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2.2 Zur mystisch erfahrbaren Wirklichkeit
ОглавлениеEreignisse im Sein, die wir mithilfe von Naturgesetze beschreiben und voraussagen können, gelten als verstanden. Wir denken dabei an Gesetze von der Art: Immer wenn dies geschieht, so passiert jenes. Oder genauer: Gegen einen Widerstand wird eine Wirkung durch eine Ursache erzeugt. Diese Sichtweise dehnen wir intuitiv auf alle Prozesse im Sein aus. Sind wir nicht in der Lage, Vorgänge im Sein mit Naturgesetzen zu beschreiben, betrachten wir sie entweder als noch nicht verstanden oder prinzipiell nicht verstehbar. Letzteres betrifft beispielsweise scheinbar ursachenlos ablaufende Wirkungen. Diese vermeintlich „objektiv zufällig“ stattfindende Ereignisse werden prompt als „unnatürlich“, gesetzlos, vielleicht sogar mystisch, empfunden. Derartige, willkürlich erscheinende Vorgänge wirken auf viele Menschen wie ein „Wunder“ und scheinen auf faszinierende Weise einen geheimnisvollen, mystischen Aspekt zu besitzen. Andere wiederum meinen, da sie an die prinzipielle Erkennbarkeit der Welt glauben, also annehmen, dass alles Seiende, jedes Ding im Sein, grundsätzlich Naturgesetzen folgt, dass Unverstandenes ausschließlich auf Unwissenheit zurückzuführen ist. Ebendeshalb kann „Ursachenloses“ bzw. „objektiv Zufälliges“ prinzipiell nicht existieren und die hierdurch provozierten, mystischen Betrachtungsweisen haben nichts mit einer Wirklichkeit zu tun.
Objektiv zufällige Naturvorgänge werden dagegen in zahlreichen Fällen beobachtet! Sie wirken wie „Schöpfungsakte“, wie ursachenlose Erzeugungen. Und sie begegnen uns, ohne das wir sie als Besonderheit wahrnehmen.
Beispielsweise scheint das beobachtbare Universum in einem objektiv zufälligen, höchst unwahrscheinlichen Erzeugungsprozess entstanden zu sein. Unsere Welt dürfte eigentlich nicht existieren.
Oder betrachten wir ein weiteres Beispiel. Wir beobachten, dass die Hälfte der anfänglichen Menge einer radioaktiven Substanz nach der sogenannten „Halbwertszeit“ in andersartige Elemente zerfällt. Das bedeutet, wir bemerken in zahlreichen Messungen, dass die Hälfte des betrachteten Materials in dieser Halbwertzeit zerfallen ist. Allerdings wissen wir nicht, wann dies ein einzelnes Atom durchführt. Wir können, wie es sich zur Zeit darstellt, prinzipiell nicht voraussagen, wann der Zerfall stattfindet. Der Zerfallsvorgang scheint ursachenlos, objektiv zufällig, einzutreten. Wir wissen nur, mit welcher Wahrscheinlichkeit er stattfinden könnte. Zum Beispiel zerfällt das radioaktive Cäsium „137Cs“, das bei Atomwaffenversuchen und beim Reaktorunfall in Tschernobyl entstand, nach ca. 30 Jahren zur Hälfte seiner anfänglichen Menge. Wann das einzelne Cäsiumatom zerfällt, ist nicht verstanden, nicht voraussagbar. Es scheint kein, die Ursache für diesen objektiv zufälligen Zerfall des einzelnen Atoms bzw. Atomkerns erfassendes Naturgesetz zu geben. Wenn wir nach dem „Warum“ in den elementaren Prozessen fragen, so erhalten wir prinzipiell nur ein „Wahrscheinlich“ zur Antwort.
Regen diese merkwürdigen, objektiv zufälligen Ereignisse mystische Denkansätze an? Hier ist ganz gewiss Vorsicht angesagt!
Ein nicht nur im mystischen Denken sich aufdrängender Gedanke scheint der zu sein, dass die Gesamtheit der Ereignisse in Raum und Zeit, die allgewaltige kosmische Realität aller Objekte im Sein, beim objektiv zufälligen Verhalten irgendwie mitwirkt. Denn die von der vergangenen und der gegenwärtigen Forschergemeinde entwickelten Naturmodelle werden in sogenannten „isolierten“ Systemen betrachtet. (Vergleich beispielsweise Kap. 2 in [10].) Das bedeutet, es werden die meisten Experimente und Beobachtungsvorgänge in einer vom Rest der Welt „künstlichen“ Isolation (je nach Fragestellung), getrennt von den kosmischen Einwirkungen, behandelt. Eine immer vorhandene Wirkung der Gesamtheit des Kosmos auf die Beobachtungsvorgänge sieht man in dem betrachteten Ereignis als vernachlässigbar an. Zum Beispiel wird bei der Betrachtung elementarer Prozesse in der Mikrowelt der Quanten die den Raum und die Zeit krümmende Gravitation als nicht relevant weggelassen. (Diese gravitative Wirkung ist tatsächlich um viele Größenordnungen geringer als die beobachteten elementaren Kräfte der Quantenwelt – aber sie bestimmt die Struktur des Kosmos.) Bloß, diese außerordentlich erfolgreiche und bewährte Herangehensweise kann zu Fehlern, Widersprüchen oder zur Beobachtung von scheinbar seltsamen Phänomenen, zum Beispiel objektiv zufälliger Ereignisse, führen. Und diese könnten immer dann zu erwarten sein, wenn, im Gegensatz zur Annahme der Isolation der untersuchten Vorgänge, der gesamte Kosmos in seiner Wirkung doch wesentlich sein könnte. Beispielsweise wird, wie schon erwähnt, bei der Betrachtung der fundamentalen Bausteine der Materie die, die Raum-Zeit Geometrie beschreibende Gravitation vernachlässigt. Ihre korrekte Mitnahme scheiterte bisher. Ebenso erscheinen in dem überaus erfolgreichen Standardmodell für die elementaren Bauteile der Materie (Modell für die, die Mikrophysik aufbauenden Quanten) für sehr hohe und sehr niedrige Energien sinnlose Ergebnisse und Erklärungen. Es bricht hier geradezu zusammen und wird nur durch geniale Rechentricks handhabbar. Die Modelle für die Bausteine der uns bekannten Materie, die unter der Annahme einer Isolation vom Rest des Kosmos entwickelt wurden, scheinen mit den realistischen raum-zeitlichen Strukturen unserer Welt nicht zusammen zu passen bzw. liefern eben seltsamste Phänomene. Jedoch ist uns gerade mal ein Bruchteil der Materie bekannt, ca. 4,6 %, die Quelle der für uns beobachtbaren Raum-Zeit ist und im Standardmodell darstellbar ist, bzw. eine schlüssige Berücksichtigung findet. Von den restlichen, die Geometrie des für uns denkbaren Kosmos aufspannenden 95,4 % nennt man den anziehenden, Raumspannung erzeugenden Anteil sinnigerweise dunkle Materie (ca. 23 %) und den abstoßenden, Raumdruck bewirkenden Teil dunkle Energie (ca. 72,4 %).
