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6 Die »kleine Ethik« für jeden Tag 6.1 Ärztliche Entscheidungen Martina Schmidl
ОглавлениеDie »kleine Ethik« des Alltags besteht aus den unzähligen kleinen Entscheidungen, die wir im täglichen Leben »zum Wohle der Patientin« treffen. Wenn es mir gelang, mich für kurze Zeit aus meinem Berufsalltag zu lösen und in Gedanken einige Schritte zurückzutreten, um uns Ärztinnen aus dieser gesunden Distanz über die Schulter zu schauen, merkte ich deutlich: Wir wussten oft nicht, was wir taten.
Die täglichen Abläufe in einer Einrichtung lassen sich auch heute noch nur mithilfe bewährter Routinen einigermaßen reibungslos bewältigen. Routinen regeln den Tagesablauf und die einzelnen Arbeitsschritte, sie beeinflussen in vielen Bereichen – oft ohne, dass uns das bewusst wird – unsere Haltungen und Einstellungen, ja sogar unsere Wahrnehmungen und Empfindungen. Verlässlich eingefahrene Bahnen haben viele Vorteile. Sie verhindern, dass wir das Rad immer wieder neu erfinden müssen, helfen uns Zeit für Wesentliches zu sparen und sichern zumindest einen gewissen Qualitätsstandard. Wenn wir unsere eigenen Vorgangsweisen jedoch nicht immer wieder kritisch infrage stellen, erkaufen wir diese Vorteile zu teuer: Denn Routinen steigern auch unsere Betriebsblindheit, verführen zur Kritiklosigkeit, zum »Hängenbleiben« im Gewohnten (»Das war immer schon so …«), zu Bequemlichkeit, Gedankenlosigkeit und Automatismen. Unhinterfragt können sie letztlich zur Erstarrung des ganzen Systems und zum blinden Befehlsgehorsam selbst gestellten Regeln gegenüber führen (»Das geht nicht anders, das muss so sein.«). Ich glaube nicht, dass sich daran in den vergangenen 20 Jahren Wesentliches geändert hat.
Ärztinnen treffen ununterbrochen auf vielen Gebieten Entscheidungen von unterschiedlicher Tragweite und orientieren sich dabei bewusst oder unbewusst an bestimmten Richtlinien. Es lohnt sich darüber nachzudenken, was unsere Entscheidungen mit beeinflusst.
Einige wichtige Leitschienen sind:
• Von der Institution geforderte und sanktionierte Philosophien und Routinen, die uns oft nur wenig persönlichen Handlungsspielraum lassen und den meisten von uns mit der Zeit bereits weitgehend in Fleisch und Blut übergegangen sind.
• Eigene rationale Überlegungen: Sie müssen stets wesentliche Entscheidungshilfen im Hinblick auf diagnostische, therapeutische und pflegerische Maßnahmen sein.
• Emotionale Reaktionen: Unsere Tagesverfassung, Freude, Ärger, Zorn, Überforderung, Sympathie und Antipathie, beeinflussen – oft ohne, dass wir uns darüber Rechenschaft ablegen – unser Verhalten (z. B. die Entscheidung darüber, in welcher Art ich einem für mich »mühsamem« alten Menschen gegenübertrete oder in welchem Tonfall ich ihn anspreche).
• Unbewusste Handlungen: Hier kommen unsere gut eingeübten Schablonen zum Tragen, Manches, was aus Gedankenlosigkeit oder Vergesslichkeit geschieht, obwohl es »gar nicht so gemeint« war. Hierher gehören u. a. auch die Weichen, die wir stellen, indem wir nicht oder nicht rechtzeitig entscheiden.