft (welcher Tumor hat sie verursacht?), lautet die Interpretation oft, »die wissen ja nicht einmal, was ich habe!«

Noch schwieriger wird es, wenn es um die Aufklärung über eine unheilbare Krankheit geht. Wie würde unsere eigene Antwort lauten, wenn man uns fragte: »Würdest du wissen wollen, wenn deine Tage gezählt sind?« Und wäre unsere Antwort dieselbe, wenn die Frage lautete: »Sollen deine Mutter, dein Vater, dein Mann es wissen, wenn ihre Tage gezählt sind?« Mangelnde Aufklärung über »schlechte Nachrichten« wird heute generell als Vermeidungsverhalten, Wehleidigkeit oder Feigheit der Ärztin gedeutet, als ein unlauteres Mittel, einem unangenehmen Gespräch aus dem Weg zu gehen. Oft steht aber der aufrichtige Wunsch dahinter, die Patientin vor der bitteren Wahrheit zu beschützen. Ist das auf jeden Fall illegitim? Oder gibt es doch Situationen, in denen es erlaubt ist? Die Fragen, die man sich stellen muss, sind folgende: Wie viel will die Patientin wissen? Wie viel kann sie vertragen? Kann sie überhaupt verstehen, was ich ihr sage? Gibt es neben dem Recht, alles zu erfahren, vielleicht auch so etwas wie ein Recht, nicht wissen zu wollen? Bei jungen Patientinnen sind diese Fragen klarer zu beantworten. Bei unseren alten Patientinnen, bei denen der Tod einen anderen Stellenwert hat, deren Auffassungsvermögen oft schon sehr eingeschränkt ist, müssen wir besonders vorsichtig vorgehen. Wir versuchen in unseren Gesprächen, den Patientinnen Raum zu lassen, um Fragen zu stellen, aber auch um nicht zu fragen. Wir versuchen, den Patientinnen auf ihre Fragen ehrliche Antworten zu geben.

Wir hatten an unserer Abteilung ein altes Ehepaar. Die Frau war körperlich recht schwach, im Wesen zwar etwas weinerlich, aber geistig recht rege. Der Mann war noch gut auf den Beinen. Er hatte seine Frau von jeher angebetet und zeitlebens auf Händen getragen. Zuletzt wurde er jedoch zunehmend vergesslich und desorientiert. Beide hatten sich bei uns gut eingelebt, als bei dem Mann anlässlich einer Routineuntersuchung Lungenmetastasen festgestellt wurden. Ein Primärtumor war uns nicht bekannt. Innerhalb recht kurzer Zeit fühlte er sich selbst zunehmend schwächer. Er fragte mich: »Was ist denn mit mir?« Ich gab ihm zur Antwort: »Sie sind sehr krank«. Damit war er zufrieden. Dieses Gespräch wiederholte sich mehrmals, weil er meine Antwort aufgrund seines stark gestörten Kurzzeitgedächtnisses immer wieder vergaß. Er fragte mich kein einziges Mal, was er denn habe oder ob er bald sterben müsse. Seine Frau informierten wir über den wahren Zustand. Obwohl sie bis dahin immer diejenige gewesen war, die geschont werden sollte, erwies sie sich als erstaunlich stark und gefasst. Sie überlebte ihren Mann noch ziemlich lange.

