Читать книгу Der religiöse Schwarm - Harald Gerhard Paul - Страница 7
1. Einleitung
ОглавлениеKaum einer bleibt von den Folgen der ökonomischen Globalisierung verschont. Fast jeder ist sich darüber im Klaren, dass sein Leben auf einschneidende Weise dadurch beeinflusst wird. Aber Wenigen ist bewusst, welche Veränderungen der, auf vielfältige Weise zu spürende, sozio-kulturelle Globalisierungsprozess auf uns und unser Zusammenleben hat - und zwangsläufig haben wird. Sozialsysteme, Wissenschaften, Kunst und vieles mehr setzt in einem nie da gewesenen Ausmaß auf Wissenstransfer, internationale Kooperation und kulturellen Austausch. Davon sind aber im hohen Maße auch die moralischen Normativen in den verschiedenen Kulturregionen betroffen. Einst bildeten sie sich in einem maßgeblich selbstständig verlaufenden, sozio-kulturellen Prozess heraus. Dabei spielten die in den entsprechenden Kulturregionen dominierenden Religionen eine wesentliche Rolle. Diese, sich herausbildenden moralischen Normativen können aber, wegen ihrer verschiedenen sozio-kulturelle Geschichte, naturgemäß sehr voneinander abweichen. Es ist darum wenig verwunderlich, dass die Denk- und Verhaltensmuster der Menschen aus verschiedenen Kulturregionen große Unterschiede aufweisen. Gegenwärtig beobachten wir, dass tief verwurzelte Verhaltensnormen von Menschen und Gemeinschaften vermehrt auf die der anderen Kulturkreise treffen. Die dabei zutage tretenden Gegensätze provozieren oft genug heftige Vorurteile, Unverständnis und Intoleranz. Beispielsweise hat in der derzeit, überwiegend durch Gewalt und ökono-sozio-kulturelle Zwänge verursachten Migrationsbewegung jeder Zuwanderer diese Unterschiede im Gepäck. Und diese müssen dann oft in neuen, engen Lebensräumen ausgelebt werden.
Diese Unterschiede im Denk- und Verhaltensmuster werden besonders in den Wechselbeziehungen zwischen den großen Weltreligionen sichtbar. Im Verlaufe der sozio-kulturellen Globalisierung stoßen zunehmend, jeweils als fremdartig gesehene, religiös-motivierte Denk- und Verhaltensmuster aufeinander. Diese Entwicklung wird verstärkt durch unsere mediale Kommunikation, beispielsweise durch die sozialen Medien. Es bilden sich weit über den persönlich kontaktierbaren Bekanntenkreises hinaus gehende, geistige Vernetzungen im Wissen und Denken. Diese Netzwerke entfalten eine Eigendynamik, da hinreichend ausgedehnte Informationsnetzwerke ein systemisches, ein sogenanntes emergentes Wissen und Denken entwickeln. Dieses folgt prinzipbedingt aus den Verknüpfungen, den Vernetzungen, von individuellen Wissen und Denken - und nicht allein nur aus ihrer Summe. (Emergenz bedeutet: Die Eigenschaften eines Systems von Elementen folgen nicht nur aus den Wesensmerkmalen der einzelnen, isolierten Elemente, sondern sie sind systemischer Art.) Dieses übergeordnete Wissen und Denken ist ein Schwarmwissen und Schwarmdenken der emergenten Kontaktgemeinschaften, - das in Folge zwangsläufig zu einem Schwarmhandeln führt. Unser Faktenwissen, unsere persönlichen Denk- und Sichtweisen müssen demzufolge nicht notwendig zu einem, für uns Einzelwesen nachvollziehbaren Denken und Handeln unserer Schwarmgemeinschaft führen. Dieses kann für uns oft völlig unverständlich sein. Es sind eben qualitativ neue, systemische Denk- und Verhaltensweisen. Wie oft schon stellten wir mit Erstaunen fest, dass die uns bekannten, persönlichen Meinungen kaum mit der für uns ersichtlichen Gemeinschaftsmeinung übereinstimmt. Fremd ist es uns nicht, dass - trotz individuell menschlichen Denkweisen - der Gemeinschaftsschwarm, aus der Sicht des Einzelnen, sogar unmenschlich handelt.
