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2.1 Im Spannungsfeld zwischen Naturwissenschaft und Mystik

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Eine sich selbst als vernünftig betrachtende Öffentlichkeit scheint mehrheitlich anzunehmen, dass ein Verständnis der Natur, einschließlich der Menschlichen, immer über experimentell überprüfbare Naturgesetze möglich sei. Dort, wo dies nicht der Fall zu sein scheint, wird die „Wissenslücke“ sicher irgendwann, im Rahmen einer naturwissenschaftlichen Modellvorstellung, geschlossen werden. Sogenannte „Realisten“ meinen, dass das gesamte Naturgeschehen über ein Netzwerk von Gesetzmäßigkeiten zwischen materiellen Objekten darstellbar ist. Dieser Glaube wird oft vereinfacht als eine realistische, rational-materialistische Weltsicht wahrgenommen und von einer breiten, durch alle Kulturregionen gehende, sich als „aufgeklärt“ betrachtende Wissensgemeinschaft geteilt. Viele in dieser Gemeinschaft glauben an eine, die Religion auflösende Naturwissenschaft.

Nicht desto trotz scheinen viele Menschen nicht frei zu sein von instinktiv empfundenen religiösen bzw. mystischen Gedankengut. Sie vermuten, nicht genauer zu bestimmende Wirkungen von Aspekten einer unergründlichen, geistigen Wirklichkeit zu spüren, die hinter und in allen Dingen zu schlummern scheint. Diese nebulös erfahrene Wirkung wird auf eine unbestimmte Weise als mit unseren Sinnen nicht erfassbar oder als „gefühlt göttlich“ empfunden. Diese spezifisch religiöse Spiritualität darf nicht mit dem irrationalen Glauben an Magie verwechselt werden – trotzdem, umgangssprachlich gesehen, beides ab und an fälschlicherweise in einen Topf geworfen wird. Zum Begriff „Mystik“ existieren oft unterschiedlichste, vereinfachte bzw. missverständliche Interpretationen. Wir wollen unter Mystik, wie mehrheitlich gesehen, das vernünftige Wissen um eine einzig allmächtige, geistige, absolute Wirklichkeit verstehen.

Bei Vielen scheint sich diese mystisch-religiöse Spiritualität mit rational-materialistischen Ansichten auf gewisse Weise zu vermengen. In diesem Spannungsfeld gedeiht allerdings oft ein irrationales Weltverständnis, das sich aus den Naturwissenschaften ebenso wie aus der Mystik der Weltreligionen bedient - zu einer Art „neuen“ Spiritualität einlädt und sich in sinnwidriger Esoterik verliert.

Ist man auf der Suche nach einer vernünftigen Weltsicht, die das naturwissenschaftliche als auch das religiöse Denken akzeptiert, ist es unabdingbar, auf eine konsequente Trennung zwischen Naturwissenschaft und Religion zu achten. Das eine hat im anderen nichts zu suchen.

Versuchen wir beispielsweise den grundsätzlichen Glaubenssatz der Weltreligionen über die Existenz der einzig allmächtigen, göttlichen Wesenheit (Abschn. 2.3.1) mithilfe von Naturgesetzen zu beweisen bzw. auf allgemeinere Prinzipien zurückzuführen, wäre diese ja an Gesetze oder Prinzipien gebunden und deshalb nicht einzig allmächtig. Dies wurde aber vorausgesetzt. Wir landen in einem Widerspruch. Dieses religiöse Axiom ist als wahr und nicht beweisbar gesetzt. Beweise für oder gegen die Existenz der einzig göttlichen Wesenheit zu führen, sind sinnlos, münden in paradoxe Aussagen. Ebenso wie in den Naturwissenschaften existieren in den Weltreligionen grundsätzliche Glaubenssätze, religiöse Axiome, die als wahr und nicht beweisbar akzeptiert werden. Die angenommene Existenz der einzig göttlichen Wesenheit ist solch ein religiöses Axiom (Abschn. 2.3.1)!

