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3.1.3 Die Gottesvorstellung und die jüdisch-mystische Denkweise
ОглавлениеSeit ca. 4000 Jahren, beginnend bei ihren Erzvätern, wurde im Judentum angenommen, dass es eine einzig allmächtige, geistige Wesenheit „Gott“ gibt, die sich über eine fundamentale Ethik manifestiert und personal kommuniziert. Sie erschuf das materielle und geistig Seiende mit allem Lebendigen - und sie fühlt sich verantwortlich für das Erschaffene. Vor ihr ist jegliches Leben achtbar, sind insbesondere alle Menschen gleich, ob Jude oder Nichtjude. Welch eine Botschaft aus den Tiefen der Vergangenheit, wenn wir bedenken, dass antike Sklaverei, feudale Leibeigenschaft, Kolonialismus, moderne Sklaverei, Herrenmenschentum und Verachtung vermeintlicher Ungläubiger eine grausame Spur menschenverachtender Gewalt bis heute legt.
Der 4000 Jahre bestehende, jüdische Glaube verkörpert die älteste, konsequent monotheistische Weltreligion. Gemäß diesem Glauben stand und steht die nicht personalisierbare göttliche Wesenheit mit dieser Welt und mit dem Menschen in einem ständigen Kontakt. Gott sandte immer wieder Botschaften und offenbarte sich über Propheten, um seine Seinsethik und seine, für die Evolution des geistigen Selbst „Seele“, förderlichen moralischen Normativen zu lehren, sie zu beachten und mit seiner Schöpfung nachhaltig umzugehen.
Wie der Tanach symbolisch lehrt, begann die Reihe seiner Botschaften seit Anbeginn der Menschwerdung, als er das Menschsein mit Adam und Eva, den „Ureltern“ der jetzigen Menschheit, erschuf. (Dies muss nicht im Widerspruch zur Evolutionstheorie gesehen werden, wenn das Menschsein symbolisch, als ein evolutionärer Qualitätssprung in der Reihe der Hominiden gesehen werden kann.) Im geistigen Selbst „Seele“ dieser „Ureltern“, sollte sich splitterhaft, die für Menschen möglichen Aspekte seiner ethischen Essenz manifestieren (symbolisiert durch das „Einhauchen“ des eigentlichen „Lebens“). Die Reihe seiner Botschaften und Offenbarungen setzte sich über Noah, dem Baumeister der Überlebensarche, fort. Mit vielen Verkündigungen an die Erzväter der jüdischen Stämme und Offenbarungserfahrungen der Propheten setzten sich die Belehrungen und Weisungen fort - und sollten dann irgendwann mit der Ankunft des Messias enden. (Im Christentum gilt Jesus als der vorhergesagte Messias, während das Judentum dies verneint und ihn als jüdischen Wanderprediger ansieht - währenddessen der Islam Jesus hingegen als Prophet Gottes betrachtet.)
Die Juden hoffen auf diesen von Gott gesandten König, dem Messias, der ihre Geschichte und die der Welt in die Hand nehmen wird. Die für uns Menschen adaptierbaren Aspekte der ethischen Essenz Gottes werden dann alle Lebensbereiche durchdringen – und in uns als ein Weltethos erwachen. Er wird damit ein „Reich des Friedens und des Heils“ schaffen, in dem Nächstenliebe, Pflichtgefühl der Gemeinschaft gegenüber, Mitgefühl, Gerechtigkeit und wahrheitssuchende Neugier allgemein anerkannte moralische Normativen sind. Und da Gott seine Schöpfung als gut beurteilt hat, wird dieses „Reich des Friedens“ hier in dieser, unserer Welt entstehen. Alle Menschen werden in Harmonie mit dem allmächtigen Gott und in seiner Seinsethik leben. Der die gesamte, solidarische Menschengemeinschaft erfassende soziale Frieden, sowie die Ehrfurcht vor dem Lebenden und vor der Natur wird einen neuen Zustand der Weltordnung erzeugen.