Es gibt Forscher, die meinen, dass unser Wissen einfach unvollständig ist und uns bisher verborgene Vorgänge gefunden werden müssten, die alle Objekte im Sein erfassen und ein einzig allmächtiges Wirkungsprinzip für das gesamte Netzwerk von Naturgesetzen im Kosmos begründen. Dies führt in Konsequenz zu der mutigen, recht spekulativen Annahme, dass ein „Weltgesetz“, eine „Weltformel“, ein „Dharma“ des Seins, eine Theorie für ALLES gefunden werden müsste.
Das Wirken des kosmischen Seins ist nach „Innen“ gerichtet, da nichts „Äußeres“ definierbar ist. Es wird, in der mystisch-religiösen Denkweise, als „immer währender“ Wandel zwischen sich gegenseitig Ausschließendem, aber notwendig Zusammengehörendem, alle Dinge im Sein Erfassendem, gedacht. Das Sein entfaltet, da einzig allmächtig und deswegen an keine Gesetze gebunden, für das Seiende „ursachenlose“ bzw. „gesetzlos“ erscheinende Wirkungen nach „Innen“. Würde es, entgegen der, im mystisch-religiösen und im rational-materialistischen Denken gemachten Annahme, als an Naturgesetze gefesselt betrachtet werden, gäbe es „Äußeres“, das ihn bedingt. Es bestände ein Grund, der ihn gegen einen Widerstand erwirkt bzw. erzeugt. Der Kosmos ist aber die Gesamtheit allen Geschehens der Dinge im Sein, er ist einmalig, ist die Ganzheit der raum-zeitlichen Existenzen; er umfasst sämtliche Zustandsalternativen alles Seienden, ist raum-zeitlos. Es existiert infolgedessen nichts „Äußeres!“ Er kann also nicht durch irgendetwas bedingt sein, - entfaltet folglich objektiv zufällige Wirkungen nach „Innen“– ist umgangssprachlich beschrieben „einzig allmächtig“. Das Wirken des kosmischen Seins verursacht auf allen Größenordnungen Effekte, die von uns als nicht beweisbare, durch Gesetze begründbare, jedoch durch unzählige Erfahrungen als wahr bestätigte Fundamentalannahmen bzw. Axiome, geglaubt werden.
Die von uns beobachtbaren Naturgesetze folgen aus den von uns, aus zahllosen Erfahrungen geschlussfolgerten Fundamentalprinzipien bzw. Axiome, die von uns, vom Rest des Kosmos „isolierten“ Individuen, als wahr aber nicht beweisbar geglaubt werden. Beispielsweise, dass kräftefreie Bewegungen von Objekten entlang eines kürzesten Wegs in der Raum-Zeit ablaufen, wird - bis jetzt - als solch ein Fundamentalprinzip angenommen. Man ist versucht die Verallgemeinerung, „Ein ursachenloser Zustandswandel des Seienden führt zu einem minimal benachbarten Zustand in Raum seiner Zustandsalternativen“, zu postulieren. Oder beispielsweise zählen als fundamentale Prinzipien auch die zwei Postulate, aus denen das Theoriegebäude der Quantenmechanik ableitbar ist: 1. Jedes physikalische System trägt eine endliche Menge an, für anderes bedeutsame Information (relevante Information) über sich (Körnung der Mikrowelt). 2. über ein physikalisches System lässt sich stets neue Information gewinnen (Unbestimmtheit der Information). (Siehe beispielsweise in [11], Kap. 12.)
Es drängt sich die Auffassung auf, dass bei den Fundamentalprinzipien irgendwie die Gesamtheit des kosmischen Seins mitwirkt. Da keine individuelle Existenz in der Lage ist, den Kosmos als Ganzes zu erfassen, müssen diese Prinzipien als wahr geglaubt werden, trotzdem sie grundsätzlich nicht beweisbar sind. Natürlich wird die Forschung immer mal wieder eine Verallgemeinerung in ein „höheres“ Prinzip finden. Das ändert nichts daran, dass diese Fundamentalprinzipien uns objektiv zufällig erscheinen. Die fernöstliche Mystik generiert auf faszinierende Weise dafür ein intuitives Verständnis.
Nicht selten wird Mystik mit Magie verwoben und damit missverständlich verwendet. Trotzdem es keinen allgemeinen Konsens zum Begriff „Mystik“ gibt, sollte eine scharfe Trennung in den Bedeutungen von Mystik mit Magie erfolgen. Auf jeden Fall hat die Mystik nichts mit der irrealen, der unwirklichen Natur von Magie gemein. Magie gehört in das Reich der Märchen und Sagen. In ihnen tauchen Gegenstände und Wesen auf, die über geheimnisvolle Kräfte verfügen, die mittels fantastischer Rituale geweckt werden - und die keiner vernünftigen, geschweige denn einer strengen naturwissenschaftlichen Betrachtung standhalten. Der Glaube an diese Magie wächst aus dem machtvollen Unwissen über die reale Natur, die Wirklichkeit, um und in uns - und ist, ganz im Sinne eines Lehrsatzes von Konfuzius „Denken ohne Wissen ist gefährlich“, verderblich.
