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4.1 Der Kālam
ОглавлениеUnter den islamischen religiösen Wissenschaften wird oft der sogenannte Kalām als eine „Theologie“ verstanden und mit diesem Wort übersetzt. Er hat zwar sehr subtile Gedanken entwickelt. Sein Projekt ist jedoch nicht dasselbe wie dasjenige der christlichen Theologie, zu der der Islam keinen adäquaten Gegenpart besitzt. Das Ziel des Kalāms ist nämlich nicht die Klarstellung des geoffenbarten Geheimnisses mit begrifflichen Mitteln, also das Verständnis des Geglaubten (quod credimus intelligere) so wie es Anselm von Canterbury in Anlehnung an Augustin formulierte.27 Vielmehr versucht er zu zeigen, inwiefern das islamische Dogma, dessen Wahrheit vorausgesetzt wird, plausibel ist, oder zumindest, dass es plausibler ausfällt als dasjenige der anderen Religionen, deren Ungereimtheiten aufgedeckt werden. Deswegen kann Ibn Ḫaldūn im 15. Jahrhundert seelenruhig schreiben, dass zu seiner Zeit der Kalām nutzlos geworden sei. Alle Ketzer seien schon widerlegt!28
Der Kalām ist von Überlegungen über die menschliche Verantwortung und deren Kompatibilität mit der göttlichen Allmacht ausgegangen. Der allgemeine Trend der islamischen Mentalität betonte immer mehr die Unentrinnbarkeit des göttlichen Willens im Sinne einer Prädestination. Besonders geeignet, um Gottes Allmacht und das Bedürfnis der Schöpfung nach Erhaltung zu erklären, war die atomistische Weltsicht, die vor allem al-Ašʿarī (gestorben 935) und später al-Bāqillānī (gestorben 1013) entwickelten. Aristoteles hatte einer kontinuierlichen Physik zum Siegverholfen. Der Kalām stellte dagegen ein Wiederaufblühen des Atomismus griechischer oder vielleicht indischer Herkunft dar. Nicht nur die Materie, sondern auch die Zeit bestehe aus unteilbaren Teilchen (Augenblicken), so dass Gott zujedem Zeitpunkt die Welt sozusagen neu erschaffen kann, wobei die Kontinuität in den Eigenschaften keineswegs eine „Natur“ der Dinge, sondern bloß eine Gewohnheit (ʿāda) Gottes ausdrückt.29