Eine nüchterne Weltsicht, welche die naturwissenschaftliche als auch die mystisch-religiöse Denkweise akzeptiert, braucht die Fähigkeit beidem zu folgen.

In der Wissenschaftsgemeinde ist solch ein Interpretationsfreiraum meist vorhanden. In einer Studie [4] betrachteten die Autoren zum Beispiel die Nobelpreisträger zwischen den Jahren 1901 bis 2000 in Hinblick auf ihr Verhältnis zum religiösen Glauben und dem analytischen Denken. Sie fanden heraus, dass „nur“ 10 % von ihnen bekennende Atheisten, Agnostiker oder Freidenker waren. Das heißt, nur 10 % dieser herausragenden Gelehrten glauben nicht an eine, wie auch immer geartete geistigen Präsenz einer allmächtigen Wesenheit - bzw. sie waren zumindest der Meinung, dass ihre Existenz bzw. Nichtexistenz nicht beantwortet oder nicht beantwortbar ist.

Leider gibt es viele Gläubige und religiöse Institutionen, denen rationale Interpretationen der heiligen Schriften eher suspekt sind.

Solche Interpretationsversuche werden misstrauisch beäugt, abgelehnt oder von fanatisierten Gläubigen geradezu als eine, den „einzig wahren“ Glauben beschmutzende Denkweise verurteilt. Das hat oft dramatische bis tödliche Folgen für den nach Erkenntnis strebenden. Im Hinduismus, im Buddhismus als auch im chinesischen Denken existiert ein mehr aufgeklärter Freiraum für die Interpretation religiöser Erfahrungen und Glaubenssätze. Naturgemäß ist dies, wie in allen Kulturregionen, vom Bildungsstand sowie vom sozio-kulturellen Umfeld abhängig.

In den abrahamitischen Religionen, in denen Abraham als der Stammvater der Juden und Araber gilt (Judentum, Christentum, Islam), ist mehr ein wortwörtliches Klammern der Gläubigen an den heiligen Schriften zu beobachten. Immerhin findet man im Christentum fraglos eher Offenheit in Bezug auf ein modernes Verständnis der vielschichtigen Metapher in den heiligen Schriften der Bibel. Im Islam wird dagegen eine absolute, dogmatische Lesart des Korans, gefordert. Er wird, streng genommen seine arabische Form, als das zu allen Zeiten präsente Wort Gottes verstanden. Jedes Koran-Buch ist immer heilig, es besitzt ein überirdisches Wesen. Nichtachtung oder Veränderung seiner Texte, ja des gegenständlichen Buchs selbst, beleidigt Gottes Wort, lästert direkt Gott. Darum wird kein Koran vernichtet, wenn er nicht mehr gebraucht wird oder gebrauchsunfähig ist. Er findet seinen „letzten“ Platz in sogenannten „Buchgräbern“, beispielsweise in Mauernischen von Moscheen. Allerdings gibt es auch im Islam, im Rahmen einer Koran-Exegese, oft heftige Diskussionen zwischen unterschiedlichen Deutungen der Offenbarungen Gottes und der Ausdrucksweise, der wörtlichen Fassung der „göttlichen“ Worte.

Leider führten verschiedene Interpretationen von im Wesen ähnlichen mystische-religiösen Grundüberzeugungen und Praktiken in der Religionsausübung, oft genug zu brutalen Spannungen gepaart mit religiösem Fanatismus. Bis in unsere Gegenwart hinein befeuern immer wieder anmaßende Wächter der „reinen“ Lehre eine fanatisch religiöse Alleinvertretungsanmaßung. Bis heute verlieren sich viele Gläubige in einen rauschartigen Glauben. So entstand nicht von ungefähr ein den Religionen anhängender Geruch, der Karl Marx schreiben ließ: „Religion ist … das Opium des Volks“ [5]. Eine religiöse Alleinvertretungsanmaßung, wenn sie in einen rauschartigen Fanatismus abgleitet, verhindert die gegenseitige Toleranz, erzeugt Ignoranz und Unwissenheit. Sie blockiert eine Gemeinschaftsbildung auf der Basis von gemeinsamen Grundüberzeugungen.