Andererseits hat der Begriff der Magie noch eine umgangssprachliche Bedeutung. Beispielsweise empfinden wir die Wirkung von Kunstwerken oder das Bild von Landschaften im Nebel, durchwoben mit geheimnisvollen Wurzelgestalten, die uns die Fantasie vorgaukelt, als „magisch“. Die Magie des Eindrucks von Dingen, die unsere Empfindsamkeit berühren, kann zwar die Sinne verzaubern, nicht aber die materielle Wirklichkeit. Trotzdem ruhen in dieser Fantastik oft genug Weisheiten und Metapher zu Konfliktsituationen in unserer realen Welt.
Im Wirkungsspektrum dieser Magie-Kultur tummeln sich leider auch Gestalten, die bewusst pure Scharlatanerie betreiben. Diese, angeblich „magisch“ Begabten haben eines gemeinsam: Die von ihnen „geweckten“, magischen Phänomene halten keiner rationalen Betrachtung stand. Sie praktizieren, ob gewollt oder ungewollt, ein absurdes bis schmutziges Geschäft mit gutgläubigen Menschen.
Die nicht an eine Naturgesetzlichkeit gebundene Magie wird von den großen monotheistischen Weltreligionen, beispielsweise vom Christentum und vom Islam, verurteilt.
Die sich an eine Rationalität bindende Mystik setzt voraus, dass eine geistige, einzig allmächtige, als göttlich verehrte, absolute Wirklichkeit existiert, - die wiederholt personal erfahrbar ist. In den monotheistischen, abrahamitischen Religionen wird sie dezidiert mit dem einzig allmächtigen, allerfassenden „Gott“ gleichgesetzt. In der fernöstlichen Mystik existieren detailliertere Interpretationen der absoluten Wirklichkeit. Zum Beispiel weicht der Buddhismus oder das chinesische Denken einem direkten Gottesbegriff eher aus. Dort sieht man das allerfassende, kosmische Sein als Manifestation der einzig allmächtigen Wesenheit, an. Keinerlei individuelles Wesen, kein Mensch besitzt ein Anteil dieser Allmacht oder kann sie vertreten – wäre dem so, hätte Gott ja nicht die Allmächtigkeit, da er sie ja teilen müsste.
Magie und Mystik sind also zwei grundverschiedene, sich ausschließende Dinge! Magie sucht jenseits jeglicher Realität. Mystik sucht diesseits der Realität. Da nun aber keine einheitliche Definition zum Begriff der Mystik existiert, nennen wir Mystik nur im Zusammenhang mit religiösen und spirituellen Erfahrungen, wie sie in den Weltreligionen beschrieben werden.
In der Mystik der monotheistischen Weltreligionen wird an die Existenz der einzig göttlichen Wesenheit geglaubt. SIE wird, je nach kulturhistorischen Hintergrund, in verschiedenen Manifestationen verehrt. In letzter Konsequenz sieht man SIE als „letzte“ Wahrheit, als die, die Gesamtheit aller Zustandsalternativen sämtlicher Dinge erfassende, absolute Wirklichkeit. Diese Gotteswirklichkeit ist für alle Objekte im Sein, für das Seiende, eine nicht personalisierbare Wesenheit. SIE ist eine sogenannte emergente Wesenheit. SIE ist als Ganzheit nicht identifizierbar. Trotzdem wird SIE von zahlreichen Gläubigen personifiziert. Das verführt aber dazu, individuelles Fühlen, Denken, also letztlich menschliches statt göttliches Verhalten zu erwarten – was Vorwürfe provoziert: „Warum lässt ‚Du‘ dies oder jenes zu?“
Das ist verständlich, da der Mensch dazu neigt, intuitiv eine individualisierbare Dinglichkeit zu suchen. Das erschwert die Betrachtung komplexer Gesamtheiten, wie beispielsweise das Verhaltens von Menschengemeinschaften. Es hemmt erst recht den Versuch, die Wirkungen der nicht personalisierbaren göttlichen Wirklichkeit zu verstehen.
Das Zusammenfügen von Elementen zu einem System führt oft zu völlig neuen, zu emergenten Systemeigenschaften. Diese Eigenschaften erscheinen den Systemelementen als nicht individuell verortbar, als nicht „personalisierbar“. Sie teilen sich ihnen unter Informationsverlusten mit – was beispielsweise in den Naturwissenschaften ein wohlbekannter Vorgang ist. Auch die Gläubigen erfahren das Wirken der emergenten Wesenheit nur Aspekthaft. Es ist ihnen nicht möglich, das Agieren der göttlichen Wirklichkeit zu erfassen, in ihre individuellen Denkschemata einzuordnen und dort zu bewerten.
Gewiss wird das Wirken eines emergenten Natursystems, wenn wir Teil des Systems sind, auf unsere menschliche Bewusstseinsebene „runter“ projiziert. Dabei bildet sich grundsätzlich ein Informationsverlust aus. Wir bilden das uns erfassende Natursystem nicht in seiner Ganzheit in unserem Bewusstsein ab. (Zum Beispiel nehmen wir das Verhalten der Menschengemeinschaft nicht als Ganzes wahr, sondern nur über ein subjektiv empfundenes Umfeld, eine uns berührende Kontaktgemeinschaft.) Die Projektionen der Wirklichkeit in unserem Bewusstsein sind darum prinzipiell Illusionen über die Wirklichkeit. Viele, die diese Illusionen bewusst oder unbewusst erfahren, nehmen Zuflucht in mystische Denkweisen. Sie glauben, dass sie Hinweise auf die verlorene Information liefern könnten.
