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5.3 Künstliche Ernährung – PEG-Sonde

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Immer wieder stehen wir vor dem Problem, dass unsere Patientinnen nicht ausreichend essen und trinken und an Gewicht verlieren. Die Ursachen dafür sind vielfältig. Nur in den seltensten Fällen sind es anatomische Veränderungen des Kehlkopfes, z. B. nach Karzinomoperationen.

In solchen Fällen ist die Indikation zum Setzen einer PEG-Sonde am leichtesten zu stellen, handelt es sich dabei doch meist um jüngere Patientinnen, die die Kehlkopfoperation gut überstanden haben. Schon häufiger sind Funktionsstörungen beim Schlucken, wie sie nicht selten nach Schlaganfällen, bei Demenzkranken oder bei Parkinsonpatientinnen vorkommen (James et al. 1988; Jardine et al. 2019; Warnecke et al. 2019). Meist aber lässt sich überhaupt keine fassbare Ursache dafür finden, dass ein alter Mensch nicht mehr genügend isst und trinkt. Liegt vielleicht eine Depression zugrunde? Depressionen äußern sich im hohen Alter oft sehr unspezifisch, nicht selten auch durch Rückzug aus allen Aktivitäten. Für diese Fälle stehen uns medikamentöse Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung. Hat die Patientin einfach das Interesse am Essen verloren? Im Alter verschieben sich die Prioritäten, vielleicht sind ihr andere Dinge wichtiger, vielleicht war das Essen auch früher für sie nicht so wichtig? Geruchs- und Geschmackssinn lassen im Laufe der Jahre nach. (Jede von uns weiß, wie unangenehm es ist, wenn man erkältet ist und nichts richtig riecht und schmeckt.) Bei fortgeschrittener Demenz geht sehr oft das Gefühl für Hunger und Durst verloren, manche Demenzkranke wissen zuletzt auch nicht mehr, was sie mit dem Bissen im Mund anfangen sollen. Bringt die Patientin mit ihrer Ablehnung des Essens bewusst oder unbewusst zum Ausdruck, dass sie die gesamte Situation ablehnt? Oder ist, wenn der Allgemeinzustand schon sehr schlecht ist, das Nichtessen bereits ein Teil des Sterbeprozesses? All diese Möglichkeiten müssen wir in Betracht ziehen, wenn wir für die Patientin zwar alles tun möchten, was wir tun können, sie aber weder unnötig (und oft genug auch sinnlos) belasten noch »überfahren « wollen (Löser und Müller 1988; Rosin 2007).

Bei der größten Gruppe von Patientinnen, die uns vor ernährungsbezogene Probleme stellen, sind für uns demnach keine konkreten Ursachen für die ungenügende Nahrungsaufnahme fassbar. Es sind dies vor allem schwer demenzkranke und sehr altersschwache Personen. Es gibt bis jetzt keine Untersuchung, die schlüssig beweist, dass ANH (artificial nutrition and hydration) für demenzkranke Personen von Nutzen ist, jedoch viele Hinweise darauf, dass dem nicht so ist (Finucane et al. 1999; Gillick 2000; Cervo et al. 2006; Gillick und Volandes 2008; Sampson et al. 2009; Gieniusz et al. 2017; Schmidl und Kojer 2021a). Trotzdem ist im gesamten Bereich der Geriatrie ungenügende Nahrungsaufnahme eine noch immer häufige Indikationsstellung für die PEG-Sonde. Es fällt auf, dass es, wie übrigens in anderen Bereichen der Medizin auch, offenbar leichter ist, etwas möglicherweise Sinnloses zu tun als nichts zu tun. Kommt es daher, dass die Medizin in der Mitte des 20. Jahrhunderts fast schon allmächtig schien (oder nur erfolgreich bemüht war, sich so zu verkaufen)? Liegt es am Zeitgeist, für den »sich dem Schicksal ergeben« Kapitulation bedeutet? Scheuen wir vor Grenzfragen zurück und verrichten lieber die Gesten des Lebens weiter? Fürchten wir die Verantwortung vor etwaigen Konsequenzen? Oder liegen die Dinge viel einfacher: Ernähren ist eine Grundlage unseres Soziallebens, das Vorenthalten von Nahrung bedeutet »im Stich lassen«. Hinzu kommt, dass die Betreuung bei bereits liegender PEG-Sonde denkbar einfach und wenig zeitaufwendig ist, während das Verabreichen von Nahrung auf natürlichem Weg ein hohes Maß an Geduld und Zuwendung erfordert.

