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2.3.1 Die geistige, göttliche Wesenheit
ОглавлениеWir werden zeigen, dass die mystischen Denkweisen der Weltreligionen nicht beweisbare, als wahr geglaubte Fundamentalannahmen beinhalten. Aus denen erhebt sich ein Überbau an religiösen Erfahrungen und Glaubenssätzen. Die Mystik der Weltreligionen sucht rational erfahrbares Wissen, welches möglichst aus einer als göttlich verehrten Wirklichkeit auftaucht. Es ist viel Abstraktionswillen nötig, wenn man die als wahr geglaubten Annahmen zur einzig allmächtigen, göttlichen Wirklichkeit, die sich in den mystisch-religiösen Denkweisen entwickelten, auf ein religiöses Axiom fokussieren möchte.
(Da keine einheitliche Definition zum Begriff „Mystik“ existiert, wird er hier nur im Zusammenhang mit religiösen und spirituellen Erfahrungen benutzt, wie sie in den Weltreligionen beschrieben werden. Unabhängig von den detaillierten Klassifizierungen wollen wir hier und im Folgenden nur die Weltreligionen betrachten, die heute noch existieren und die die moralischen Normativen der großen, vorherrschenden Kulturregionen der Menschheit dominieren.)
Wir postulieren als einen grundsätzlichen Glaubenssatz, das, als wahr geglaubte und nicht beweisbare I. religiöse Axiom:
I. Es existiert eine geistige Wesenheit, die dem emergenten System sämtlicher Zustandsalternativen jedes Seienden gleich ist!
Diese wird als göttliche Wesenheit verehrt!
Aus dem I. religiösen Axiom lassen sich grundlegende Sätze schlussfolgern. Sie werden im Allgemeinen als grundsätzliche Glaubenssätze im mystisch-religiösen Denken aller Weltreligionen angesehen, trotzdem sie gefolgerte Sätze sind. Wir wollen beispielhaft einige dieser Sätze folgern.
1. Die göttliche Wesenheit ist einzig.
Wäre SIE nicht einzig, gäbe es wenigstens eine Zustandsalternative von Seiendem „außerhalb“ von IHR und SIE bildet nicht jede Zustandsalternative alles Seienden ab – entgegen der Annahme des Axioms.
2. Die göttliche Wesenheit ist unzerstörbar.
Wäre SIE zerstörbar, so könnte SIE in eine, nicht in IHR abbildbare Zustandsalternative eines Seienden übergehen, – was laut I. religiösen Axiom ausgeschlossen ist, da SIE jede enthält und einzig ist.
3. Die göttliche Wesenheit besitzt keine relevante Information. SIE ist „allwissend“.
Da SIE einzig ist, kein „Anderes außerhalb von IHR“ existiert, ist ihre Gesamtheit irrelevant. (Jedes Seiende im Sein erscheint dagegen Seiendem in Zustandsalternativen, ist informativ vernetzt mit Seiendem, ist Beobachter und Beobachtetes, besitzt für Anderes relevante Information.)
4. Die Informationsmenge der göttlichen Wesenheit ist unbeschränkt, das heißt, sie ist allerfassend.
Korollar: Die göttliche Wesenheit besitzt keine, die Anzahl der Zustandsalternativen alles Seienden begrenzende Schranke. (Die Informationsmenge eines Objekts wird mit der Anzahl der Zustandsalternativen seiner Erscheinung angegeben (Claude Shannon, 1984)).
Wäre IHRE Informationsmenge beschränkt, so müsste SIE die, im Wandel des Seienden gewonnene, relevante Information (einmalig reicht bereits) verlieren. (Analog der Unbestimmtheit in der Mikrowelt.) SIE würde somit nicht jede Zustandsalternative alles Seienden enthalten – entgegen der Annahme des Axioms.
Die, für uns individuelle Wesen beobachtbaren Objekte im Sein besitzen endliche Informationsmengen zu ihrem Zustand. Sie sind vergesslich. Sie vergessen, mit den im Wandel entstehenden neuen relevanten Zustandsinformationen, ihre alten. Sie sind Gesetzen unterworfen, die sich auf objektiv zufällige Wirkungsprinzipien gründen, wie beispielsweise beim ursachenlosen, radioaktiven Zerfall eines Atomkerns, - oder die eigentlich höchst unwahrscheinliche Herausbildung unseres Universums, usw..