Der fernöstlichen Mystik ist dies nicht fremd. Im Hinduismus ist das eine uralte Erkenntnis. Dort wird festgestellt: Solange wir die unendliche Zahl der Formen unserer Wahrnehmungen und ihre Abbildungen im Selbst, die „Lila“ genannt werden, mit der Realität verwechseln, stehen wir unter dem Einfluss einer Täuschung, die Maya heißt. Dies bedeutet nicht, dass die Welt eine Täuschung ist, sondern die Wiedergabe von ihr in unserem Bewusstsein ist es. Die Abbilder sind Illusionen! Das besagt, unsere Weltbilder für die objektive, letzte Wirklichkeit zu halten, ist eine Illusion, ist Maya. Diese Weltabbilder sind brauchbare Näherungen! Auch in dem von Platon überlieferten, berühmten Höhlengleichnis wird dieser Sachverhalt gelehrt. Wir alle müssen - selbst in einfachen Lebenslagen - nach der Wahrheit hinter den Illusionen der Wirklichkeit suchen. Das gilt prinzipiell für unsere Beobachtungen und Naturbeschreibungen bzw. Weltbilder!
Das in unserem Bewusstsein überhaupt exzellente Abbilder der objektiven Realität entstehen können, ist das eigentliche Naturwunder. Einstein meinte sinngemäß: „Nicht der Kosmos sei das Wunder, sondern das Wunder ist das, wenn auch unvollständige Bild des Kosmos in unserem Kopf.“
Viele Menschen neigen dazu, die von ihnen gemachten Beobachtungen, die nicht in ein rational-materialistisches Weltbild zu passen scheinen, als seltsame, unnatürliche Phänomene zu empfinden.
Diese Phänomene werden dann oft instinktiv mit der Präsenz geistiger Mächte in Verbindung gebracht. Jene diffuse Spiritualität muss die Naturgesetze beachten, sonst besteht die Gefahr, dass sie in Richtung irrationaler Magie und Esoterik abgleitet. Der überwiegende Teil der Gläubigen scheint davon auszugehen, dass die spirituelle bzw. mystisch-religiöse Auseinandersetzung mit der Natur beim Verstehen des Naturgeschehens hilfreich sein kann. So vereinfacht und unscharf dieser Zugewinn an Verständnis sein mag, es ermöglicht dem „Nicht-Fachmann“ mit der immer komplizierter und komplexer werdenden Welt, mit den immens wachsenden Erkenntnissen über die Natur und den oft seltsam erscheinenden Weltbildern der Forschergemeinde wenigstens teilweise zurechtzukommen. Darum ist es hilfreich, wenn Wissenschaftler versuchen, auf allgemein verständliche Art die rational-materialistischen Sichtweisen mit mystisch-religiösen Denkweisen vergleichend zusammenzubringen.
Zum Beispiel verglich Capra [3] die fernöstliche, mystisch erfahrbare Wirklichkeit mit den Erkenntnissen der physikalischen Forschung. Er deutet eine Konvergenz von Naturwissenschaft und fernöstlicher Mystik an. Oder beispielsweise Mathias Schreiber, der Auffassungen zur Seele und ihrer Unsterblichkeit - besonders in Bezug auf gegenwärtiges Wissen - auf erfrischend kompakte Weise zusammenfasste [13].
Es ist schwierig, nicht nur eine verstehende Sicht auf die Dinge im Sein zu suchen, sondern zugleich die Rolle unseres Selbst in diesem Prozess zu begreifen. Das Verständnis der Wirkung des Selbst, des gefühlten ICH’s als Beobachter, in der uns um- und erfassenden Welt ist, in der sich mehr und mehr globalisierenden Wissens- und Informationsgesellschaft, von wachsender Bedeutung. Da das individuelle Wissen über die Dinge im Sein aus der sinnlichen Beobachtung und deren Transformation in die Weltbilder unseres geistigen Selbst folgt, ist eine „Innenschau“ auf diesen Beobachtungsprozess von dominanter Wichtigkeit. Die Beobachterrolle erkennende „Innenschau“ spielt im mystischen Denken, insbesondere in der fernöstlichen Mystik, eine zentrale Rolle. Besonders der Buddhismus lehrt ausgefeilte Wege für die, das geistige Selbst suchende Meditation – sodass er wie eine Art psychotherapeutisch wirkende „Religion“ zu betrachten ist.
In der Physik spielt das Beobachterkonzept eine zentrale Rolle. Jede Beobachtung eines Objekts ist mit einer Wechselwirkung zwischen dem Beobachter und dem beobachteten Objekt verbunden. Sie verändert den Zustand des beobachteten Objekts und den des Beobachters. Es ist dabei egal, ob eine Person oder ein anderes Objekte beobachtet. Beobachtungen sind immer mit einem Informationsaustausch kombiniert, der Zustandsveränderungen der Beteiligten zur Folge hat – die bei dem Einem sehr klein und bei dem Anderen sehr groß sein kann. Beispielsweise, wenn wir den Ort eines elementaren Teilchens, etwa eines Elektrons, feststellen wollen, scheint uns der ausgesendete, von uns provozierte Lichtblitz des Elektrons, seinen Ort zu verraten, aber da es sich durch den „Rückstoß“ beim Lichtblitz bewegt, hat es diesen Ort dann gar nicht mehr. Wir Beobachter haben uns durch den Empfang des Lichtblitzes vernachlässigbar verändert, das Elektron aber erheblich, da es zu einem neuen, unbekannten Ort, sprang. Dieses Prinzip der „Unbestimmbarkeit“ der Elementarteilchenphysik ist verallgemeinerbar, ist prinzipieller Natur. Beobachten wir beispielsweise einen anderen Menschen, so wird das seine objektive, körperliche und geistige Realität kaum verändern. Sein Abbild in unserem Verstand ist nur eine Illusion, die von unserer Beobachtungsweise, unseren Voreinstellungen, usw., abhängt. Es variiert von Beobachtung zu Beobachtung, denn sein wahrgenommenes Abbild löst in uns irgendeine Einstellung zu ihm aus, verändert unser geistiges Selbst und wandelt unsere Beobachtungseinstellung – was irgendeine, vielleicht sogar erhebliche Bedeutung für uns hat. Das aus sinnlichen Wahrnehmungen sich entwickelnde Abbild der uns um – und erfassenden Natur beeinflusst unser geistiges Selbst und damit die Art der Beobachtung, was wiederum ein sich veränderndes Abbild der Natur in uns zur Folge hat.