Im gleichen Sinne baut sich, aus den mystisch-religiös motivierten Denk- und Handlungsweisen in den Glaubensgemeinschaften, eine systemische Religiosität, ein religiöses Schwarmwissen und Schwarmdenken, auf.
Was bedeutet das für uns, für unsere emergenten Kontaktgemeinschaft bzw. Schwarmgesellschaft? Wie können wir die Denk- und Handlungsweisen einer religiösen Schwarmgemeinschaft oder, allgemeiner betrachtet, eines „Kulturschwarms“ beeinflussen, - um etwa eine Konflikte eindämmende, sozio-kulturelle Balance im Verlauf der Globalisierung zu ermöglichen?
Da die emergenten, systemischen Verhaltensmuster der Schwarmgemeinschaften sich auf die Verknüpfungen zwischen den Schwarmmitgliedern gründen, müssen wir zu allererst die soziale Kommunikation, unter uns verstärken. Dies ist eh eine, unabhängig von uns ablaufende Entwicklung. Und sie wird wesentlich durch unsere mediale Vernetzung, beispielsweise den sozialen Medien, angetrieben – und befördert damit, ob wir das begrüßen oder nicht, objektiv maßgeblich die sozio-kulturelle Globalisierung. Es bilden sich durch sie, die notwendigen, weit über den persönlich kontaktierbaren Bekanntenkreises hinaus gehenden, geistigen Vernetzungen. Der Grad der Verknüpfung im Informationsnetzwerk unserer Schwarmgemeinschaft allein schafft jedoch keine sozio-kulturelle, globale Balance, - sondern nur die Voraussetzung dafür. Erst wenn das von uns transportierte Wissen und Denken der Wahrheitssuche, der Toleranz, dem Mitgefühl verpflichtet ist, kurz eine ethische Essenz in sich trägt, baut sich ein Schwarmverhalten der Gemeinschaft auf, das objektiv konfliktdeeskalierend wirken kann.
Um das zu befördern, sollte sich jeder von uns über das Faktenwissen und das Denken seiner „nächsten“, direkten sowohl als auch medialen Nachbarn informieren, sollte Gemeinsamkeiten mit ihnen suchen und finden wollen. Kurz, jeder muss Einsicht in die Notwendigkeit der Annäherung an die Denkweisen der „Anderen“ entwickeln, ohne hierbei seinen Widerspruch zu lassen. Könnten wir dies beispielsweise in das mystisch-religiöse Denken der unterschiedlichen Weltreligionen einpflegen, wäre wahrscheinlich ein Zugang in einen globalen Religionsfrieden gefunden und das Konfliktpotenzial im Schwarmdenken religiöser Kontaktgemeinschaften zumindest minimierbar. Wir sollten uns hierbei so verhalten, dass unser Wissen und Denken weder in der Beliebigkeit einer chaotischen Meinungsvielfalt noch im Strom einer Einheitsmeinung ertrinkt.