Auf dem 1893 in Chikago tagenden ersten Parlament der Weltreligionen [6] sprach der indische Swami Vivekananda von einer Überwindung eines gedachten Gegensatzes zwischen Spiritualität und materialistischer Denkweise. Er empfahl eine gegenseitige, religiöse Durchdringung und Harmonie. Die im „Westen“ sich entwickelnde ökumenische Bewegung in den christlichen Konfessionen symbolisiert einen Anfang. 100 Jahre später, 1993, wurde dann eine „Erklärung zum Weltethos“ vereinbart, die versucht eine Geistesverwandtschaft der Weltreligionen zu formulieren [7]. „Wir bekräftigen, dass sich in den Lehren der Religionen ein gemeinsamer Bestand von Kernwerten findet und dass diese die Grundlage für ein Weltethos bilden“, wird ebenda gesagt. Trotzdem in der „Erklärung zum Weltethos“ die Vorstellungen einiger Religionsgemeinschaften nicht genügend berücksichtigt sein sollen, finden sich die dort formulierten ethischen Prämissen im Wesentlichen in den Weltreligionen wieder - beispielsweise in den 10 Geboten des Judentums und des Christentums.

Für eine Koexistenz der Religionen ist das Erkennen gemeinsamer Wurzeln zielführend. Eine gegenseitige Akzeptanz der Gläubigen wird dadurch gefördert, dass man die faszinierende Ähnlichkeit der „offenbarten“ Erkenntnisse sichtbar werden lässt.

Bedauerlicherweise eskalieren religiös motivierte Konflikte nach wie vor in Teilen der Welt, verursachen schwerwiegendes, menschliches Leid, - ja globalisieren es teilweise geradezu. Der Glaube an die Möglichkeit der „Abschaffung“ dieser Zwistigkeiten mithilfe einer naturwissenschaftlichen Religionskritik, ist schwierig und oft wenig hilfreich. Dies überdehnt vor allem den Geltungsbereich rational, analytischer Methodik. Denn erstens: Die Denkweise der Naturwissenschaften stößt an Grenzen, wo sie für die Fundamente ihrer Naturmodelle nicht beweisbare, als wahr geglaubte Aussagen, Axiome, zwingend annehmen muss. Und zweitens: Die Denkweise in den Naturwissenschaften hat bei der Mehrheit der Gläubigen der Weltreligionen einen anderen Stellenwert, da dort oft die Wirklichkeit über mystisch-religiöse Erfahrungen „erkannt“ wird.

Nehmen wir uns die Freiheit einer rationalen Interpretation der heiligen Schriften der Weltreligionen, so ist es erforderlich, zu beachten, dass jene Texte ja Überlieferungen von vielschichtigen Metaphern sind. Sie sind in den Denk- und Sprechweisen des Altertums formuliert. Übersetzen wir sie in unsere heutige Ausdrucksweise, unter Beachtung des gegenwärtigen Wissens, drängt sich eine wichtige Erkenntnis auf: Die Gläubigen der großen Weltreligionen haben einige, grundsätzlich gemeinsame, mystisch-religiöse Grundüberzeugungen und Wurzeln. Dies sind die drei religiösen Axiome (Abschn. 2.3). Sie sind als wahr und nicht beweisbar gesetzt. Anders verhält es sich mit Glaubensfragen, Offenbarungen und Aussagen, die auf jene grundlegenden Annahmen aufsetzen.