Wir müssen uns daran erinnern, dass unsere Fragen an die Welt nur Fragen an die, in unserem geistigen Selbst existierenden Abbildungen der Wirklichkeit sind. Nur Abbilder der Realität treiben den Verstand eines jeden. Nur diese Welt-Bilder können Fragen auslösen und Beobachtungen provozieren. Stellen wir aufgrund unscharfer Weltbilder die falschen Anfragen, so werden wir falsche Antworten erhalten. Das heißt, wir müssen uns darüber im Klaren sein und erkennen, wie Fragen, die doch aus den im geistigen Selbst liegenden Weltbild resultieren, zu einer Annäherung dieses „gedachten“ Weltbildes an die objektive physikalische Realität führen können. Hier bietet sich ein Ausflug in die mystisch-religiöse Denkweise der Weltreligionen an. Denn in ihr spielt ja diese notwendige „Innenschau“ mithilfe einer „Meditationskultur“ eine zentrale Rolle. Während einer Meditation bewegt sich das denkende Wesen wie ein Astronaut durch die tiefen Schichten des Bewusstseins und versucht zu ergründen, wie die „äußere“ Welt in unserem Selbst gespiegelt wird. Es treibt ihn Neugier und Zweifel an die in unserem geistigen Selbst wahrgenommene und gespiegelte „äußere“ Welt, - Zweifel an die Illusion einer objektiven physikalischen Realität. Aber nicht die objektive, physikalische Realität ist eine Illusion, sonder ihre Abbildung in unserem Verstand.
Was provoziert diesen Zweifel an die illusionären, geistigen Projektionen der uns umgebenden „äußeren“ Natur? Welche Beobachtungen belasten unser Vorstellungsvermögen, so das wir voller Zweifel den Welt-Bildern in uns misstrauen? Nicht wenige Naturphänomene erweisen sich als seltsam und führen uns an die Grenzen unserer Vorstellungskraft. Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass sie Interpretationen sind, die aus den geistigen Konstrukten in uns hervorgehen, die wir auf den Grund von Illusionen über die real existierende, objektive Wirklichkeit errichten. Das provoziert dann manchmal die Versuchung, sich in mystisch-religiöse Denkweisen zu begeben?
Beispielsweise beobachteten Astronomen in den Zentren von Galaxien, einschließlich unserer eigenen Sterneninsel, der Milchstraße, gigantische Gebilde, die Millionen bis Milliarden Sonnenmassen enthalten, die Sterne zerreißen und verschlingen. In ihrer Nähe ist die Schwerkraft derart gewaltig, dass selbst Licht verschluckt wird. Man nennt sie deshalb „Schwarze Löcher“. Man „sieht“ sie nicht und bemerkt sie nur über die Bewegung und die Strahlung der aufgeheizten, abstürzenden Materie. Im Zentrum dieser monströsen Objekte sind der Raum und die Zeit derart verzerrt und verkrümmt, das der Raum sowie die Zeit dort aufzureißen scheint. Diese „Risse“ treten als sogenannte Singularitäten, das heißt, unendlich große Phänomene in den Lösungen der die Raum-Zeit beschreibenden Gleichungen der „Allgemeinen Relativitätstheorie“ (entwickelt von Einstein), auf. Sie sind bisher im Rahmen eines konsistenten Verständnisses der Raum-Zeit und der uns bekannten Materie nicht verstanden, scheinen „Illusionen“ der Wirklichkeit zu sein. Sollten diese sogenannten Singularitäten nicht durch Raum-Zeitmodelle für unsere Welt beseitigbar sein, so deuten sie die Existenz, absurder Risse in Raum und Zeit an. Sie sind nicht einmal exotische Seltenheiten und scheinen in viel größerer Zahl zu existieren, als früher geglaubt.
Was „um Gotteswillen“ bedeuten diese seltsamen Phänomene? Was ist ein Riss im Raum - und schlimmer - in der Zeit? Und was ist Zeit, die eher einen thermodynamischen Hintergrund zu besitzen scheint und in der wir nur vorwärts und nie rückwärts schreiten können?
Ein anderes Beispiel aus der Welt der kleinsten Objekte, den Quantenobjekten, ist genauso bizarr. Diese Mikroteilchen bauen die uns bekannte sogenannte normale Materie auf und besitzen komplett sich widersprechende Eigenschaften. Sie können wie ein Punktteilchen wirken und wie eine räumlich ausgedehnte Welle erscheinen. In etwa wie eine Billardkugel die eine andere anstößt und anschließend, als wäre sie nebelhaft auf den gesamten Billardtisch verteilt, die Möglichkeit besitzt, in sämtliche Löcher einzutreten. Ist dieses widersprüchliche Verhalten eine illusionäre Abbildung der „wahren“ Phänomene in unserm geistigen Selbst, welche durch die über alle Maßen erfolgreiche Quantentheorie, suggeriert wird? Und, wenn nicht, wie „um Gotteswillen“ funktioniert das dann?
Oder, was „um Gotteswillen“ ist denn ein Elektronenteilchen, das scheinbar wie eine Welle durch den Draht schwingt und plötzlich ein anderes, wie eine Kleinstbillardkugel, aus dem Draht kickt?