5. Die göttliche Wesenheit ist für IHRE Informationsuntermengen, das heißt, für jedwede Untermenge von Objekten im Sein, nicht personalisierbar.
Wäre die emergente, jede Zustandsalternative alles Seienden darstellende, geistige Wesenheit für diese Untermengen personalisierbar, so würde mindestens eins ihrer Elemente (beispielsweise das geistige Selbst eines Menschen) SIE als „DU“, als Gesamtheit jeder Zustandsalternative des Seienden, erkennen und wäre somit selbst allerfassend. SIE wäre nicht einzig allerfassend – entgegen der Annahme des Axioms und Satz 1.
6. Die göttliche Wesenheit ist „personal“.
Diese emergente, jede Zustandsalternative alles Seienden darstellende, geistige Wesenheit „erkennt“ ihre individuellen Elemente, beispielsweise das geistigen Selbst eines Menschen, da sie die Gesamtheit der Information über jede Zustandsalternative des Seienden ist. In ihrem Informationsnetzwerk sind, mit jeglicher Zustandsalternative, sämtliche Dinge, namentlich ein „ICH-Bewusst-Sein“, erkennbar. SIE ist für Seiendes „ansprechbar“ aber nicht erkennbar, da SIE Seiendes erkennt, ist sie personal.
Diese emergente, jede Zustandsalternative alles Seienden darstellende, geistige Wesenheit wirkt nicht in Übereinstimmung mit individuellen, ethischen Wertvorstellungen. Ihr Wirken ist systemrelevant und für uns, im Rahmen unserer moralischen Normativen, prinzipiell nicht verstehbar. In welchem Sinne ist SIE eine „gute“ Wesenheit? Hartmann formulierte in seinem logisch-mathematisch, deduktiven Formalkonzept der Werte: Gut ist, was dem Konzept gehorcht [45]. Was ist nun das Konzept der, als göttlich verehrten Wesenheit? Ist das göttliche Konzept die „Sinnhaftigkeit des Seins“, der Seinsinn, die Unzerstörbarkeit des Wandels, das heißt, die Erhaltung aller Zustandsalternativen in den relevanten Informationen für das Seiende, für die Objekte im Sein?
7. Die göttliche Wesenheit ist allmächtig.
Korollar: Die göttliche Wesenheit ist keinem Gesetz unterworfen.
Denn müsste sie sich Gesetzen fügen, die ja für sie durch irgendetwas Äußeres „Unbedingtheit“ besäßen, dann wäre sie fremdbestimmt und damit nicht einzig, – was aber aus den Annahmen im I. Axiom bzw. aus Satz 1 folgt. Ein Gesetz sagt ja: Immer, wenn Irgendetwas gegen den Widerstand eines Zustands wirkt, ereignet sich ein Zustandswandel. Aber SIE ist einmalig, SIE ist einzig, ist in ihrer einzig allerfassenden Gesamtheit keinem Wandel unterworfen.
Da die emergente, jede Zustandsalternative alles Seienden darstellende, geistige Wesenheit allmächtig ist, erzeugt SIE die Wirkungsprinzipien der Dinge im Sein.
Uns Individuen erscheinen ihre Wirkungsprinzipien, die sich nicht auf andere Gesetzmäßigkeiten zurückführen lassen und für uns als Axiome erfahrbar sind, wie gesetzt. Sie stellen sich für uns als „ursachenlos“, als objektiv zufällig, dar.
Objektiv zufällige, scheinbar ursachenlose Wirkungen? Klingt das nicht irgendwie absurd? Alles müsste doch einen Grund haben! Diese Denkweise ist durchaus verständlich. Sie entspricht unserer klassischen Alltagserfahrung. Werde ich gestoßen, so erleide ich gegen meinen mehr oder weniger massiven Widerstand beispielsweise einen Ortswechsel. Dieser erwirkte Ortswechsel wird offensichtlich vom Stoß verursacht. Schwer vorstellbar, so gar nicht unserer klassischen Erfahrung entsprechend, wäre es, wenn ich einen plötzlichen Ortswechsel erleide, ohne das irgendetwas dies hervorgerufen hat. Er würde spontan, objektiv zufällig, geschehen. Niemand, denke ich, hat das bisher erlebt.