Wie wäre es zum Beispiel, im Rahmen einer rationalen Interpretation der heiligen Schriften, mit dem Versuch, die Schöpfungsgeschichte in unser gegenwärtiges Erfahrungswissen einzubetten. Würde sie mit ihren Kernaussagen im Judentum, im Christentum, im Islam als auch in der fernöstlichen Mystik ihren Platz finden? Sicher haben solche Versuche oft den Geruch, höchst spekulativ zu sein. Aber eins könnten sie bewirken: Näher an die Kernbotschaft der Genesis zu gelangen, ohne sich in seinem religiösen Verständnis an die Sprech- und Denkweise der frühmenschlichen Kulturen zu klammern.

Beispielsweise stammen in den abrahamitischen Weltreligionen die Darstellungen der offenbarten Schöpfungsgeschichte der Welt, als auch des Menschen, aus der Frühgeschichte der Menschheit. Diese Offenbarungen wurden verständlicherweise in der Ausdrucksweise und mit dem Wissensstand einer archaischen Zeit überliefert. Beispielsweise eine Physikerin oder ein Physiker würde heutzutage sicher die „offenbarte“ Schöpfung des Weltganzen anders verstehen und beschreiben. Schon die Gesamtheit der Welt hätte für sie eine umfassendere und abstraktere Bedeutung. Sie würden das materielle und informative Seiende im Sein erfassen. Die Schöpfungsgeschichte wäre gewiss nicht mit so einfachen Bildern aus einer archaischen Vorstellungswelt visualisiert worden. Sie wäre eine sehr komplexe Darstellung des „Beginns“ des von uns erfassbaren Universums oder sogar aller denkbaren Universen.

Vielleicht würden sie den „Schöpfungsakt“ als das Wirken eines emergenten, jede Zustandsalternative des Seienden tragenden Informationsnetzwerks deuten? (Emergente Systeme besitzen Eigenschaften, die nicht nur auf die, der einzelnen Systemelemente folgen.) Versuche ebendieser Art werden nie die letzte, die absolute Wirklichkeit des Seins abbilden. Dies reflektieren die Offenbarungen und grundsätzlichen Glaubenssätze der Weltreligionen. Sie fassen die Wahrnehmungen und Erfahrungen zusammen, die nicht allein für unsere bekannten Sinne zugänglich zu sein scheinen. Sie sind in der Summe von Generationen, über tausende Jahre hinweg, gemacht worden. Die Zusammenfassung dieser Individualerfahrungen ist oft einer wissenschaftlichen Beobachtungsmethodik nicht zugänglich. Sie sind ein abstraktes Fühlwissen.

Sie projizieren in unserem geistigen Selbst ein verschwommenes, verzerrtes Bild – eine Illusion der Realität -, wie ein Blick durch eine blinde Glasscheibe. Diese illusionären Abbilder vermögen, uns verführen, falsche Fragen an die Natur zu richten. Auf falsche Fragen gibt sie uns, verständlicherweise falsche oder zumindest seltsame Antworten.

Das führt beispielsweise bei Deutungen der heiligen Schriften der Weltreligionen eine signifikante Rolle. Fragen, auf der Grundlage des gegenwärtigen Wissens, an die archaisch bildhaften Schilderungen in diesem Schriftgut, können schnell falsche Fragen sein und zu fehlerhafte Interpretationen führen.

Was sind nun richtige Fragen in Hinblick auf sehr grundsätzliche Dinge im Sein? Beispielsweise ist es schwierig, sinnführende Fragen zur Gesamtheit des Seienden oder zur Natur des, unser Universum erzeugenden „Schöpfungsprozess“ oder zur universellen Dualität zwischen der Information (bzw. dem Geistigen) und der Materie zu stellen! Sinnvolle Antworten auf Fragen nach der als göttlich verehrten, geistigen Wirklichkeit, bzw. nach der unbeschränkten Menge an Information enthaltenden, einzig allmächtigen Informationsstruktur, kann es möglicherweise nur im Zusammenspiel zwischen den mystisch-religiösen und den rational-materialistischen Denkweisen geben.