Für die Christen ist der Messias mit Jesus Christus bereits gesandt worden und dauert, nach seiner körperlichen Hinrichtung, in Form seiner unzerstörbaren geistigen Präsenz fort. Die Einkehr in das „Reich des Friedens“, das im Gegensatz zum jüdischen Glauben „geistiger“ Natur ist und nicht von dieser materiellen Welt ist, wird jedem Menschen durch die Vergebung seiner Sünden, einem geistigen Neuanfang, ermöglicht. Sein sündhaftes Denken und Handeln, das aus der Verdrängung ethischer Aspekte in seinem geistigen Selbst „Seele“ folgt, braucht ihn nicht mehr belasten, da es die Essenz Gottes neu aufnehmen kann. Diese splitterhafte ethische Manifestation der göttlichen Wesenheit in jedem „Menschen“ wird dann zu einer geistigen Evolution, zu einem Bewusstseinswandel im Menschen und damit ebenfalls zum „Reich des Friedens und des Heils“ führen.
Im jüdischen Glauben wird die Ankunft des Messias der Höhepunkt in der Folge der „Botschafter Gottes“ sein. Er wird im übertragenen Sinn als ein zum „König“ gesalbter Mensch betrachtet. Deswegen wird er Messias genannt. Gemäß einer unserem Zeitgeist folgenden Interpretation sollte das „Königtum“ hier verstanden werden als die geistige Herrschaft der ethischen Essenz Gottes, die sich unter anderem über die Nächstenliebe, die Pflicht der Gemeinschaft gegenüber, das Mitgefühl und die wahrheitsliebende Neugier offenbart. Die göttliche Ethik würde alle Bereiche der Menschengemeinschaften durchdringen und somit die „weltlichen“ Verhältnisse dominieren. Damit ergibt das in der antiken Denkweise geprägte Metapher „König“ aus heutiger Sicht einen tiefen Sinn. Die Bedeutung des Begriffs „Gesalbter“ erklärt sich aus der Geschichte der Juden, wie sie ihre Könige gemäß, der Schilderungen in der Bibel, inthronisierten.
Es existierte im Land Kanaan meistens ein Nordreich Israel, mit einem Wahlkönigtum, und ein Südreich „Juda“, mit einem Erbkönigtum. In der jüdischen Geschichte wurde David erst zum König des Südreichs „Juda“ (ein Gebiet um Jerusalem, das im Osten vom Toten Meer, im Süden von der Negev - Wüste und im Westen von den Küstenstädten der Seevölker (Philister) begrenzt wurde) gesalbt. Erst danach wurde er zum König Israels gesalbt (in [26], 2. Buch Samuel, Kap. 2 Vers 4 und Kap. 5 Vers 3). Unter den Königen Saul (seit ca. 1000 v. Chr.), David und Salomon waren Juda und Israel vereinigt zum Königreich Israel (1010 – 926 v. Chr.). (Die Könige von Juda mussten im Nordreich bestätigt werden.) Der König wurde mit dem Akt der „Salbung“, ein beispielsweise von Propheten durchgeführtes religiöses Ritual, ein Verbindungsmensch zu Gott. Er wurde nicht sein Stellvertreter auf Erden, sondern er wurde durch diesen Akt der „Salbung“ ein „Bote“ der Menschen und ein „Bote“ Gottes zugleich. Dies gilt seitdem für die Könige Judas und Israels.
Eine andere grundlegende Botschaft des Judentums ist, dass zwar der allmächtige Gott mit dem Menschen über seine Offenbarungen in unterschiedlichen Manifestationen im personalen, geistigen Kontakt steht, aber auf keinem Fall in Bildnissen erfasst werden darf. Im Judentum existiert ein absolutes Verbot irgendeiner Darstellung von Gott. (Dies gilt bis heute im Islam.) Es stellt sich die Frage: „Warum jenes absolute Verbot?“ Wenn Gott als individuelle, personalisierbare Wesenheit vorstellbar wäre, spräche nichts dagegen eine beliebig abstrakte Vorstellung von ihm, bildhaft darzustellen. Warum ist dies im Judentum streng untersagt?