In der Welt der elementaren Teilchen, in der Quantentheorie ist jedoch ein ursachenloses Verhalten bzw. der objektive Zufall durchaus geläufig. Wir wissen wie schnell eine bestimmte Menge radioaktives Material, in welcher Zeit in andere Elemente zerfällt. Wir können nicht eindeutig voraussagen, wann ein einzelnes, bestimmtes Atom dieser Menge zerfällt. Es zerfällt scheinbar objektiv zufällig.
Selbstverständlich soll, mit der grundsätzlichen Annahme einer emergenten, jede Zustandsalternative des Seienden darstellend, geistigen Wesenheit und der folgenden Schlusskette nicht der Anspruch einhergehen, eine „wissenschaftliche“ Axiomatik zu versuchen und damit zum Beispiel die in der Bibel (1. Buch Moses, Kap. 1) geschilderte Rolle Gottes in der Genesis zu erhellen. Es sollte nur demonstriert werden, dass es faszinierend und sinnvoll ist, eine Interpretation der heiligen Texte der Weltreligionen auf der Grundlage unseres heutigen Wissens zu versuchen.
Der Denkansatz einer, die Struktur des materiellen und informellen Seins fassenden Wesenheit „Gott als Sein an sich“ (Pantheismus) suggeriert aber konsequenterweise eine „Seingottheit“, die kaum als personalisierbar und persönlich ansprechbar gedacht werden kann. Diese Sichtweise entspricht nicht den mystischen Erfahrungen aus Jahrtausenden.
Die Jahrtausende alte mystische Erfahrung von unzähligen Menschen führte zum Glauben an eine Wesenheit „Gott“, die auf uns wirkt, mit der eine wie auch immer geartete Kommunikation möglich ist und die nicht als Schöpfergott über oder neben ihrer Schöpfung steht (weder konsequenter Pantheismus oder Theismus). Da SIE aber die Gesamtheit der Information alles Seienden repräsentiert, ist in ihrem Informationsnetzwerk mit jeder Zustandsalternative genauso jegliches Individuelle, namentlich ein „ICH Bewusst Sein“, erkennbar. SIE ist personal „ansprechbar“, da SIE personal erkennt. Die mystisch-religiösen Erfahrungen der Masse der Gläubigen in den Weltreligionen bestätigen den, aus dem als wahr und nicht beweisbare angenommene I. religiöse Axiom folgenden „Satz“, dass die emergente, jede Zustandsalternative alles Seienden darstellende, geistige Wesenheit „Gott“, „Weltseele“ oder „Nicht-Nennbar“, nicht personalisierbar ist, aber trotzdem in personaler Wechselwirkung mit Lebensformen tritt.
Wie lassen sich diese gegensätzlichen Eigenschaften vereinen und verstehen?
Um wenigstens eine schlichte Vorstellung zu bekommen, ist es hilfreich, die Beziehungen der Mitglieder einer Schwarmgemeinschaft zum Schwarm zu betrachten. Beispielsweise werden Angehörige einer Kulturgemeinschaft nie in der Lage sein, mit der Gesamtheit des „Kulturschwarms“ als Ganzes, wie mit einer Person zu kommunizieren. Er empfindet die Kulturgemeinschaft als nicht personalisierbar – aber er kann mit ihren geistigen Aspekten in Kontakt treten. Er kann mitgestalten und wird so indirekt, durch seine personale Kommunikation, vom Kulturschwarm beeinflusst – und kann sogar, je nach kommunikativer Fähigkeit und intellektuellen Zustand, Aspekte des Schwarmverhaltens persönlich beeinflussen. Trotzdem werden die Verhaltensweisen und Eigenschaften des Kulturschwarms niemals aus den geistigen Eigenschaften der einzelnen Mitglieder aufsummierbar sein, sondern neue eigene Wirkungen zeigen! (Gewiss werden sich immer Mitglieder als die „Wesentlichen“ der Kulturgemeinschaften fühlen.) Die Schwarmgemeinschaft ist ein sogenannter emergenter Schwarm.
