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3. Sprache und NationSprache u. Nation

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Der lateinische Begriff natio „Geburt, Volksstamm, Klasse, Herkunft, Sippschaft“ fokussiert in vager Form auf sprachliche und kulturelle Gemeinsamkeiten. Die eine, staatstragende Sprache gibt er als Konsequenz nicht her. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation war ein Gebilde mit vielen nationes und Sprachen, ohne verbindliche LeitspracheLeitsprache. Nach außen, in diplomatischer Mission, wurde Latein benutzt. Diese Sprache aber wurde seit dem 17. Jahrhundert von Frankreich, dem Hauptgegner auf der politischen Bühne, nicht mehr akzeptiert. Das Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648 wurde um Monate verzögert, weil die französische Abordnung behauptete, nur die eigene NationalspracheNationalsprachen zu verstehen, während die deutsche Delegation auf LateinLatein als Verhandlungssprache beharrte. F. C. Moser (1750: 49ff.) beschreibt die sprachenpolitischen Auseinandersetzungen im Detail.

Die NationalstaatenNationalstaaten der Renaissance wie Frankreich und England betrachteten die symbiotische Einheit von Staat und Sprache als konstitutiv. Sie setzten auf konsequente Sprachentwicklung und SprachpflegeSprachpflege, gerade auch im literarischen und pädagogischen Bereich, und auf ein hohes Maß an Zentralismus (Schröder 2000). Deutschland vollzog den Wandel zum Nationalstaat erst drei Jahrhunderte später. Die Sprachpflege des (Hoch-)deutschen begann mit Luthers Bibelübersetzung; sie wurde im Zeitalter der deutschen Klassik intensiviert und mit der Säkularisation zum pädagogischen Programm. Noch die Preußische Akademie der Wissenschaften Friedrichs des Großen hatte auf Französisch funktioniert, doch das Französische als internationale Sprache war mit den Auswüchsen der Revolution und der napoleonischen Herrschaft in Misskredit geraten. Seine Agonie nach 1815 machte den Weg frei für den deutschtümelnden NationalismusNationalismus des nach dem Sieg über Frankreich 1871 gegründeten Kaiserreichs. Zu diesem Zeitpunkt galten die in Deutschland verbreiteten MinderheitensprachenMinderheitensprachen als belanglose, teilweise moribunde Mundarten. Die internationale Blüte des HochdeutschenHochdeutsch währte nicht lange, bis zum Ende des 1. Weltkriegs. Nur wenige Staaten Europas waren im 19. Jahrhundert offiziell mehrsprachig, darunter die Schweiz und die Donaumonarchie mit ihren 11 Amtssprachen (↗ Art. 29).

Nach 1918 lässt sich auf dem Gebiet der Donaumonarchie eine brisante semantische Verschiebung der Begrifflichkeit ‚deutsch‘, ‚Deutscher‘ nachweisen: War die Bezeichnung zuvor mit Blick auf die Siedlungsgebiete als „Sprecher des Deutschen“ (etwa innerhalb der größeren böhmischen oder mährischen LandsmannschaftLandsmannschaft) zu verstehen, so wurde sie nach 1918 umgedeutet als „über die Sprache der deutschen Nation zugehörig“, eine geschichtsklitternde Sichtweise, die der politischen Usurpation durch die Faschisten 1938 den Weg ebnete und die ethnischen Säuberungen von 1946 begünstigte.

Die Tradition einer Koppelung von Nation und Nationalsprache im Sinne eines erzwungenen politischen MonolingualismusMonolingualismus ist nicht überwunden, wie die 2018 verfügte Entscheidung der israelischen Regierung zur sprachlichen Ausgrenzung der arabischen Minderheit zeigt. Auch in der EU wird ausgegrenzt. Bestes Beispiel ist der Umgang der baltischen Staaten mit ihrer russischen MinderheitMinderheiten (↗ Art. 4).

Manipulativ ist die Tendenz politischer Gruppierungen, an die Stelle des Begriffes ‚Nation‘ den seit der Romantik mystifizierten, über die gemeinsame Sprache definierten Begriff ‚VolkVolk‘ zu setzen. Der Missbrauch des Begriffes hat in Deutschland eine lange Tradition, sowohl in der rechten Szene („ein Volk, ein Reich“, „Volksgerichtshof“, „Volksfeind“, „Volksschädling“) als auch am linken Rand („alle Kinder des Volkes“, „volkseigen“, „Volkspolizei“). Der begründete Slogan aus den Spättagen der DDR „Wir sind das Volk“ wurde durch den Kommentar der Rechten „Deutschland den Deutschen“ politisch pervertiert.

Bei alledem hat sich nach 1980 auf nationalstaatlicher Ebene in vielen Ländern Europas ein Umdenken angebahnt. Stellte der gaullistische Premierminister Pompidou noch 1972 klar: „Il n’y a pas de place pour les langues et cultures régionales dans une France qui doit marquer l’Europe de son sceau“ (République française 2017), ist Frankreich heute – sichtbar – ein Land mit neun RegionalsprachenRegionalsprachen, auch wenn es die Charta des Europarats bisher nicht ratifiziert hat. Auch Spanien ist politisch und sprachlich regionalisiert, die neue Struktur scheint so lange zu funktionieren, wie einseitige Brüche und Sezessionen vermieden werden. Sie bringt dem Land die im Zeitalter des Zentralismus verschüttete kulturelle Vielfalt zurück, unter dem Dach einer neu ausgehandelten gesamtspanischen Gemeinsamkeit. Auch in Großbritannien ist die sprachliche Regionalisierung unter dem Stichwort devolutiondevolution seit den 1970er Jahren spürbar vorangekommen. Englisch (Southern Standard) ist faktisch die Nationalsprache Englands, Englisch (Northern Standard, Scottish English) die meistgebrauchte Sprache Schottlands. Offiziell wird zwischen den beiden Standards nicht differenziert. Neben Scottish EnglishEnglish existieren auf das Mittelalter zurückgehende süd- und ostschottische Dialekte des Englischen, die heute, als Scots Language zusammengefasst, als Regionalsprache gelten. In Teilen des westlichen Hochlands und auf den Hebriden wird schottisches Gälisch gesprochen; die Regionalsprache hat über ihr heutiges Verbreitungsgebiet hinaus im gesamten Schottland hohen Identifikationswert. Englisch (↗ Art. 13, 97, 98) ist ArbeitsspracheArbeitssprache des schottischen Regionalparlaments und Sprache der schottischen Gesetzgebung. Im Übrigen ist die Benutzung beliebiger Sprachen möglich; Übersetzung wird, soweit möglich, gestellt. In jüngster Zeit gibt es Initiativen, den Gebrauch des Gälischen im Parlamentskontext voran zu bringen (vgl. Scotland.org). In Wales liegen die Verhältnisse anders: Die walisische Sprache Welsh, als keltische Sprache mit dem Gälischen und enger noch mit dem Bretonischen verwandt, ist seit 2011 die einzige „de jure official language“ des Landes. Englisch ist „de facto official“. Die Regelung gilt auch für das walisische Regionalparlament (vgl. National Assembly for WalesWales).

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