Rätselhaft „funktioniert“ die menschliche Gemeinschaft - die sich als emergentes Gesellschaftssystem unserem Verständnis mit wachsenden Komplexität zu entziehen scheint und wie ein nicht personalisierbares Ganzes agiert. Es sieht aus, als spült sie „bewusst“ Machthydren, elitäre Interessengruppen oder von absurder Selbstgerechtigkeit erfüllte Egomanen immer wieder, auf für uns Individuen nicht durchschaubare Weise, in Knotenpunkte der Macht. Wie sonst ist es zu verstehen, dass Gesellschaftssysteme in Richtungen getrieben werden, die von Vielen nicht gewollt werden.
Oder, wir beobachten Wirtschafts- und Finanzsysteme, die außer Kontrolle zu geraten scheinen. (Siehe bei N. Roubini, St. Mihm, „Das Ende der Weltwirtschaft und ihre Zukunft“, [14].) Da eine Mehrzahl von Menschen kurzfristigem Vorteilsdenken folgen und sich scheuen beziehungsweise nicht gewillt sind, nachhaltig zu denken und zu agieren, können demokratisch legitimierte Politeliten ganze Nationen in die Schuldknechtschaft führen. Wir stellen fest, dass die subjektive Gier weniger Menschen objektiv wirkende, globale zyklische Krisen auslösen kann - und keine Wirtschaftswissenschaft findet für dieses Phänomen sicher regulierende Lösungen (siehe z.B. [14]).
Die Dynamik in den sozio-kulturellen und ökonomischen Strukturen verlangen, qualitativ neues politisches Denken. Die internetbasierten Informationsnetzwerke überdehnen sich zu einer, fast alle Lebensbereiche erfassenden Kommunität und lassen eine sozio-kulturelle Entwicklung erwachen, die wir kaum überschauen. Produktion und Dienstleistungen werden sich „intelligent“ organisieren und vernetzen. Damit diese Prozesse dem Menschen und seiner Gemeinschaft nicht entgleiten, sind neue Wege in der Bildungslandschaft zu gehen und ein ethisch motiviertes, gesamtgesellschaftliches Verantwortungsbewusstsein zu entwickeln.
Die sich abzeichnende Herrschaft des „Big Data Pools“ verlangt ein neues Demokratieverständnis, eine Erweiterung der Gewaltenteilung im Staat und ihre demokratische Regulierung.
Allgemein beobachten wir einen qualitativen Wandel in den Sichtweisen auf die Natur der Welt, einschließlich, die der Menschengemeinschaft. Die Welt scheint komplexer und mehr im ständigen Wandel zu sein, als uns von „klassischen“ Weltanschauungen vermittelt wird. Seit Tausenden von Jahren beschäftigen sich Gelehrte immer wieder mit Weltanschauungen, die diesen Wandel essenziell beinhalten. In der ältesten Literatur der Inder, in der Rigveda, lernen wir beispielsweise Auffassungen zur Welt, zur Kosmologie und zu unserem eigentlichen Selbst kennen, die eine erstaunliche Aktualität besitzen. Aber zu allen Zeiten hatten Menschen Angst vor dem Wandel in der sie umfassenden Natur und in ihrem Leben. Wie sonst wäre es möglich, dass Buddha vor ca. 2500 Jahren genau dieses als ein Leiden in seiner ersten und zweiten edlen Wahrheit verkündete.
Die im mystisch-religiösen Denken der Weltreligionen gesammelten Erfahrungen lehren uns zum Beispiel den stetigen Wandel der in unserem geistigen Selbst abgebildeten Welt. Das sogenannte „Beobachten“ und „Messen“ entspricht dort der Selbstbeobachtung und der Analyse der vom Selbst empfundenen Welt. Die rational-materialistische Denkweise beobachtet die Welt außerhalb unseres geistigen Selbst. Im mystisch-religiösen Denken durchleben wir die Welt innerhalb des geistigen Selbst. Hier sind wir mithilfe der Meditation, des Gebets oder anderer Methoden der Analyse unseres Selbst, im Bewusstsein unterwegs. Und wir stellen irgendwann fest, dass wir Erfahrungen erlangen, die zwar nicht unmittelbar einer rational-materialistischen Betrachtung zugänglich sind, aber trotzdem eine Wirklichkeit darzustellen scheinen. Dies sind Erkenntnisse über unserer inneren Wirklichkeit, wie sie in der fernöstlichen Mystik aber auch im mystischen Denken vieler Kulturregionen geglaubt werden. Es bleiben immer Unsicherheiten bezüglich dieser, in der Wanderung durch unser Selbst gewonnenen Erfahrungen. Jene Ungewissheiten empfinden bewusst oder unbewusst alle. Sie sind grundsätzlich nicht zu beseitigen, sind die Regel, die Normalität, da die Welt im stetigen Wandel ist, ja ihre Wirklichkeit über die ständigen Veränderungen definiert. Wir sind genötigt mit dem Ungewissen zu leben. Man fragt sich: „Woher kommen eigentlich diese leidigen Unsicherheiten. Warum leiden wir unter den Mangel an Verständnis für die ständig sich verändernde Wirklichkeit?“
Die Antwort ist einfach.
Wir klammern uns in sinnloser Weise an feste Bilder und Anschauungen, die sich aus der Beobachtung der uns er- und umfassenden Welt im geistigen Selbst herausbilden, erklären sie zu unseren Standpunkten. Wir sind sogar stolz auf diese festen Positionen, die unverrückbar, wenn möglich für alle Zeiten, feststehen sollen.
Wie bequem!