Diese Veranschaulichung für die personal wirkende aber nicht personalisierbare Wesenheit „Gott“ hat ihre Grenzen. Eine Kulturgemeinschaft kann von „außerhalb“ durchaus personalisierbar, als sich bewegende Ganzheit wirkend, betrachtet werden - nur eben nicht von innen, von den Mitgliedern selbst. Wir sprechen von der antiken, menschlichen Gemeinschaft der ägyptischen Hochkultur, oder von der Induskultur, oder der antiken griechischen Kulturgemeinschaft und ihrem Handeln, als Ganzheit.
Ein einfacheres Beispiel ist ein Sardinenschwarm. Die einzelne Sardine kommuniziert mit ihren Nachbarn beispielsweise über eine, durch ihre Bewegung induzierte Druckveränderung im Wasser. Diese benachbarten Sardinen reagieren durch Eigenbewegung und geben modifizierte Drucksignale weiter und so fort. Letztendlich reagiert der Schwarm als Einheit auf eine Art und Weise, die die einzelne Sardine nicht erfassen kann. Der Sardinenschwarm ist für die Schwarmmitglieder kein personalisierbarer Kommunikationspartner - trotz ihres individuellen Kommunikationsverhaltens. Sie „sieht“ nicht einmal das Wirken, das Bewegungsverhalten, des Schwarms – registriert nicht seine, für sie nicht personalisierbare Ganzheit.
Einem intuitiven Verständnis der als göttlich verehrten, emergenten, jede Zustandsalternative alles Seienden darstellenden, geistigen Wesenheit nähern wir uns am ehesten an, indem wir SIE als geistigen „Seinsschwarm“ denken. Was kann daran als göttlich empfunden werden? Man könnte ja glauben, dass die Vorstellung von einer, die Ganzheit des Seins erfassenden Wesenheit „Gott“ einer naturwissenschaftlich-mathematischen Untersuchung hart. Diese Vermutung ist mehr als voreilig. Denn die gegenwärtigen Erkenntnisse und Beobachtungen der materiellen und informativen Gesamtheiten im Sein weisen auf exorbitante Verständnishürden hin. Zum einen suggerieren die uns zugänglichen Bereiche des Universums Kosmosmodelle, die zwar gute Antworten auf Detailfragen besitzen aber für die Gesamtheit des Seienden, vor allem in Verbindung mit der Mikrowelt der Quanten, keine haben. Zum anderen verstehen wir nicht einmal im Ansatz die bewusstseinsbildenden Informationsstrukturen der neuronalen Netzcluster in unserem Hirn. Wie sollten die Naturwissenschaften dann Schwarmbewusstsein formulieren, indem wir selbst nur Elemente sind. Unsere Erfahrungen und Vorstellungen über eine emergente, jede Zustandsalternative alles Seienden darstellenden, geistigen Wesenheit werden wir somit nach wie vor im mystisch-religiösen Denken einbetten müssen und sie, je persönlicher Prägung, als göttliche Wirklichkeit betrachten.
Da die geistige Wesenheit „Gott“ als allmächtig geglaubt wird, ist sie nicht an Naturgesetze gebunden und ist für alle Dinge im Sein objektiv zufällig wirkend. Diese zum Beispiel dem Physiker durchaus nicht fremde Erfahrung einer „objektiven Zufälligkeit“ - man denke an den Zerfall eines einzelnen Atoms einer radioaktiven Substanz - werden wir im Abschnitt „Hinduismus“ als das rhythmische, dynamische Spiel Gottes (Lila) wieder erkennen. Diese in der mystischen Denkweise geglaubte objektive Zufälligkeit ist mit der Unbestimmtheit in der Quantendynamik vergleichbar, die sich erst bei der Betrachtung großer Ensembles von Quanten (Mikroteilchen) zu der uns so vertrauten Ursache - Wirkungsgesetzlichkeit zusammenfügt.