Eine konsequente Interpretation ist: Gott darf nicht bildlich-personal dargestellt werden, weil er kein personalisierbares Wesen ist. Denn für einen individuellen Geist, wie wir Menschen ihn in uns tragen, ist die nicht personalisierbare Wesenheit „Gott“ nicht bildhaft vorstellbar und somit nicht darstellbar! Er ist kein personifizierbarer Gott. Ja selbst sein Name „JHWH“ („Jach-we“ oder Manchesmal auch als Jehova ausgesprochen) darf nicht genannt werden – in der Vergangenheit höchstens von einem Hohepriester im Tempelbereich. Diese nicht personifizierbare Vorstellung von Gott scheint nicht ohne Sinn zu sein, - wenn wir uns daran erinnern, wie beispielsweise im Christentum die bildhaften Darstellungen von Gott beitrugen, ihn für viele Gläubige zu personalisieren. Das verführte verständlicherweise dazu, Gott wie ein machtvolles, das Dasein designende Geschöpf zu betrachten. Er konnte in persona verantwortlich gemacht werden für, oft genug von Menschen selbst verursachte Schicksale. Von dieser „Person“ Gott wurden und werden, zumindest intuitiv, Wertvorstellungen und Handlungen erwartet, die den moralischen Normativen der jeweiligen Kultur entsprechen. Hielt er sich nicht an die menschlichen Bewertungen, wurde seine Realität geleugnet. Nachvollziehbar! - Denn diese „Person“ Gott ist so in der Tat nicht glaubhaft und ist gewiss nicht die göttliche Wesenheit, deren Existenz im mystisch-religiösen Denken der Weltreligionen als wahr angenommen wird.
Trotzdem man den Juden den Glauben an einen nicht personifizierbaren Gott unterstellen dürfte, sprechen sie IHN personal, mit „Adonai“ (mein Herr) sowie „Ha-Schem“ (der Ewige) an. Das Ansprechen eines intuitiv als personalisiertes Wesen empfundenen Gottes, ist einem Menschen nicht zu verdenken, kennt er doch Zwiegespräche nur mit Personen, mit identifizierbaren Einzelwesen. Kommunikation ist für ihn nur zwischen individualisierbaren „Partnern“ denkbar. Für gewöhnlich individualisiert er intuitiv seinen Kommunikationspartner. Selbst wenn er zu einer „Schwarmperson“, wie beispielsweise der Wissenschaftsgemeinde, spricht, personalisiert er. Für die meisten Menschen ist deswegen der nicht personalisierbare Gott zu abstrakt als Gesprächspartner. Ich kenne dagegen eine Frau, die IHN als eine Gefühlswelt empfindet und dieses Gefühlsspektrum über Gebete ab und zu anspricht und gut dabei fährt. Ich glaube, diese Art des personalen Dialogs mit Gott ist vielen Menschen, ob bewusst oder unbewusst, gar nicht so fremd. Ein gefühlswarmer Mensch, der Mitgefühl und Nächstenliebe empfindet, kann sicher nachvollziehen, dass sich der nicht personalisierbare Gott beispielsweise über die Liebe in den Augen dankbarer Kinder „personal“ offenbart. Ich glaube, fast jede Mutter kann dies nachempfinden.
Ein anderer, aufschlussreicher Anruf Gottes in der hebräischen Bibel, ist „Elohim“, was die Mehrzahl von Gott bedeutet, aber in der Einzahl gebraucht wird, und sprachlich verwandt mit dem arabischen „Allah“ ist. Hier könnte sich die intuitive Vorstellung von einer einzigen göttlichen Wesenheit finden, die sich in unzähligen Erscheinungen und Wirkmanifestationen offenbart und deshalb als nicht personalisierbar erkannt wird.