Um sich über das Faktenwissen und das Denken seiner nächsten, direkten als auch medialen Nachbarn eine Meinung zu bilden, brauchen wir notwendigerweise die Möglichkeiten einer „freien“ Meinungsbildung. Leider ist die sich über die Menschen der unterschiedlichen Kulturregionen, in einem bisher unbekannten Ausmaß, ergießende Informationsflut vom Einzelnen kaum noch zu verarbeiten und zu bewerten. Normative „Fakten“, richtunggebendes Denken und Gesinnungen, faktisch kolportiert, entziehen sich in ihrer medialen Flussgewalt oft der persönlichen Wertung. Man schwimmt im Mainstream der Meinungen, der behaupteten Einheitsmeinung, ist nicht selten unfrei in der Urteilsfindung, da die Gewalt einer eingebildeten oder tatsächlichen Mehrheitsmeinung - oft genug von Interessengruppen manipuliert - die eigene Meinungsbildung überflutet. Mit zufallsgesteuertem oder manipuliertem Wissen zugeflutetes Denken kann durch Aufräumen oder erfrischend kritisches Hinterfragen freigelegt werden. Allerdings sind die, auf Unwissen oder eingebildetes Wissen gewachsenen Denk- und Sichtweisen nicht oder kaum änderbar. Sie sind gefährlich, können absurde Verschwörungstheorien produzieren und vermögen in geistigen Extremismus führen, zu gewaltbereite Ideologien mutieren. Auf Unwissen ruhende Meinungen können vor allem dann unheilvolle Wirkgewalten entwickeln, wenn sie auf Denk- und Verhaltensweisen aus „fremden“ Kulturen prallen, wenn sie auf moralische Normative treffen, die mit dem Eigenen schwer vereinbar scheinen und wenn sie obendrein religiöser Natur sind. Im Verlauf der sozio-kulturellen Globalisierung spielt deshalb das Aufeinandertreffen mystisch-religiöser Überzeugungen eine wachsend beunruhigende Rolle, da diese annähernd 98 % der Weltbevölkerung [1] dominieren oder zumindest beeinflussen.
Nicht Wenige empfinden religiös geprägte Erfahrungs- und Glaubenswelten als nicht real und oft als nicht akzeptabel. Dies mündet, insbesondere wenn die Gläubigen aus fremden Kulturkreisen kommen, oft in eine Ablehnung ihrer religiösen Kultur und damit leicht auch in eine Abneigung gegenüber ihrem kulturellen Lebensumfeld, dem „kulturell Fremden“, - was bis zur feindseligen Distanz gehen kann. Andere verspüren dagegen Neugier auf andersgeartete Kulturen, auf die sie prägenden, mystisch-religiös motivierten Denk- und Handlungsweisen. Sie erleben diese oft als exotisch empfundene Bereicherung. Wir sollten aber beachten, dass hier neben Chancen ebenso Gefahren lauern.
Aus den Chancen erwachsen uns Fähigkeiten, Verständnis und Toleranz in Bezug auf das Denken und Handeln anderer, „fremder“ Mitmenschen. Unsere soziale und kulturelle Empathie wird geweitet. Die ungewohnten Denk- und Handlungsweisen provozieren neue, unter Umständen fremdartig erscheinende Sichtweisen auf die uns erfassende Natur, ermöglichen ein neuartiges Verständnis. Zum Beispiel suggerieren fernöstliche Weisheitslehren durchaus faszinierende Denkanstöße für die Lösung fundamentaler, physikalischer Fragen. Gefahren dagegen erwachsen beispielsweise aus eine, wertvolle Unterschiede nivellierende Durchmischung, aus religiösen oder kulturellen Dominanzstreben, aus Intoleranz oder aus der Illusion „Wissender“ zu sein.
Das Unwissen oder die Illusion von Wissen über die sozio-kulturellen Besonderheiten der Kulturregionen unserer Welt, provoziert zu allen Zeiten, vornehmlich zwischen den Gläubigen der Weltreligionen, ein gefährliches Konfliktdenken. Im Verlauf der gegenwärtig zu beobachtenden sozio-kulturellen Globalisierung hat dieses Konfliktdenken globale Auswirkungen. Es entwickelt Krisenwirkungen, die uns alle treffen. Führt das Konfliktdenken zum Beispiel in die Illusion, den einzig „wahren“ Glauben zu besitzen, suggeriert dies bei nicht wenigen Gläubigen schnell ein religiös motiviertes Sendungsbewusstsein, das leider in die fanatische Bereitschaft für geistige, bis hin zur körperlichen Gewalt gegenüber den Andersdenkenden münden kann. Diese Gewaltbereitschaft verkehrt nicht nur die ethische Essenz der Weltreligionen, sondern sie diskreditiert die Religiosität in ihrer Gesamtheit. Die jeweilige Religiosität ist mehr denn je von entscheidender Bedeutung in den Kulturgemeinschaften, da sie nach wie vor die Herausbildung moralischer Normativen für das Zusammenleben der Menschen und der Menschengemeinschaften dominiert. Ein religiös motiviertes Konfliktdenken findet selbstverständlich Eingang in diesen Prozess, prägt die „Umgangsformen“ zwischen den Menschen als auch zwischen den Gemeinschaften. Es vermag kulturelle Spannungspotenziale anzuheizen und in unserer, global vernetzten Welt zu gefährlichen Konflikten führen. Denn zu allen Zeiten haben Machthydren diese Spannungspotenziale genutzt, um opferbereite Anhängerschaft für die Durchsetzung ihrer wirtschaftlichen und machtpolitischen Interessen zu sammeln.
