Читать книгу Handbuch des Strafrechts - Группа авторов - Страница 55

b) Verfolgung und Verfolgungspraxis

Оглавление

107

Für ein Verbandsstrafrecht wird weiter angeführt, dass dort das Legalitätsprinzip Anwendung findet. So hatte im Jahr 2013 der damalige nordrhein-westfälische Justizminister Kutschaty[362] das Legalitätsprinzip als „Garant für die Gleichbehandlung aller Marktteilnehmer“ bezeichnet: Eine Praxisbefragung für den Zeitraum 2006–2011 habe gezeigt, dass das Opportunitätsermessen sehr unterschiedlich ausgeübt werde, und in einer Erhebung bei 80 Staatsanwaltschaften hätten 45 % der Befragten geäußert, § 30 OWiG würde bei Geltung des Legalitätsprinzips „wesentlich öfter“ Anwendung finden. Auch die OECD habe die uneinheitliche Ermessensausübung beanstandet und empfohlen, zumindest Leitlinien über den Gebrauch des Verfolgungsermessens herauszugeben.[363] Während einige Staatsanwaltschaften „astronomisch hohe“ Bußgelder verhängen würden, friste § 30 OWiG anderorts ein „Schattendasein“, da wegen Ressourcenproblemen allein Individualstraftaten verfolgt werden.[364] Ferner habe eine neuere empirische Erhebung zu § 130 OWiG[365] gezeigt, dass diese Bußgeldvorschrift kaum Anwendung findet.[366] Durch das Opportunitätsprinzip, das auch wegen der meist fehlenden Publizität einen Verhandlungsspielraum eröffne,[367] schwinde nicht nur der Opferschutz, sondern für die Unternehmen seien divergierende Entscheidungen bei ähnlichen Sachverhalten ebenfalls eine „unerfreuliche Konsequenz“.[368]

108

Die Gegner eines Verbandsstrafrechts halten dem entgegen, dass das bestehende System funktioniert.[369] So lobt Schünemann[370] die „herausragende Intensität“, mit der die Staatsanwaltschaften die Wirtschaftskriminalität bekämpfen und führt an, dass ihnen bereits heute mit §§ 30, 130 OWiG eine „starke Waffe in die Hand gegeben“ sei, von der „steigender Gebrauch“ gemacht werde. Die BRAK[371] bezeichnete im Jahr 2013 die Vorstellung einer „Gleichbehandlung“ durch Einführung eines Verbandsstrafrechts als „lebensfremd“, da dann die Möglichkeiten der Verständigung noch stärker genutzt und größere und finanzkräftige Unternehmen gegenüber kleineren bevorzugt würden; zudem würde der Prozess der „Ökonomisierung“ und Privatisierung“ von Strafverfahren verstärkt. Von anderen werden vermehrt „Bauernopfer“ bzw. Verständigungen zu Lasten von Mitarbeitern befürchtet.[372] Behauptungen, die Wirtschaftskriminalität werde nicht gleichmäßig verfolgt oder Verfahren fänden unbemerkt von der Öffentlichkeit statt, seien nicht nachvollziehbar: Die verpflichtend vorgesehene Weitergabe von Erkenntnissen aus der steuerlichen Betriebsprüfung über Unregelmäßigkeiten an die Ermittlungsbehörden führe bereits zu einer „quasi-automatischen Verfolgung“; zudem würden die bisherigen Verfahren in der Öffentlichkeit, gerade wenn es um DAX-Unternehmen gehe, durchaus wahrgenommen.[373]

109

Die Bewertung dieses Streits wird erneut dadurch erschwert, dass umfassende empirische Daten zur Verfolgungspraxis fehlen. Die von den Befürwortern genannten Statistiken und Studien legen freilich nahe, dass das Potential der bestehenden Regelungen „bei weitem noch nicht überall genutzt oder gar ausgereizt wird“,[374] also Anwendungs- und Vollzugsdefizite[375] bestehen. Diese Defizite dürften jedoch nicht die (schweren) „Leuchtturm-Fälle“ (wie Siemens, VW) betreffen, da die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten nicht im „freien“, sondern im „pflichtgemäßen Ermessen“ (§ 47 Abs. 1 OWiG) liegt. Bei der Ermessensausübung ist abzuwägen, ob unter Berücksichtigung der Bedeutung der Ordnungswidrigkeit und des Vorwurfs die Verfolgung und Ahndung angebracht ist; Leitgedanken bilden der Gleichheits- und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.[376] Folge dürfte sein, dass „schwere“ Fälle stets sowie „leichte“ Fälle kaum verfolgt und geahndet werden, im „mittleren“ Bereich dagegen das eröffnete Ermessen zum Tragen kommt. Freilich bestehen auch in der Praxis der Strafverfolgung „Spielräume“, da das Legalitätsprinzip durch die Einstellungsmöglichkeiten nach §§ 153 ff. StPO durchbrochen wird. An dem Umstand, dass das Verfahren zur Festsetzung von Verbandsgeldbußen durch hohe Einstellungsraten und eine überdurchschnittlich hohe Tendenz zu Verständigungen gekennzeichnet ist,[377] dürfte sich daher in einem künftigen Verbandsstrafverfahren voraussichtlich nicht viel ändern, zumal regelmäßig schwierige Beweisfragen zu klären sind.[378] Auch aus dem Ausland wird berichtet, dass die Zahl der geführten Strafverfahren gering ist.[379] Gleichwohl sollte der Übergang zum Legalitätsprinzip zur Folge haben, dass die Unternehmenskriminalität gerade im „mittleren“ Bereich gleichmäßiger und stärker verfolgt wird. Hierfür spricht auch, dass im Strafverfahren auf das volle Ermittlungsinstrumentarium – und nicht nur auf das eingeschränkte des Bußgeldverfahrens – zurückgegriffen werden kann, womit das Entdeckungsrisiko tendenziell steigt. Die moderne Sanktionsforschung zeigt, dass für die generalpräventive Wirkung einer Sanktion nicht so sehr deren Schärfe, sondern vor allem das Entdeckungsrisiko entscheidend ist.[380] Damit könnte – je nach Ausgestaltung – der kriminalitätsdämpfende Effekt eines Verbandsstrafrechts (deutlich) stärker sein.

110

Soweit im bestehenden System Anwendungs- und Vollzugsdefizite bestehen, spricht dies aber nicht zwingend für die Einführung eines Verbandsstrafrechts, da ein gleichmäßigerer und stärkerer kriminalitätsdämpfender Effekt ebenso durch den Ausbau des bisherigen Systems und die Ausschöpfung des Instrumentariums erreicht werden kann. Zu denken ist hierbei nicht nur an die Schaffung von Leitlinien für die Ausübung des Verfolgungsermessens und von Richtlinien für die Zumessung der Verbandsgeldbuße,[381] sondern auch an die Schaffung zusätzlicher Ressourcen bei den Schwerpunktstaatsanwaltschaften für Wirtschaftskriminalität, bei den speziellen Abteilungen der Amtsgerichte und bei den Wirtschaftsstrafkammern der Landgerichte.[382] Schließlich könnte auch die internationale Kooperation weiter verstärkt werden.[383]

Handbuch des Strafrechts

Подняться наверх