Viele Menschen glauben oder bemühen sich zu glauben, dass ihre Sicht auf die Welt, einmal gewonnen, tauglich für eine beständige Weltanschauung ist! Und doch sind es nur Illusionen, in denen sie gefangen sind, denn es kann prinzipiell keine unveränderte Weltsicht auf die Natur geben. Die physikalische Wirklichkeit außerhalb und innerhalb von uns ist eine fluktuierende Realität, lehrt uns die hinduistische Mythologie. Die sich ständig verändernde Welt, so wie unser Selbst sie uns vorgaukelt, ist aber nur ein Zerrbild, ist eine Illusion. Unsere Anschauungen haben alle den Charakter einer Fata Morgana und liefern mehr oder weniger stark empfundene Frustrationen über die Ungewissheiten im Leben, was uns leiden lässt.
Buddha erklärt in seiner „Zweiten edlen Wahrheit“ die Ursachen unserer Frustration und unseres Leidens. Wie können wir dieses von ihm benannte Leiden auflösen? Was für Weltsichten, welche Erfahrungen und Denkweisen helfen hier? Buddha lehrte in seiner „Ersten und zweiten edlen Wahrheit“ Art und Ursache unseres Leidens. Er verkündet in der „Dritten edlen Wahrheit“, dass das aus Frustration entstehendes Leiden beendet werden kann, und bietet in seiner „Vierten edlen Wahrheit“ einen achtfachen Weg der Selbstentwicklung an, um aus der frustrierenden Unsicherheit und dem Leiden an uns sowie an dieser Welt herauszukommen.
Der Buddhismus ermöglicht uns, auch heutzutage mit der wachsenden Verständnislosigkeit unseres Seins in dieser Welt, zurechtzukommen. Die buddhistische Mystik hat deshalb ausgesprochen psychotherapeutische Facetten. Das mystische Denken des Buddhismus kümmert sich, wie etwas später erläutert, weniger um ein naturphilosophisches Rüstzeug für das naturwissenschaftliche Erkenntnisstreben, sondern mehr um Wege zu sich selbst. Er erforscht die Erfahrungen, die wir während der Meditation erlangen. Er entspricht eher einer Nautik für das Beobachten unserer geistigen Existenz.
Nun sind wir bereits mitten drin in der Mystik, im mystisch-religiösen Denken, und manch einer wird feststellen, dass er oft unbewusst darin verweilt und spirituelle Wege geht.
Hier ist eine Warnung angebracht!
Denn einige Menschen gleiten hierbei in esoterische Vorstellungen ab, die kaum einen Bezug zu den modernen Erkenntnissen und Anschauungen der Wissenschaft als auch zur Mystik besitzen. Meist sind diese Reflexionen sehr simpel gestrickt, stützen sich auf ein Gewirr pseudowissenschaftlicher Behauptungen - und werden leider oft von Vernunft einfrierenden, naiven Fanatismus begleitet.
Andere Menschen finden auf ihren spirituellen Wegen zu Religionen. Dort stellen sie dann fest, dass die mystisch-religiös geprägten Denkweisen eher ein intuitives Wissen über alles Seiende gestattet. Unser Selbst erfährt geistige Abbilder der beobachteten Objekte im Sein. Diese geistigen Abbilder, getragen durch sich ständig wandelnde Verschaltungen in den neuronalen Netzwerken unseres Körpers, sind bisher weder quantitativ noch qualitativ fixierbar. (Es gibt keine einheitliche Verwendung des Begriffs „Geistiges“. Wir werden uns bei seinem Gebrauch, in unseren gewollt anschaulichen Darstellungen, auf Information und Informationsstrukturen beziehen.)
Diese geistigen Abbilder wurden, trotz der beeindruckenden Techniken in der Gehirnforschung, bisher weder detektiert noch decodiert. (Diese Techniken beinhalten beispielsweise das Elektroenzephalogramm (EEG), die Magnetresonanz- oder Kernspintomografie (MRT), die Magnetoenzephalographie (MEG) oder die Elektrocorticogramm-Technik (ECOG).)
Religionen, die alle ihre spezifischen Methoden der Zwiesprache mit der einen allmächtigen, göttlichen Wesenheit kennen und pflegen, nutzen die Meditation beziehungsweise das Gebet oder die Andacht, um sie zu erfahren – und auf den Weg dahin ihr Selbst zu erkennen. Ihr „Unterfangen“ ist die Innenschau und letztlich das Verhältnis ihres Selbst zur äußeren Welt. Aber, was „erkennt“ das sogenannte „Bewusstsein“, bzw. anders gesagt, das geistige Selbst, von der uns umgebenden materiellen und geistigen Welt?
Um hier Antworten zu finden, können schon mal mystische Denkansätze und religiöse Vorstellungen aufkommen.
Selbst in hohem Grade erfolgreiche Wissenschaftler, im strengen und folgerichtigen Denken geübt, spielen mit religiösen Begrifflichkeiten. Albert Einstein, der Schöpfer der Relativitätstheorie, kommentierte die objektiv zufälligen Erscheinungen und Verhaltensweisen elementarer Teilchen in der Mikrowelt, der sogenannten Quanten, mit einem „Gott würfelt nicht!“. In atomaren Größenordnungen wechseln Mikroteilchen (Quantenteilchen) ihre beobachtbaren Zustände nur nach Wahrscheinlichkeiten. Es ist unmöglich, eine „exakte“ Voraussage über ihre jeweiligen Zustände zu treffen. Dieses Verhalten sowie die gewaltige Erhabenheit des Universums provozierte ihn zu der Aussage: „Jedem tiefen Naturforscher muss eine Art religiösen Gefühls nahe liegen“. Damit kann ihm nicht gleich der Glaube an einem allmächtigen Gott und an mystische Denkweisen unterstellt werden. Andererseits war ihm ein platter Atheismus fremd. Er meinte: „Im unbegreiflichen Weltall offenbart sich eine grenzenlose überlegene Vernunft“. Und weiter erklärt er: „Er glaube an Spinozas Gott, der sich in der gesetzlichen Harmonie des Seienden offenbart“. Spinoza [15] formulierte seine Metaphysik in einem strengen logischen, fast mathematisch anmutenden System von Definitionen, grundsätzlichen Gewissheiten, Axiomen und Sätzen. Nach ihm ist die Wesenheit „Gott“ eine ewige, nur durch sich selbst definierte, aber konstante Identität. Eine göttliche Wesenheit, die sich in der „gesetzlichen Harmonie des Seienden“ offenbart, kommt der in der fernöstlichen Mystik geglaubten „letzten Wirklichkeit“, der „Seele aller Dinge“, der Weltseele „Brahman“, der „letzten Wahrheit“ oder dem „Tao“ nahe.