Das Fragen, das metaphysische Suchen, nach der Beziehung dieser göttlichen Wesenheit zum individuellen, geistigen Selbst „Seele“ finden wir seit Menschengedenken in allen Kulturregionen unseres Planeten. Diese Suche mündete in mündlich überlieferte Weisheitslehren, die oft sehr viel später textlich erfasst wurden. Diese heiligen Schriften fassen ein vielschichtiges als auch verwirrendes Konglomerat von mündlichen Überlieferungen zusammen. Ihre zum Teil im Dunkel der Vergangenheit versunkenen Autoren hatten kaum den Anspruch, historisch authentisch zu sein. Sie wollten Erfahrungen mit der göttlichen Wesenheit und von ihr offenbartes Wissen dem Menschen vermitteln.

Im sogenannt westlichen Kulturkreis finden wir dieses Suchen bereits im antiken griechischen Denken verankert, das dank der Vorsokratiker über Sokrates zu Platon und seiner Ideenlehre führte. Beispielsweise versuchte Platon [8] das geistige Selbst „Seele“ plausibel darzustellen. In letzter Konsequenz meint er, dass das ICH-Bewusstsein, egal, wie man es nennt und betrachtet, nicht aus dem Nichts entsteht, und infolge dessen als unsterblich anzusehen wäre. Wie nachvollziehbar diese Plausibilitätsbetrachtungen aus heutiger Sicht sind, sei dahin gestellt. Aber das Hinterfragen des individuellen, geistigen Selbst „Seele“, bewegte nicht nur Gelehrte von der Antike bis in die Gegenwart hinein. Auch heute fragen Menschen aus allen Schichten der Bevölkerung nach dem, was intuitiv als Seele bezeichnet werden könnte. Man sucht Antworten in der Philosophie, im Meditieren, im Gebet oder in anderen Formen der Andacht. Religiös geprägte Gemüter suchen sie vor allem über eine innere Einkehr. Sie setzen bewusst oder unbewusst voraus, dass die von uns erfahrbare Welt von einer einzig allmächtigen geistigen Wesenheit durchdrungen ist, die sie als, durch unsere sinnlichen Wahrnehmungen verzerrte Reflexion in ihrem geistigen Selbst finden können. Dementsprechend erwarten sie die Welt, wie sie ihnen erscheint, eher intuitiv zu „fühlen“ und zu erfahren. Besonders in der fernöstlichen Mystik wurden ausgefeilte Techniken entwickelt, um eine effektive Suche nach der Wahrheit über die „innere“ Welt des eigentlichen, geistigen Selbst und über die „äußere“, real existierende Wirklichkeit zu ermöglichen. Sie versuchen, mithilfe von verschiedenen Meditationstechniken ihre Sinneswahrnehmungen zurückzudrängen, ihr geistiges Selbst „Seele“ zu isolieren und mithilfe dieser „Innenschau“ den relativen Wahrheitsgehalt der Abbildungen der Welt in ihrem Verstand zu erkennen. Sie versuchen, ihre Seele zu ergründen, - um die in ihrem Geist sich zeigende Illusionen der Wirklichkeiten zu erfassen. Ob, je nach Glaubensrichtung, das forschende Denken, ein Gebet, eine Meditation oder anderes dafür gebraucht wird, ist für die Suche nach der, die letzte Realität darstellenden Wahrheit nur eine Frage der Methode. Diese Betrachtungsweise reicht so weit, dass in der fernöstlichen Mystik (insbesondere im Buddhismus) der Wissenschaftler eher wie eine Art gläubiger Rationalist gesehen wird. Sein forschendes Denken ist nur eine besondere Meditationsform bei der Ergründung der „äußeren“ Welt.