Die in der mystischen Denkweise geglaubte objektive Zufälligkeit folgt aus dem Glaubenssatz „der Allmacht“, der wiederum aus dem I. religiösen Axiom ableitbar ist. Der, für jegliches Ding im Sein, existenzstiftende Wandel ist „Wirklichkeit“ erwirkend.
Da jede Wirkung eine Wechselwirkung ist, die mit einem Informationsaustausch regierenden Algorithmus einhergeht, bildet dieser den Wandel ab (John Wheeler, ein herausragender Gravitationsphysiker, wertete die grundlegende Bedeutung der Information für das Wirken im Mikrokosmos mit den Worten „It from Bit“ (Alles kommt von der Information.).)
Da die allerfassende, allmächtige, geistige Wesenheit „Gott“ sich in der Gesamtheit der sich ständig wandelnden Dinge im Sein manifestiert, ist SIE „Sein sichernd“, unzerstörbar, ohne Zeit, ewig, Seinsinn stiftend. Sie offenbart sich in einer Seinsethik „Wandel“ bzw. „Lebendig“. Es wird geglaubt, dass eine, alles Seiende darstellende, geistige Wesenheit existiert, die sich in der Dynamik, sämtlicher Daseinsformen manifestiert, deren ethische Essenz Seinsinn stiftend ist und die, für individuelle Lebensformen wie uns zum Beispiel, nur aspekthaft erfahrbar ist.
In einigen mystisch–religiösen Denkweisen wird die fundamentale Annahme einer Dreieinigkeit von grundsätzlichen Wirkmanifestationen der göttlichen Wesenheit gemacht. Im Hinduismus wird sie Trimurti genannt und beschreibt die drei, kosmischen Operatoren „Erzeugung, Erhaltung und Vernichtung“ bzw. „Schöpfung, Bewahrung und Zerstörung“ aller Dinge. Das bedeutet, die göttliche Wesenheit manifestiert sich im Wandel.
Das hört sich banal an. Logischerweise erfolgt ein Wandel der Dinge durch die drei Operatoren „Erzeugen, Erhalten, Vernichten“. Dies ist aber nicht trivial, denn dem Wandel wird, wie aus dem aus dem I. religiösen Axiom ableitbaren Glaubenssatz „der Allmacht“ folgt, eine Unbedingtheit zugeordnet. Die kontinuierlichen Umformungen alles Seienden werden durch die drei fundamentalen, kosmischen Operatoren erzwungen. Die mystischen Weltbilder einiger Weltreligionen gehen im Wesentlichen und in unterschiedlicher Ausprägung von diesem Glaubenssatz aus - trotzdem sich jeweils ungleichartige Darstellungen und Begrifflichkeiten eingeschliffen haben. Das Erstaunliche an jenen, den Wandel alles Seienden verdeutlichenden, religiösen Satz ist nicht die scheinbare Selbstverständlichkeit, sondern, dass er vor ca. 5000 Jahren auftauchte. In den „Heiligen“ Schriften, den „Veden“ wurde dieses mystische Wissen um die drei fundamentalen Wirkmanifestationen „Bewahrergott Vishnu, Schöpfergott Brahma und Zerstörergott Shiva“ der Weltseele „Brahman“-– einigen Weisen dieser vor-antiken Zeit offenbar. (Die „Veden“ sind, erst 1500 – 500 v. Chr. textlich erfasste, sehr alte, mündliche Überlieferungen im Hinduismus. Sie sind in ihrer Bedeutung vergleichbar mit der Bibel der abrahamitischen Religionen und wurden „Vedischen Sehern“ offenbart.)
Wir könnten unsere Verwunderung über die Universalität der Annahme einer Dynamik aller Dinge im Sein mit den Worten abtun: „Diese Gelehrten haben die Natur eben scharf beobachtet und abstrahierend formuliert“. Aber gibt das bisschen Beobachtungsmaterial eines oder einiger Menschenleben diese universellen Erkenntnisse her? Ein Mensch jener Zeit, nur mit seinen vergänglichen Sinnen ausgestattet, ist nicht in der Lage einen grundsätzlichen Wandel aller Dinge in seiner Welt wirklich zu beobachten! Wie viele Menschenleben sind beispielsweise nötig, um das Verschwinden eines Gebirges festzustellen – denn auch dieses unterliegt dem Wandel?