Der einzige „Gott“ im Tanach entspricht im Prinzip, mit seiner Allmacht, seinem „Wissen“, seinen Wirkeigenschaften, der allmächtigen, emergenten, jede Zustandsalternative alles Seienden darstellenden, geistigen Wesenheit (Abschn. 2.3.1). Wir können, bei hinreichenden Abstrahierungswillen, in diesem Gott des Judentums, im Sinne des I. religiösen Axiom, die emergente Gesamtheit des Seienden sehen (siehe Abschn. 2.3.1). Sie erfasst Räume und Zeiten, eine unbeschränkte Menge an Zustandsinformationen - ist ein nicht an Naturgesetze gebundenes (wegen der Allmacht), einmaliges Informationsnetzwerk. In naturwissenschaftlicher Lesart ist nur der Kosmos einzig - weil „Alles“. Er ist keinem Gesetz unterworfen und deshalb „Allmächtig“. Denn ein Gesetz sagt immer: „Es folgt auf ein Naturzustand nach einer Regel ein anderer oder ein gleicher Naturzustand“. Der Kosmos ist aber die Einheit aller Zustände und Abläufe in der Einmaligkeit über die Zeiten. Wir werden solch einen Zusammenhang in der fernöstlichen Denkweise wiederfinden (zum Beispiel im Abschnitt zum Hinduismus).
Dieser kurze Ausflug möchte nur die tiefe und grundlegende Philosophie dieser jüdischen, über 4000 Jahre alten Gottesvorstellung demonstrieren. Wie soll ein individuelles Wesen, verwoben mit seinen persönlichen Erfahrungswelten und die seiner Mitindividuen, solch eine, alles Seiende erfassende Allmacht verstehen sowie IHR emergentes Schwarmwirken nachempfinden? Das Einzelwesen Mensch versteht ja nicht einmal die „kleinen“ Schwarmwesenheiten „Volk“ bzw. „Menschheit“. Oder, etwas bescheidener und weniger spekulativ: Kann eine unmaßgebliche Sardine den Sardinenschwarm begreifen? Wie wird sich die alles Seiende erfassende, allmächtige Wesenheit „Gott“ personal verständlich machen können? Er erkennt seine Individuen, die aber nicht ihn. Die Botschaften seiner Propheten können für uns gewiss nur gleichnishaft, schwer interpretierbar und Gegenstand ständiger Missverständnisse sein, da sie noch dazu in der Vorstellungswelt der Menschen ihrer Zeit erfahrbar sind. Verständlich, wenn uns die Botschaften und Offenbarungen der Propheten bildhaft und in Gleichnissen versteckt, missverständlich und interpretierbar erscheinen.
Die göttliche Wesenheit „JHWH“ (Jach-we) der Juden wurde nicht nur für sie als zuständig empfunden. Im Judentum ist er der Gott für alle - ob sie an ihn glauben oder nicht. Entsprechend der biblischen Überlieferung war Noah, der die Überlebensarche baute, nach der Sintflut, der Vater aller folgenden Menschen - und nicht nur der Juden. Adam und Eva waren keine Juden. Das heißt, nichts anderes, als dass im Judentum alle gleich vor Gott sind, unabhängig ob sie Juden oder Nicht-Juden sind. Diese aus heutiger Sicht als selbstverständlich empfundene Einstellung war im Altertum, in der damaligen vor-antiken, von Stammesgöttern geprägten Zeit eine erstaunliche und revolutionäre Einsicht. In dieser rauen Epoche der Barbarei und der Sklavenhaltegesellschaften wurden „Nicht-Stammeszugehörige“ mehr oder weniger als Nicht-Menschen gesehen; ausgenommen wurden höchstens Verbündete.