Andererseits sind viele Naturwissenschaftler bekennende Atheisten. Zum Beispiel Stephen Hawking, einer der bekanntesten zeitgenössischen Physiker, behauptete von sich Atheist zu sein. Zwar postulierte er nicht, es gebe keinen Gott, aber er sagte einmal, dass sich der Kosmos in seinem Denkansatz für das Sein, also für alles, was ist, aus dem Nichts, dem Nichtsein, erzeugen kann. Er war der Ansicht, dass in seinem Konzept für den Kosmos kein Schöpfergott einen Platz findet. Ein mystisch-religiöser Ansatz scheint, Hawking zufolge, nicht nötig zu sein, um den sich selbst aus dem Nichts erschaffenden Kosmos, mit seiner ungeheuren veränderlichen Vielfalt der Welten, zu erklären. Diesem Ansatz liegt, meines Erachtens, tatsächlich ein Erzeugungsprozess unseres Seins zugrunde, der wahrhaftig im mystisch-religiösen Denken keinen Platz zu finden scheint.
Es ist bisher nie ein Phänomen beobachtet worden, das die Annahme eines sich selbst aus dem Nichts erschaffenden Objekts im Sein rechtfertigt. Diese Erfahrung unterstreicht im Übrigen uraltes mystisches Wissen. Die hinduistische Gottheit Krishna offenbarte beispielsweise vor ca. 4000 Jahren: „Es gibt kein Werden aus dem Nichts, noch wird zu Nichts das Seiende!“ (Bhagavad Gita, [16]. Zweiter Gesang, unter „Der Erhabene sprach“). Auch in den abrahamitischen Weltreligionen steht am „Anfang“ nicht ein Nichts, sondern die allmächtige, göttliche Wesenheit, die im Übrigen, warum nicht, als eine jede mögliche Information enthaltene, nicht personalisierbare, von uns Individuen nicht fassbare Informationsstruktur begriffen werden könnte. Und diese repräsentierte das gesamte Sein. Die Erzeugung des Seins aus dem Nichts findet keinen Platz im mystisch-religiösen Weltverständnis.
Viele Physiker, die sich mit fundamentalen Fragen herumschlagen, erfahren immer wieder die Grenzen ihres rational-materialistisch angelegten, naturwissenschaftlichen Weltbildes. Stellen sie sich beispielsweise vor, sie stehen an einem Ort und wollen nach Hause kommen. Sie befinden sich zum Beispiel vor einem Ausgang, der zum Bus, zur Stadtbahn, zur Straßenbahn oder zu einem Fußweg verzweigt und sie könnten alle vier Möglichkeiten für den Nachhauseweg nutzen. In der uns real erscheinenden „klassischen“ Welt, mit ihren „normalen“ Entfernungen, können wir uns entscheiden, welche Wege wir nehmen. Wenn wir den Fußweg wählen, so erkennen wir unseren Schritt vom Ausgang auf den Fußweg. Ja, der zurückgelegter Weg nach Hause ist wie eine Linie, ein Pfad, beobachtbar und vorstellbar. Die Natur lässt uns scheinbar eine „freie“ Wahl für den Weg durch die Welt. Wäre unsere Welt aber sehr, sehr klein, eine Mikrowelt, mit Ausdehnungen geringer als 0,000 000 001 cm, so würden sie als „Mikrolebensform“ plötzlich voller Entsetzen feststellen, dass sie nur wahrscheinlich diesen oder jenen Weg gehen, - um ungefähr nach Hause zu kommen. Verrückt? Und wo ist ungefähr ihr „zu Hause“? Sie stellen fest, dass sie nach ihren ersten zaghaften Schritten heimwärts zuerst mit dem Bus, dann weiter mit der Stadtbahn, anschießend mit der Straßenbahn gefahren sind und sich jetzt auf dem Fußweg wiederfinden. Unser zurückgelegter Schritt würde im Nebelhaften verschwinden. Ein nächster Schritt lässt uns plötzlich im Bus auftauchen, und der Nächste in der Stadtbahn, und der Nächste wieder auf dem Fußweg. Die Summe unserer Schritte würde sich nicht zu einem beobachtbaren Pfad oder Lebens-Linie zusammenfügen. Alle Schritte verschwimmen im Nebelhaften. Das Einzige, was wir beobachten, ist eine wahrscheinliche Schrittfolge. Die Mikrowelt erschiene uns wie im Nebel. Nie wären wir sicher, wohin uns der nächste Schritt führt. Und es wird undurchsichtiger, wenn wir erkennen, dass wir trotzdem in die Nähe unseres „zu Hause“ ankommen. Wir erreichen wenigstens annähernd das Ziel.
Die Natur im sehr, sehr Kleinen lässt sich, wie in diesem vereinfachenden, bildhaften Metapher dargestellt, nicht mit unseren Erfahrungen in der sogenannten klassischen, normal empfundenen Welt beschreiben oder denken.
An den Grenzen der Erkenntnis und des Denkbaren stoßen dann oft genug einige Physiker (bzw. Naturwissenschaftler) auf religiöse bzw. mystische Denkweisen - ohne dass sie dabei ihre notwendige Objektivität und strenge Denkart verlieren. Denn die Naturwissenschaft spürt die Mystik solange nicht, bis sie an die Grenzen ihrer Methoden, Beobachtungen und Theorien stößt.
Keine Wissenschaft kann die Existenz Gottes, bzw. einer göttlichen Wesenheit, beweisen - und eine Nichtexistenz auch nicht.