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6.1.4 Zu welchem Verhalten entscheide ich mich?

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• Wie spreche ich während der Visite?

Kann es geschehen, dass ich mich so verhalte, als ob die Patientin gar nicht da wäre oder nur störte? Spreche ich z. B. leise mit einer Dritten über sie? Spreche ich (z. B. mit einer Kollegin) laut lateinisch und achte nicht darauf, wie verstört und beängstigt der alte Mensch uns anschaut? Lache ich neben ihm mit anderen, ohne dass er weiß, was uns so amüsiert? Stelle ich die alte Frau als inkompetent hin, frage z. B. die Schwester über ihren Kopf hinweg nach ihrem Befinden? Schulmeistere ich sie, wenn sie wagt, eine Meinung zu äußern oder gar eine einmal geäußerte Meinung zu ändern? Sage ich z. B. in strengem Tonfall: »Sie haben gestern aber gesagt, Sie wollen das (nicht), also was wollen Sie wirklich?« Vielen Ärztinnen fehlt das Bewusstsein, dass ethisches Handeln in der Medizin ohne respektvolle und empathische Kommunikation mit den betroffenen Menschen nicht denkbar ist (Kojer 2019).

• Was sagt unser Tonfall aus?

Jeder von uns steht ein ganzes Repertoire an »Tonarten« zur Verfügung, mit dessen Hilfe wir anderen sehr leicht wehtun können. Unsere alten Patientinnen haben kaum die Möglichkeit, sich dagegen zu wehren, wenn wir uns dazu entscheiden, gleichgültig oder herablassend, autoritär, belehrend oder richtend, verletzend oder einschüchternd, anklagend, drohend oder ganz einfach lauter als notwendig mit ihnen zu sprechen.

• Wie untersuchen wir?

Verlassen wir uns auf unsere Routine, realisieren wir oft gar nicht, wie viel Schmerz wir unseren Patientinnen zufügen, weil wir sie nicht mehr als Individuen wahrnehmen, sondern lang geübte automatisierte Abläufe abspulen: Wir lassen den verängstigten Menschen unnötig lange warten. Wenn wir an sein Bett treten, schlagen wir vielleicht gleich die Decke zurück und beginnen, stumm an ihm herumzuhantieren. Wir verletzen das Schamgefühl der alten Frau, indem wir sie länger als unbedingt erforderlich nackt liegen lassen, bei offener Tür untersuchen oder während der Untersuchung die Anwesenheit von anderen tolerieren. Aus Achtlosigkeit oder Gleichgültigkeit verunsichern wir Schwerhörige (die meisten Hochbetagten sind schwerhörig!), weil wir viel zu leise mit ihnen sprechen und sie nicht verstehen können, was wir von ihnen wollen.

Hat uns der alte Mensch vorher verärgert oder verletzt und glauben wir, dass er sich »mit Absicht« so verletzend verhält, fühlen wir uns provoziert. Wir werden ihn dann beim Untersuchen vielleicht gerade ein bisschen zu fest klopfen, halten, drücken oder die Manschette beim Blutdruckmessen unnötig hoch aufpumpen.

• Was sagen wir?

Wecken wir durch Sätze wie »wenn Sie aufhören zu rauchen (wieder mehr gehen, endlich weniger essen …), wird alles wieder gut« falsche oder übertriebene Hoffnungen? Oder ist es, selbst wenn wir genau wissen, dass es nicht stimmt, rascher und bequemer zu sagen: »Das wird schon wieder«. Wir denken nicht daran, dass maßregelnde Aussagen wie »Sie sind zu dick« oder »Seien Sie nicht so empfindlich« Verachtung ausdrücken und verletzend wirken müssen. Es ist unsere Pflicht, der Patientin Befunde, Diagnosen oder weitere Maßnahmen mitzuteilen, das bedeutet aber nicht, dass wir das in knapper, verwirrender und beängstigender Form tun müssen. Ebenso wenig ist es gerechtfertigt, in unseren Patientinnen sinnlos Schuldgefühle zu erzeugen, z. B. mit Aussagen wie: »Hätten Sie nicht so viel geraucht (gegessen, getrunken, gefaulenzt …), dann wäre dies oder das nicht geschehen«. Oder gar: »Sie sind selbst schuld daran, dass Sie jetzt nicht mehr gehen können«.

• Wie handeln wir?

Es liegt an uns, daran zu denken, unsere »Amtshandlungen« so zu dosieren, dass sie eine Hochbetagte nicht unnötig und über Gebühr belasten. Alle alten, ganz besonders aber die alten Menschen mit Demenz sind leicht irritierbar und wenig belastbar. Wir müssen genau überlegen, ob der Blasenkatheter tatsächlich unvermeidbar ist, ob und wie oft wir den Patientinnen Blutabnahmen, Blutzuckerkontrollen, Punktionen, Spiegelungen, Röntgenaufnahmen zumuten müssen.

Sehr alte Menschen können sich nicht mehr wehren, sie sind daher mehr als andere der Gefahr preisgegeben, dass wir ihnen durch unsere Hast, Ungeduld oder Sorglosigkeit unnötig wehtun. Dies geschieht z. B., wenn wir eine Spritze zu schnell verabreichen, dafür die falsche Körperstelle wählen oder die falsche Nadel benutzen.


Auch »nicht handeln« ist oft eine ethische Alltagsentscheidung (»Ich habe es eilig«, »Es hat bis morgen Zeit«, »Ich bin zu feig, mich rasch zu entscheiden«). Häufig ergeben sich daraus unnötige Verzögerungen wichtiger anstehender diagnostischer, therapeutischer und lindernder Maßnahmen, die man der Patientin leicht hätte ersparen können.

• Wie sprechen wir mit Angehörigen?

Unsere Patientinnen können sich nur dann wohlfühlen, wenn auch ihre Angehörigen bei uns ein offenes Ohr finden. Rangieren für uns diese Gespräche unter »unnötige Belastungen«, werden sie in der Regel kürzer ausfallen als erforderlich wäre. Wir werden versuchen unsere Botschaft zwischen Tür und Angel loszuwerden, dabei ungeduldig, hektisch oder unhöflich wirken, die Besucherin spüren lassen, dass sie uns lästig ist. Darunter leidet auch der Wert der Mitteilungen: Weil Erklärungen fehlen, sind sie unverständlich. Zu knappe Formulierungen im medizinischen Jargon wirken autoritär und schüchtern die Fragende nicht selten so sehr ein, dass sie gar nicht wagt, weitere Fragen zu stellen.

Leider sind diese Verhaltensweisen auch 20 Jahre nach der Erstveröffentlichung dieses Buches nicht verschwunden. Sie kommen – ob im Akutkrankenhaus oder im Pflegeheim – noch immer vor.

Alt, krank und verwirrt

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