Mit dieser Gleichheit des Menschen vor dem einzigen Gott war eine Religion mit dem ethischen Grundsatz der Gleichwertigkeit aller menschlichen Wesen erwacht. Diese von Gott gelehrte Gleichrangigkeit jeder Daseinsform, für jedwede Lebensform, waren das „Weltethos“. Diese Religion lieferte die grundlegende Voraussetzung für den Weg aus der grausamen und rücksichtslosen Entmenschlichung zwischen den damaligen Stammesgemeinschaften.
Versetzen wir uns nur einmal in die Zeit des Altertums, in der sich das Judentum entwickelte. „Religionsgemeinschaften“ betrachteten nicht selten alle Andersgläubigen wie Haustiere oder als niederes Menschentum. Was für ein Horrorszenarium, da diese „Religionsgemeinschaft“ oft das religiöse Denken in Großreiche dieser Zeit beherrschten und die tragende Gemeinschaft von sogenannten „Gottkönigen“ waren. Stellen wir uns nun vor, es treten in diesem Machtbereich Gläubige einer neuen „Religionsgemeinschaft“ mit einem ethischen Grundkonzept auf, das besagt: „Alle Menschen sind gleich vor einem einzigen, Gott, der sich über eine Seinsethik offenbart, entsprechende Gebote erlässt, ihre Befolgung einfordert und dessen Name, in den Religionen und Kulturkreisen dieser Welt, nur unterschiedlich gerufen wird. Und kein Mensch kann ein Gott sein!“ Und sie verkünden weiter: „Es darf nicht jede menschliche Gruppierung ihren eigenen, persönlichen, nur für sie zuständigen Gott bzw. Gottkönige nach Gutdünken und Vorteilsdenken schaffen, sondern es gibt nur den einen Gott, für uns alle. Was vor ihm gilt, gilt für alle Menschen unserer Welt.“ Diese neue, jüdische Religionsgemeinschaft, mit ihrem Glauben an den einzigen Gott für alle Menschen, wurde somit das Botenvolk für einen gewaltigen, Konflikt geladenen, geistigen Umsturz – der den Keim einer revolutionären Umgestaltung menschlicher Gemeinschaften in sich trug.
Dieser gewaltige Konflikt zwischen den Gläubigen, die meinen: „Alle, unabhängig von ihren Weltbildern und Kulturen, sind gleich vor dem einzigen Gott“ und den Gläubigen, die wähnen: „Wir haben unseren eigenen Gott und diejenigen, die einen anderen oder keinen Gott verehren, sind verachtenswerte Ungläubige oder so eine Sorte niederes Menschentum oder von einer Art Dummheit befallen“, ist uralt und schwelt bis heute. Ich denke, dass die Menschen in den Jahrtausenden gelernt haben sollten: Weltfrieden ist ohne Religionsfrieden, ohne religiöse Toleranz, nicht zu machen!
Im Judentum wird die göttliche Wesenheit als ein liebender und gleichermaßen als strafender Gott empfunden - wie an vielen Textstellen der Tora geschildert wird. (Mit der Tora werden im Allgemeinen die fünf Bücher Moses, der erste Teil des Alten Testaments, bezeichnet.) Er straft indirekt durch die Abwesenheit seines ethischen Wesens, was zum Verdrängen seiner Gebote, seiner moralisch-normativen Weisungen, für das menschliche Denken und Handeln führt - und Mord, Gräuel, Massaker zur Folge hatte. Viele Gewalttaten finden hier ihre Begründung. Rabiate Strafmaßnahmen „Gottes“ sind entweder katastrophale Naturerscheinungen, die in der Denkweise des Altertums seiner Allmacht zugeschrieben werden, oder sie finden auf Weisungen Gottes, so wie sie in der Sichtweise ihrer Zeit verstanden wurden, durch Menschen selbst statt. Ist der splitterhafte Anteil der göttlichen Ethik in ihm gering oder kaum präsent, so legt sich eine Atmosphäre gewalttätigem Denken und Handeln über den Einzelnen und die Gemeinschaft, - das alles dann strafend wirkt.
