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6.1.1 Wie entstehen ärztliche Entscheidungen?

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Selbstverständlich beeinflussen Diagnose und Prognose jede ärztliche Entscheidung maßgeblich, denn nur in diesem Lichte sind wir in der Lage, Sinnhaftigkeit und Zumutbarkeit diagnostischer und therapeutischer Optionen abzuschätzen. Vor diesem Hintergrund prüfen wir (wenn möglich gemeinsam mit der Patientin und ihrer nächsten Bezugsperson) die Folgen der in Betracht gezogenen Vorgangsweise: Rechtfertigt der mögliche oder wahrscheinliche Nutzen der geplanten Schritte tatsächlich die vielen Belastungen, die sie voraussichtlich mit sich bringen? Ist der Kranken in ihrem augenblicklichen Zustand ein Transport zumutbar? Wie lange wird die Untersuchung (die Behandlung) dauern? Welche Schmerzen oder anderen Nebenwirkungen (z. B. Übelkeit, Stuhlprobleme, Immobilität o. ä.) sind damit verbunden? Wie sehr wird die alte Frau unter ihrem Schamgefühl leiden? Wird sie sich ausgeliefert fühlen und Angst haben? Bekomme ich rechtzeitig (solange noch eine Chance besteht) einen Termin für die geplante Untersuchung oder Operation? Und plane ich das Ganze wirklich zugunsten der Patientin, oder eher, weil ich meine eigene Unsicherheit nicht ertrage oder einfach wissen möchte, was »eigentlich« hinter den Symptomen steckt, obwohl dieses Wissen für die Kranke keine wesentliche Konsequenz haben wird?

Viel zu selten stellten wir uns der Frage: »Was möchte die Patientin selbst, was ist ihr wichtig?« Gerade bei sehr kranken, häufig völlig desorientierten alten Menschen ist es oft tatsächlich unmöglich zu erfahren, was sie selbst wollen. Es ist allerdings doch viel häufiger möglich, als es versucht wird! Demenzkranke Menschen haben zu dem, was mit ihnen geschehen oder nicht geschehen soll, oft sehr konkrete und begründete Ansichten und informieren die Ärztin, die gelernt hat mit ihnen zu kommunizieren, und bereit ist, sich dafür Zeit zu nehmen, klar über ihren Willen.

Unsere »kleinen« Alltagsentscheidungen über die medikamentöse Therapie können für die Patientin sehr hilfreich sein oder ihr großes Leid zufügen. Auf einige fragwürdige Therapieentscheidungen möchte ich kurz eingehen, die früher nicht selten »passierten« und leider bis heute noch nicht ganz verschwunden sind:

• Vorenthalten von Schmerzmitteln

Ich habe nicht daran gedacht, dass die Patientin Schmerzen haben könnte, die Aussage der Pflegekraft war für mich nicht glaubwürdig genug.

Früher kam es auch gelegentlich vor, dass die Patientin sich ihr Schmerzmittel erst »verdienen« musste, ehe die Ärztin bereit war, es ihr zu geben. Sie musste z. B. erst darum betteln. Sie musste gehorsam mitmachen, wenn wir sie mobilisieren wollten. Sie musste ruhig sein, sich gut benehmen und nicht jammern, wenn sie untersucht oder ihr Blut abgenommen wurde. Sie durfte nicht widersprechen oder gar die verordnete Therapie infrage stellen.

• Nebenwirkungen vernachlässigen

Wir leben im Zeitalter der Ökonomie und werden dazu angehalten, sparsam zu sein und billige Präparate zu verschreiben. Das ist oft, aber nicht immer, ohne Qualitätseinbuße möglich. Es gibt einige »billige« Mittel, deren Gebrauch uns zwar empfohlen wird, von denen aber bekannt ist, dass sie für die Patientin belastende Nebenwirkungen mit sich bringen. Verordnen wir sie dennoch, sind wir »brav«, fügen uns der Institution und riskieren weder Auseinandersetzungen noch Unannehmlichkeiten. Dafür nehmen wir sinnloses Leid für unsere Patientinnen in Kauf.

• Unnötig lange verabreichen

Dies geschieht durch sinnloses Zuwarten bei erwiesener Wirkungslosigkeit, durch Nachlässigkeit, Übersehen, Vergessen und wird durch unzureichende Kommunikation zwischen den Berufsgruppen stark begünstigt. Selbst wenn ich einmal etwas übersehe oder vergesse, werden sich, wenn uns die Zusammenarbeit in hierarchiefreien Räumen gelingt, Pflegende für die Patientin mitverantwortlich fühlen und mich sehr bald fragen, ob Frau Müller dieses Präparat wirklich noch braucht.

• »Ich möchte meine Ruhe haben«

Nicht immer bin ich voll belastbar. Manchmal habe ich private Sorgen, die mich stark beanspruchen. Manchmal bin ich total übermüdet oder schleppe mich halbkrank zum Dienst, weil zwei andere Ärztinnen gerade im Urlaub sind. Selbst in diesen Fällen sind Entscheidungen, deren einzige Grundlage mein Ruhebedürfnis ist, nicht wirklich entschuldbar:

• Ich verschreibe beim geringsten Anlass sofort ein dämpfendes Medikament.

• Ich wimmle die Patientin ab (z. B.: »Sie können jetzt keine Schmerzen haben«).

• Ich gehe weg, obwohl ich gerade jetzt gebraucht werde, und überlasse die Patientin anderen (meist den Pflegenden), die diese Situation ohne mich nicht wirklich gut lösen können.

• Ich verordne fixierende Maßnahmen, um nicht mehr mit dem Problem behelligt zu werden. Dies gehört der im Wesentlichen der Vergangenheit an und geschieht dank gesetzlicher Regelungen heute zum Glück kaum mehr.

Alt, krank und verwirrt

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