Die fundamentale Annahme einer geistigen Wesenheit, die sich in der Veränderlichkeit aller Dinge manifestiert, war gewiss nicht trivial. Im Gegenteil! War doch für den Menschen dieser Zeit eine eher zeitlos erscheinende Unveränderlichkeit vieler Naturerscheinungen erfahrbar. Wer hat nicht schon einmal, neben den Vergänglichkeiten im Leben, die majestätische Ruhe, beispielsweise einer Berglandschaft, bewundert?
Schon vor Tausenden von Jahren empfanden die Gelehrten der Induskultur (2800-1800 v. Chr.) den ewigen Wandel alles Seienden. Sie gingen davon aus, dass dieses mystische Wissen von der göttlichen Wesenheit den „Vedischen Sehern“ oder Propheten offenbart wurde bzw. sie es im Sinne von Erfahrungen oder Beobachtungen selbst erkannten. Dieses „vedische“ Wissen wuchs dann über die Zeit zu Weltbildern zusammen, die heute die Denkweise in der fernöstlichen Mystik begründen.
Im mystisch-religiösen Denken einiger Weltreligionen wird an eine dreigeteilte Wirkmanifestation der göttlichen Wesenheit, an einen sogenannten Beziehungsgott, geglaubt. Im Islam wird die Vorstellung von einer dreigeteilten Manifestation Gottes scharf bekämpft und jene, die davon überzeugt sind als „Ungläubige“, die den wahren Glauben verfälschen, betrachtet. Gott ist einzig und nicht aufteilbar in göttliche Ausformungen. Das Christentum und die fernöstliche Mystik sehen hier keinen Widerspruch, da die Dreiteilung eine Dreieinigkeit, eine Dreifaltigkeit, von fundamentalen Wirkungen Gottes ist. Im Islam wird, im allgemeinen Verständnis, dies als unvereinbar mit dem Monotheismus, mit dem Glauben an den einzigen Gott, gesehen. Das Judentum lehnt die beispielsweise Trinität der göttlichen Wesenheit ebenfalls ab.
In der Mystik des Christentums betrachtet man die einzig göttliche Wesenheit in ihrer dreifaltigen Wirkmanifestation „Vater, Sohn und Heiliger Geist“, in der Form eines Beziehungsgotts. Der sich über diese sogenannte Trinität manifestierende Gott, ist hier als das Ur-Prinzip des Seins zu sehen – im Vergleich mit der fernöstlichen Mystik aber mit einer anderen Spezifizierung der „göttlichen“ Fundamentalwirkung. Natürlich wurde und wird über die Dreifaltigkeit der göttlichen Wesenheit im Kreise von Philosophen, Theologen und Religionswissenschaften gestritten und kluge Erklärungen gesucht und gegeben.
Das mystisch-religiöse Denken geht von der Existenz einer geistigen, göttlichen Wesenheit aus, die nicht personalisiert werden kann, aber deren lebenspendende und erhaltende ethische Essenz, deren Seinsethik, für alle Daseinsformen in entsprechenden Teilaspekten personal erfahrbar ist. Unser personalisierbares Selbst ist prinzipiell nicht in der Lage, die nicht personalisierbare, ethische Wirklichkeit der göttlichen Wesenheit in seiner Ganzheit zu erfassen, sondern wird sich im Erkenntnisstreben ihr nur annähern - um irgendwann oder nie in ihrer Seinsethik aufzugehen. Aus der Nicht- Personalisierbarkeit folgt, dass die göttliche Wesenheit nur in der Mehrzahl gesehen werden darf. (In der Bibel taucht beispielsweise der Gottesname Elohim aus, der auch im Plural interpretiert wird und unter anderem von frühen christlichen Exegeten als ein Hinweis auf die Dreieinigkeit „Vater, Sohn und Heiliger Geist“ gesehen wird.) Das individuelle Selbst ist nur eine Einzelheit, ein Teil, ein Element eines emergenten göttlichen Seins. Aus unserer individuellen Sicht- und Denkweise ist jedes uns beinhaltende emergente System, wie eine Gemeinschaft, von sich sogar widersprechenden Wirkeigenschaften, zu sehen – so als würde nicht eine Einzelheit, sondern eine Vielheit reagieren.