Der allumfassende, in jeder Wirklichkeit präsente Schöpfergott wird im Judentum nicht nur am „Anfang der Zeit“, einmalig wirkend verstanden - sondern man glaubt an die Präsens des Schöpfungsprozesses im ständigen Wandel. Er ist für jeden gläubigen Juden in der sich wandelnden Welt, in der er sich über die Botschaften, Lehren und Weisungen der Propheten und der Tora offenbart, erfahrbar.
Die gläubigen Juden verstehen sich als Angehörige eines, von der göttlichen Wesenheit, auserwählten Volkes. Sie glauben, Gott habe einen Bund, einen „Bündnisvertrag“, mit ihnen geschlossen. Das bedeutet nicht, dass ER der Gott der Juden ist, der sie im besonderen Maße „bevorzugt“, sondern das heißt, sie wurden ausgewählt, sein Wirken und seine Existenz zu bezeugen - und somit als Glaubensgemeinschaft eine religiöse „Erstlast“ in die Menschheit zu tragen. Folglich sind sie gezwungen, quasi per Bündnisvertrag, die für uns erfahr- und ertragbare Ethik Gottes zu empfinden und zu leben. Sie müssen sich bemühen, im gewissen Sinne ihm „ähnlich“ zu werden, da im Judentum geglaubt wird, dass der Mensch nach Gottes Ebenbild entstand. Heute würden wir eher sagen: Gott formte den Menschen, dem ethischen Wesen nach, stückweise als sein Ebenbild. Infolge dessen ist der Mensch Träger eines splitterhaften Anteils seiner, von uns ertragbaren Ethik. Denn dieses „Ebenbild Gottes“ darf aus heutiger Sicht nicht wörtlich aufgefasst werden, im Sinne irgendeiner körperhaften Ähnlichkeit, sondern in der Bedeutung einer Wesensähnlichkeit. Das bedeutet, der Mensch ist sein Ebenbild in der essenziellen Fähigkeit mit Nächstenliebe, Mitgefühl und solidarischem Denken eine soziale Gemeinschaft zu entwickeln. Diese Annäherung an die ethische Essenz Gottes wird nur möglich, indem jeder Jude gemäß den Lehren und Gesetzen der göttlichen Wesenheit lebt. Und diese müssen streng beachtet werden. Die in der Tora, dem ersten Teil der hebräischen Bibel, enthaltenen Lehren und Weisungen sind im Judentum zwingend zu befolgen.
Die Gesetze der Tora und die aus ihr abgeleiteten Lebensregeln durchziehen den Alltag und betreffen den gesamten Tagesablauf des gläubigen Juden. Bekannt sind die diffizilen Speisevorschriften, in denen reine und esstaugliche Nahrung (koschere) benannt und die Art ihrer Zubereitung reglementiert wird. Im 3. Buch Moses sind die koscheren Tiere, das heißt, die gespaltene Hufe haben und Wiederkäuer sind, aufgezählt. Diese dürfen nur unblutig getötet werden (Schächtung).
Im Judentum ist der Mensch frei im Handeln, im Guten wie im Bösen. Seine Taten werden bewertet. Lebt er im Einklang mit den Lehren und Weisungen Gottes, so hat er einen tugendhaften Lebenswandel. Lebt er im Widerspruch zur göttlichen Schöpfung und zu den Lehren sowie Weisungen seiner Propheten und der Tora, so führt er ein unheilvolles Leben. Damit ist vermutlich nicht gemeint, dass da eine allmächtige Wesenheit tagebuchartig das Wirken der Menschlein benotet, und straft oder lobt. Es ist eher so zu verstehen, dass derjenige ein tugendhaftes Leben führt, der in Übereinstimmung mit der für uns erfassbaren, ethischen Essenz Gottes lebt. Denn, da er Nächstenliebe und Mitgefühl verströmt, erfährt er ein harmonisch Eingebettetsein in der Gemeinschaft. Dies gute Leben ist geprägt von Liebe und Achtung, von Empfindsamkeit und Mildtätigkeit, vom Pflichtgefühl der Gesellschaft sowie dem Einzelnen gegenüber und von einem durch Neugier getriebenen Wissensdurst – sodass sein Denken und Handeln aus eigener Einsicht folgt.