Wenn es um Aufklärung über geplante Untersuchungen oder Therapien geht, liegt die Schwierigkeit darin, unseren Patientinnen einerseits die Notwendigkeit der geplanten Maßnahme plausibel zu machen, andererseits die Untersuchungstechnik verständlich zu erklären und mögliche Gefahren aufzuzeigen. Für uns selbst haben wir die Entscheidung über Nutzen und Risiko zu diesem Zeitpunkt schon getroffen. Oft wird von der behandelnden Ärztin ein neutraler Standpunkt gefordert, der die Patientin nicht beeinflusst, sondern sie nur »objektiv« aufklärt. Ich möchte diese Haltung infrage stellen. Könnte man es nicht auch als eine Aufgabe der Ärztin sehen, sich aufgrund ihres fundierten Fachwissens eine Meinung zu bilden und die Patientin dann nach ihrem besten Wissen und Gewissen zu beraten? Und wenn ihr ihre Patientin am Herzen liegt, wie kann sie dann mit ihrer Überzeugung hinter dem Berg halten? (Ich persönlich lehne die moderne Bezeichnung »Kundin« ab, weil unser Engagement weit über das »Geschäftliche« hinaus geht.) Natürlich darf die Überzeugungsarbeit nicht zum Druckmittel werden, aber es ist sehr schwer, sich zurückzunehmen und nur neutral zu verhalten, wenn einem das Wohlergehen der Patientin am Herzen liegt. Das hat nichts mit Machtausübung zu tun. Die Situation unserer Patientinnen ist insofern eine besondere, als die Fakten von ihnen meist nicht ausreichend verstanden werden können. Davon abgesehen muss die Frage nach der Konsequenz geplanter diagnostischer Verfahren viel kritischer gestellt werden: Es kann nicht in erster Linie darum gehen, unser eigenes medizinisch-wissenschaftliches Interesse zu befriedigen! Viele Diagnosen haben im Alter einen anderen Stellenwert als bei jüngeren Patientinnen (z. B. sterben hochbetagte Männer in der Regel nicht an, sondern mit ihrem Prostatakarzinom). Viele »machbare« Therapien sind sehr alten Menschen nicht mehr zumutbar, nicht in allen Fällen ist Lebensverlängerung das erstrebenswerteste Ziel. Das uneingeschränkte Vertrauen, das uns die meisten unserer alten Patientinnen entgegenbringen, die oft langjährigen Beziehungen, die uns an sie binden, ihre Hilflosigkeit und Abhängigkeit von uns, stellen uns vor einen extrem hohen ethischen Anspruch, dem wir versuchen müssen gerecht zu werden.

Kommunikation und Information sind jedoch auch entscheidende Anliegen für die Angehörigen. Rechtlich gesehen darf eine ehrliche Aufklärung der Angehörigen nur nach ausdrücklichem Einverständnis der Patientinnen erfolgen. Angehörige haben zwar auch ein Recht auf »Information«, worin sie besteht und wie weit sie reicht, wird jedoch nicht näher definiert. Eine kleine Hintertür öffnet uns der »mutmaßliche Wille der Patientin«. Doch wie können wir selbst bei intakten familiären Verhältnissen wissen, inwieweit unserer demenzkranken Patientin die Einbeziehung ihrer Angehörigen erwünscht wäre? Andererseits scheint es auch ohne weiteres plausibel, dass Angehörige ein Recht darauf haben, informiert zu werden. Wenn es um »anständige« Krankheiten wie Lungenentzündung oder Herzschwäche geht, mögen diese Überlegungen an Haarspalterei grenzen. Aber wie ist es mit der Aussage: »Bitte bringen sie Ihrem Vater keinen Wein mit, er ist sonst am Abend immer betrunken.« Würde der Vater sicher wollen, dass die Tochter das weiß? Sind wir sicher, dass alle Eltern wollen, dass man ihre Kinder darüber informiert, dass sie sterbenskrank sind? Und auf der anderen Seite: Haben Kinder nicht das Recht zu wissen, wenn die Zeit ihrer Eltern abläuft? Wenn uns nichts anderes bekannt ist, gehen wir üblicherweise so vor, als wäre der wechselseitige »Informationsfluss« gestattet. Machen wir es uns zu leicht? Was ist das größere Übel: Wenn jemand zu Unrecht informiert wurde oder wenn jemand zu Unrecht nicht informiert wurde?

Bei einer langjährigen Patientin wurde bei einem Lungenröntgen ein inoperables Bronchuskarzinom festgestellt. Sie war fast 90 Jahre alt, völlig orientiert und lebenslustig. Sie hatte einen Sohn, zu dem sie in sehr guter Beziehung stand. Wir klärten die alte Frau über ihre Krankheit auf und sie reagierte erstaunlich gelassen: Sie sei jetzt 90 Jahre alt und hätte ein schönes Leben gehabt. Es wäre ihr ohnehin klar, dass sie nicht mehr sehr lange zu leben hätte, und es wäre ihr auch ziemlich egal, woran sie sterben würde. Ihren Sohn wollte sie allerdings nicht informieren. Wir kannten auch den Sohn recht gut und es war uns allen klar, dass es für ihn furchtbar wäre, wenn er nicht genug Zeit hätte, sich auf den baldigen Tod seiner Mutter einzustellen. Außerdem musste er innerhalb relativ kurzer Zeit die Verschlechterung ihres Zustands bemerken und nach Erklärungen dafür suchen. Wir führten diese Argumente ins Treffen, doch sie blieb lange Zeit bei ihrer Ablehnung. Irgendwann, als sie schon merklich geschwächt war, willigte sie schließlich doch ein. Mutter und Sohn konnten sich in der letzten Zeit bewusst und ehrlich begegnen.

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