Es gibt viele Beispiele dafür, dass „ICH-Bewusstsein“ tragende Individuen, die Teil eines emergenten Schwarms sind, das Wirken ihrer „Schwarmintelligenz“ nicht verstehen, - trotzdem sie als „Wissens-Denk-Kommunikationspunkt“ integraler Anteil des Netzwerks sind, das die Schwarmintelligenz bildet. Schauen wir uns nur die „Verhaltensmuster“ von Kulturgemeinschaften an, die, in der Fühl-, Denk- und Handlungswelt von einzelnen Menschen, unverständlich sind oder von ihnen erst nach gehörigen Abstraktionsanstrengungen nachempfindbar werden.
Die außerordentlichen Möglichkeiten eines „intelligenten“, emergenten Schwarms findet man überall in den höher organisierten Lebensformen. Insbesondere fasziniert die ungeheure Effizienz des „neuronalen Netzwerks“, des Neuronenschwarms, in unserem Gehirn. Dieser Neuronenschwarm entwickelte ein gefühltes ICH, ist personalisierbar. Er besitzt in der Hirnrinde (ohne Kleinhirn) zwischen 19 - 23 Milliarden Nervenzellen (Neuronen) und bis zu 200 000 Kontaktstellen (Synapsen) pro Nervenzelle zu anderen Neuronen im Hirn. Was für eine gewaltige Zahl von verschiedenen Vernetzungsmöglichkeiten bzw. mögliche Netztopologien sind hier denkbar – die auf eine zur Zeit noch wenig verstandene Weise den Wissens- und Denkvorgang ermöglichen. Um eine Ahnung von diesem Vernetzungspotenzial zu bekommen, betrachten wir eine sehr bescheidene Berechnung im Rahmen der Kombinatorik. Unterstellen wir die extreme Einschränkung, dass jede Kontaktstelle (Synapse) an den Neuronen mit beliebigen Synapse anderer Neuronen kommunizieren kann (auch mittels „Durchleitung“ von Signalen durch eine Nervenzelle) und zählen wir nur die „Eins zu Eins“ Verknüpfungen (Vernetzung 2. Ordnung) zwischen den Synapsen der verschiedenen Neuronen und werten wir nur die Kommunikation in einer Richtung, so liefert eine grobe, kombinatorische Überlegungen (Anzahl der Kombinationen 2. Ordnung von 2 * 1015 unterschiedliche Verknüpfungen ohne Berücksichtigung der Anordnung) mindestens 1030 mögliche aktive Verbindungen zwischen den Nervenzellen unseres Hirns (ohne Kleinhirn, es wurde im Mittel 20 Milliarden Neuronen und 100 tausend Synapsen pro Neuron angenommen). Das bedeutet, dass diese Netztopologie wenigstens tausend Milliarden Milliarden Milliarden Zweierverknüpfungen enthält (eine 1 gefolgt von 30 Nullen). Dies ist nur ein einfaches Rechenbeispiel, das das Potenzial des neuronalen Netzwerks bzw. des Neuronenschwarms in unserem Hirn erahnen lässt – und eine Untertreibung ist, da natürlich Verknüpfungen höherer als 2. Ordnung existieren. Diese aus Kombinationen aufgebauten neuronalen „Schaltkreise“ können aber, wie entsprechende Fachwissenschaftler annehmen, eher nicht direkt als Speicherzustände für Wissen betrachtet werden. Modernere Forschungen legen nahe, dass nicht der reine Anregungszustand eines Neurons oder einfacher „Schaltkreis“ für das Speichern von Information verantwortlich zu sein scheint, sondern eher Änderungsvorgänge und Wechselvorgänge der „Schaltkreise“, die mehr dem Denkprozess zugeordnet werden müssten; somit wäre Denken und Wissen als etwas Zusammenhängendes zu betrachten – was wiederum eine riesige Potenzialsteigerung des neuronalen Netzwerks zur Folge haben sollte.