Insbesondere in der fernöstlichen Mystik suchen Gläubige, bei der Adaption ihrer sie um - und erfassenden Welt, mit ausgefeilten Methoden (besonders detailreich beschrieben im Buddhismus) nach ihrem geistigen Selbst „Seele“. Sie fragen danach, wie sich die Abbildung der Welt in ihrem Bewusst-Sein herausbildet. Sie glauben: Wir sehen die Welt wie durch eine fehlerhaft geschliffene Linse. Dieser Schliff wird durch unsere unvollständigen Kenntnisse, mangelhafte Anschauungen, Vor-Urteile, auf Unwissen basierendes Interpretieren, usw. erzeugt. Nie werden wir, wie in dem jahrtausende altem Wissen gelehrt, eine allerfassende Realität erkennen.

An dieses prinzipielle Nichterkennen der Gesamtheit des Seienden, glauben bewusst oder unbewusst die Gläubigen aller Weltreligionen. Die absolute Wirklichkeit ist niemals von einem individuellen Selbst erfassbar und erfahrbar, sondern wird nur der allerfassenden, geistigen Wesenheit bewusst. Nur sie selbst erkennt ihr Selbst. Im religiösen Denken der monotheistischen Weltreligionen wird SIE als einzig allmächtig, allerfassend und demzufolge als einzig göttlich angesehen. Sie ist, wie von vielen Gläubigen angenommen wird, zwar personal ansprechbare, ist aber konsequenterweise nur als nicht personalisierbare geistige Wesenheit „Gott“ zu denken. Um der letzten Realität näher zu kommen, ist es erforderlich nach dem wahren ICH, nach unserem geistigen Selbst, zu forschen. Wir müssen fragen, wie diese mystisch-religiöse Betrachtungsweise helfen könnte, die real existierende Wirklichkeit, die einzig allmächtige, geistige Wesenheit, zu erfahren.

Die Beachtung der nach „innen“ gerichteten Sichtweisen ist auch den rational-materialistischen Denkweisen nicht fremd. Sie ist nicht nur eine Angelegenheit des mystisch-religiösen Denkens. Das, in unserem Verstand abgebildete Naturgeschehen ist immer ein Modell der Wirklichkeit, das die Art der Beobachtung sowie die Beobachtungsresultate bestimmt. Um eine wirklichkeitsnahe Interpretation des beobachteten Geschehens zu ermöglichen, ist es notwendig die Rolle des beobachtenden, geistigen Selbst, die Beobachterrolle, zu hinterfragen. Denn es gibt immer eine gegenseitige Beeinflussung aller sich „sehenden“ Objekte im Sein. Jedes Seiende wechselwirkt mit anderem - ist Beobachtetes als auch Beobachter zugleich. Insbesondere bei Lebensformen, die nach ein „Verständnis“ der betrachteten Ereignisse suchen, zum Beispiel beim Menschen, spielen die Vorstellungen des Beobachters, seine Vor-Urteile vom Geschehen, das heißt, die in seinem „Geist“ liegenden theoretischen Modellvorstellungen, eine dominante Rolle bei der Art der Betrachtung sowie bei der Interpretation der Beobachtungsresultate. Es ist unumgänglich, die Wechselwirkung seiner „inneren“, geistigen Welt mit der beobachteten, „äußeren“ Welt zu verstehen.

Das ist ein komplexer Wirkzusammenhang – der meistens sehr reflexhaft beachtet wird, im wissenschaftlichen Beobachtungsprozess jedoch streng durchdacht wird. Wir bilden über unsere sinnliche Wahrnehmung die „äußere“ Welt auf eine „innere“, geistige Welt unter zwei sich für gewöhnlich überlappen Gesichtspunkten ab.