Die WHO empfiehlt das Setzen einer PEG-Sonde bei multimorbiden Patientinnen nur bedingt und begründet das damit, dass der Nutzen nicht erwiesen ist und eine Verbesserung der Lebensqualität nicht erfolgt. Geht die Reduktion der Nahrungsaufnahme mit einem raschen körperlichen Abbau einher, sollte es durch Beobachtung und eventuell mithilfe intermittierender parenteraler Flüssigkeitssubstitution möglich sein, eine vorübergehende Verschlechterung des Allgemeinzustands vom beginnenden Sterbeprozess zu unterscheiden. Sind wir uns nicht sicher, wie die Krankheit sich weiter entwickeln wird oder erfordert eine länger anhaltende Verschlechterung tatsächlich das Setzen einer Sonde, dann sollte dies rasch geschehen und nicht erst zugewartet werden, bis der Zustand sich noch weiter verschlechtert hat. Fängt die Patientin später wieder zu essen an, wird die Sonde einfach nicht mehr verwendet. Manche Patientinnen erhalten zwar den Großteil ihrer Nahrung über die Sonde, essen und trinken aber daneben das, was ihnen schmeckt, in geringen Mengen weiter. Wir sollten auch stets daran denken, dass das Essen für fast jede ein Faktor ihrer Lebensqualität ist. Auch bei liegender Sonde sollte diese Freude der Patientin daher nicht ohne triftigen Grund vorenthalten werden, auch wenn Anbieten und Verabreichen kleiner Nahrungsmengen einen zusätzlichen Arbeitsaufwand mit sich bringen.

Die größten Probleme bereiten uns jene Patientinnen, die bei anscheinend guter Gesundheit einfach zu essen aufhören, den Kopf wegdrehen, wenn man ihnen zu essen anbietet, die Nahrung im Mund lassen, ohne zu schlucken, sodass wir oft nicht mehr unterscheiden können, ob sie einfach das Schlucken vergessen haben, ob der Schluckreflex gestört ist oder ob sie eben nicht schlucken wollen.

Herr Toni war lange Zeit in unserer Abteilung. Von Natur aus wenig begabt und dem Alkohol zugetan, war er zuletzt in seiner Substandardwohnung nicht mehr zu betreuen gewesen. Er hatte immer wieder epileptische Anfälle, bereits unter minimaler antikonvulsiver Therapie war er so stark gedämpft, dass er den ganzen Tag schlief. Wir entschlossen uns daher zugunsten seiner Lebensqualität dazu, lieber die seltenen Anfälle in Kauf zu nehmen. Nach einem dieser Anfälle blieb Toni deutlich verschlechtert, auch eine Computertomografie lieferte dafür keine Erklärung. Er blieb bettlägerig, aß zu wenig und verlor deutlich an Gewicht. Als er schließlich jede Nahrung ablehnte, fragte ich ihn nach dem Grund.

»I wü net!«, war seine Antwort. »Toni, wenn du nicht isst, wirst du sterben!« »I stirb scho net!« sein lapidarer Kommentar. »Willst du sterben?« »Oba na!«. Toni bekam eine PEG-Sonde. Er nahm etwas an Gewicht zu, erreichte aber trotz ausreichender Kalorienzufuhr nicht annähernd sein Normalgewicht. Er konnte nie wieder aufstehen. Er lebte noch etwa ein Jahr und starb schließlich an einer Lungenentzündung.

Unsere Entscheidungen fällen wir von Fall zu Fall, zwei gleiche Fälle gibt es nicht. Auch im Nachhinein können wir nicht sicher sein, ob wir richtig oder falsch gehandelt haben, weil wir niemals wissen können, wie es anders gelaufen wäre.

5 Vorbemerkung von Marina Kojer.

Alt, krank und verwirrt

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