Wie bekannt uns das vorkommt!
In Übereinstimmung mit der für Menschen erfassbaren, ethischen Essenz Gottes ist im Judentum das Lebendige, das Leben zu schützen. Rache ist verboten, Feindesliebe wird gefordert. Moderner gesprochen, heißt dies: „Kooperation und Deeskalation vor Aggression“. Allerdings ist im jüdischen Glauben die das Leben verteidigende Gewalt, demzufolge in Notwehrsituationen, erlaubt. Das kooperative Prinzip soll wehrhaft bleiben. „Keine Gewalt“ hat hier keinen absoluten, sondern einen relativen Charakter.
Wie in der Tora geschildert, erhielt Moses von Gott grundlegende Gesetze auf dem Berg Sinai ([26], 2. Moses ab Kap 19), zum Beispiel die zehn Gebote ([26], 2. Moses ab Kap 20 Vers 1 - 17), die die Kernvorschriften für das sozial ausgewogene Zusammenleben der Menschen, ergo ein Gott gefälliges Leben regeln sollten. Diese zehn Gebote fundieren das, was wir bis heute als moralische Normative empfinden, oder etwas komplizierter ausgedrückt, was wir als die Summe der gesellschaftlichen Normen des Zusammenlebens betrachten. Der Vorgang des Offenbarens dieser zehn Gebote war begleitet von Irrungen und Wirrungen in den jüdischen Stämmen – verbunden mit entsetzlicher Gewalt. Vielen sind die Vorgänge um die Anbetung des Goldenen Kalbs, während der Abwesenheit von Moses auf dem Berg Sinai, nicht unbekannt. Die Stämme waren verführbar durch Gold und gegenständlich, leicht anschauliche Götzen der Begierden, wie alle Menschen … bis heute.
Nun ja, wer bewältigt schon die harmonische Eintracht zwischen dem ethischen Gefühl und dem ethischen Handeln. Wem gelingt es, konsequent ein Leben ohne „Sünde“ zu führen? Deshalb gibt uns die göttliche Wesenheit, im jüdischen Glauben, die Möglichkeit der Vergebung unseres sündhaften Denkens und Handelns, was ja nicht immer Vergessen heißen muss. Tut der Mensch Buße, so können ihm seine Sünden nachgesehen werden. Der Kern der Reue darf kein Lippenbekenntnis oder intellektuelles Bedauern seiner Handlungen sein, sonder muss das klare Gefühl eines getanen Unrechtes zeigen. Somit kann letztendlich jeder Mensch nur selbst die Wahrhaftigkeit seiner Buße bestimmen und ob ihm seine kleinen oder großen Übeltaten verziehen werden können.
Diese „Vergebung der Sünden“ kennen, auf den ersten Blick, einige andere Weltreligionen nicht. Im Hinduismus ist getan, gleich getan und nicht rückgängig zu machen. Die Taten eines Lebens fließen zusammen zum Karma des Selbst. Damit baut jedes Individuum sein selbstbestimmtes Schicksal auf, beeinflusst deshalb die Art seiner Wiederkehr und seinen Verbleib im Kreislauf der Wiedergeburten und seinem Leiden. Die daraus folgende Evolution oder Degeneration des geistigen Selbst „Seele“, ist eigenverantwortlich. Allerdings kann, bei genauerer Betrachtung, diese Form der Selbstbestimmtheit durchaus in den Vorstellungen des Judentums über die „Vergebung von Sünden“ ihren Platz finden. Der Glaube an eine „Vergebung von Sünden“ ist ja gebunden an die wahrhaftige und damit eigenverantwortliche Buße. Diese souveräne Sühne regt eine Evolution der im Selbst verankerten ethischen Werte an und treibt die Annäherung an die göttliche Ethik voran.