Bewerten wir beispielsweise ein Gedicht, das als gegenständliche Realität der „äußeren“ Welt vorliegt, so bauen sich zwei Betrachtungsweisen in uns auf: zum einen die Betrachtung des materiellen Trägers der Information und zum anderen die Fokussierung auf die Information im Gedicht selbst. (Beides ist wesensverschieden, aber sich ergänzend und immer zusammengehörend.) Analysieren wir die Drucktechnik, den medialen Träger, usw., des Gedichts, werden wir kaum die Schönheit der vom Leser (Beobachter) empfundenen Gefühlswelt, die „innere“, geistige Welt, die Information, nachempfinden bzw. verstehen. Die Art der textlichen Codierung, also Grammatik, Versmaß, etc., ist eigentlich nur eine Art „Schriftkunde“ eines, die „äußere“ Welt beschreibenden Code – und transportiert nur die Lyrik der äußeren Welt.

Allgemein gesagt: Wir nähern uns einem Verständnis der Dinge und Abläufe im Sein erst an, wenn wir die Schriftkunde in der Naturbeschreibung, die in den Naturwissenschaften die Mathematik ist, nur als codierten Text begreifen und die „Lyrik der Natur“, die sich in den mathematischen Abbildungen offenbart, empfinden – was eher als ein intuitives Erkennen der Welt zu sehen ist. Manch einem Forscher wird es so ergehen, wenn er zum Beispiel die Schönheit der die Raum-Zeit beschreibenden „Allgemeinen Relativitätstheorie“ oder die kunstvolle Darstellung der Quantentheorie empfindet und die Ausstrahlung der kunstvoll zusammengefügten Natur des Seienden in der „physikalischen“ Lyrik genießt.

Oder auf andere Weise anschaulich geschildert: Betrachten wir beispielsweise die Suche von Physikern nach einer mathematischen Systembeschreibung der Welt als Ganzes, der Gesamtheit aller Dinge im Sein, so stellen wir fest, dass es auf die Konstruktion einer Semantik, einer Art „Grammatik“, einer die Welt beschreibenden Schrift hinausläuft. Die Formeln und Theorien der Physik verkörpern beispielsweise diese „Schriftkunde“. Ein „Schriftgelehrter“, der die Welt gut beschreibt, muss sie allerdings noch lange nicht „Verstehen“. Die Naturbeschreibung im Rahmen einer Schriftkunde kann, den Worten von Werner Heisenberg folgend [9], von faszinierender Schönheit sein und kann dort, wo sie sich noch nicht experimentell überprüfen lässt und aus reinem Denken entspringt, von Kunst kaum zu unterscheiden sein. Erst wenn wir diese Kunst in der Darstellung der Natur, die in der Physik hauptsächlich eine mathematische Schriftkunde ist, empfinden, nähert sich unser geistiges Selbst der Wahrheit über die Natur – sind die „inneren“, geistigen Projektionen geeignet genährte Abbilder der „äußeren“ Wirklichkeit. Erst wenn wir die Lyrik in dieser Naturdarstellung spüren, fangen wir an, einen Seinsinn zu erahnen. In der fernöstlichen Denkweise würde man sagen: „Wir empfinden das Tao in der Naturwissenschaft“.

Wir sollten also akzeptieren, dass es für das Erkennen der Wirklichkeit um und in uns förderlich ist, zwei unterschiedliche Betrachtungsweisen zu pflegen: Erstens, die Sichtweise auf die innere Welt in unserem geistigen Selbst und zweitens, die Perspektive auf die äußere Wirklichkeit. Akzeptieren wir beide, so ist es gewinnbringend den Betrachtungen von Max Planck [2] folgend, das Spannungsfeld zwischen den mystisch-religiösen und den rational-materialistischen Denkweisen dadurch aufzulösen, indem wir fragen: „Welche grundsätzlichen mystischen Erfahrungen in unserem Selbst werden den Gläubigen ermöglicht und was für Glaubenssätze sind für eine echte Religiosität notwendig.“ Und andererseits: „Auf was für eine Weise erkennen und aus was für Grundannahmen folgern wir die Gesetze, die uns die Naturwissenschaft lehrt.“ Und schlussendlich: Welche grundsätzlichen Annahmen gelten in beiden Denkweisen als unantastbar und wahr – und nicht beweisbar.

Der religiöse Schwarm

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