Was für gigantische, geistige Möglichkeiten des ICH fühlenden Bewusstseins, des personalisierbaren, geistigen Selbst, lässt sich hier erahnen. Einstein nahm auf dieses Potenzial Bezug, indem er in etwa formulierte, dass das Wunder nicht die grenzenlose Vielfalt des Kosmos sei, sondern die Gabe sie in unserem Bewusstsein abzubilden. (Natürlich auf abstrahierende, das Wesentliche erfassende Weise, sei hier hinzugefügt.)
Die Fähigkeiten und das geistige Potenzial des Ichbewusstseins sind, wie wir sahen, gigantisch - und im Prinzip, nach wie vor weitestgehend unverstanden. Man hat zwar Vorstellungen von den, die geistigen Prozesse tragenden neuronalen Netzwerken in unserem Hirn, aber sie steht vor der riesigen Herausforderung, die geistigen Inhalte, die komplexen Informationsstrukturen und ihren Wandel, mit der sich selbst organisierenden „Hardware“ in unserem Gehirn zusammen zu führen. Schwieriger ist es, die emergente, jede Zustandsalternative alles Seienden darstellende, geistigen Wesenheit „Gott“ im Rahmen unserer rationalen, naturwissenschaftlichen Denkweise zu interpretieren. Versuche, auf eine möglichst rationale Weise, eine genäherte-Vorstellung von IHR zu bekommen, existieren durchaus so einige. Abgesehen von esoterischen, die auf der Basis von nicht rational begründbaren Behauptungen nur Glaubenssätze abverlangen, gibt es intelligente Versuche, rationale Vorstellungen von der „göttlichen“ Wesenheit zu formulieren. Die, meiner Meinung, ambitionierteste Vorgehensweise stammt von dem US-amerikanischen Physiker Frank J. Tipler [18]. In seinem kosmologischen „Gott“ - Modell interpretiert er die geistige Wesenheit „Gott“ im Grundsatz als die Gesamtheit aller möglichen, sich wandelnden Informationsstrukturen des Kosmos. Die Summe der Informationsinhalte des Kosmos werden getragen durch seine materielle Ganzheit. Die Dualität der nicht vergleichbaren, sich gegenseitig ausschließenden aber zusammengehörenden Seinsformen „Information und Materie“ bilden hier den Kosmos. Die Informationsverarbeitung, wird in diesem Modelldenken durch die materiellen Prozesse im kosmischen „Hirn“, im kosmischen Netzwerk, getragen. Er setzt voraus, dass jene „quasi neuronale“ Vernetzung ab einem sogenannten Omegapunkt einsetzt, das heißt, ab dem Zeitpunkt, an dem die Information übertragenden, sich mit Lichtgeschwindigkeit ausbreitenden Felder (z. B. Licht bzw. elektromagnetische Felder) jeden Punkt im Kosmos erreichen. Dies ist aber nur in einigen kosmologischen Modellen möglich, - die wahrscheinlich nicht in unserer, erfahrbaren Wirklichkeit existieren. Sein Modellkosmos wird im Verlauf der kosmischen Entwicklung von intelligenten Lebensformen notwendig geflutet und zur Hardware für einen informationsverarbeitenden Algorithmus. Dieser Kosmos emuliert jede mögliche Daseinsalternative individueller Lebensformen und lässt sie zur Wirklichkeit werden. Da wer auch immer von uns eine der möglichen Daseinsalternativen repräsentiert, wird jeder Beliebige und jegliches um uns Gewesene wiedergeboren – ist quasi „unsterblich“. Natürlich ist dieser ambitionierte Versuch der Modellierung einer jede Zustandsalternative alles Seienden darstellenden Wesenheit „Gott“, die sich im ewigen Wandel der Daseinsformen manifestiert, deren ethische Essenz Seinsinn stiftend ist und die für individuelle Lebensformen, wie uns zum Beispiel, personal in Aspekten erfahrbar ist, nur als Denkanstoß zu werten.