Man könnte der Versuchung erliegen, die religiös-motivierten Spannungspotenziale zwischen den Gläubigen der Weltreligionen abzubauen, indem man die Religiosität, die auf nicht beweisbare Glaubenssätze aufbaut, mit atheistischem Gedankengut infiltriert. Das ist durchaus nicht abwegig, denn auch das rational-materialistische Denken im Atheismus nutzt als wahr geglaubte, nicht beweisbare, grundsätzliche Glaubenssätze - die es beispielsweise Axiome oder Prinzipien nennt. Es herrscht ja eh eine weitverbreitete Meinung vor, dass die religiösen Weltbilder mehr Folge eines Wissensdefizits sind und sich vernünftig nicht begründen lassen. Diese Herangehensweise ist auf eine gefährliche Weise zu naiv gedacht. Sie unterschlägt nicht nur die spezifische Rationalität in den mystisch-religiösen Denkenweisen, sondern vor allem die religiös geprägten Erfahrungen der überwiegenden Mehrheit der Weltbevölkerung.
Nun diffundiert gerade gegenwärtig, im Verlaufe der sozio-kulturellen Globalisierung, eine, vor allem in den „westlichen“ Kulturregionen vorherrschende rationale, naturwissenschaftlich geprägte Denkweise vermehrt in „Vorstellungswelten“ hinein, in denen religiöse Erfahrungen einen hohen Stellenwert besitzen. Sie prallt hierbei auf die mystisch-religiösen Weltbilder von Christen (ca. 2,26 Milliarden), von Moslems (ca. 1,55 Milliarden), von Hindus (ca. 949 Millionen), von Buddhisten (ca. 495 Millionen), von Anhängern anderer Glaubensgemeinschaften (zum Beispiel: Agnostiker, Sikhs, „Spiritisten“, Naturreligionen, ca. 1 Milliarde) und auf das chinesische Denken (beispielsweise dem Konfuzianismus und dem Taoismus, ca. 451 Millionen), [1]. Damit stößt die weitgehend als vernünftig betrachtete rational-materialistische Denkweise auf das religiös tangierte Denken von ca. 98 % der Weltbevölkerung. Folglich stehen annähernd 98 % der Menschen, deren Weltsichten durch mystisch-religiöse Erfahrungen dominiert oder zumindest beeinflusst werden, ca. 2 % „bekennende“ Atheisten (ca. 137 Millionen, weltweit) gegenüber [1]. (Die Zahl der den jeweiligen Religionen zu zuordnenden Gläubigen bzw. der Atheisten entspricht der Erfassung im Jahr 2012 [1]. Sie schwankt je nach Quellenlage und Zuordnungskriterien. Auch änderte sich die Weltbevölkerung von den hier zugrunde gelegten ca. 6,896 Milliarden auf ca. 7,675 Milliarden im Jahr 2017 mit den entsprechenden Zugängen bzw. Abgängen in der Anhängerschaft. Im Wesentlichen änderten sich aber die prozentualen Größenordnungen nicht [1].)
Für eine beachtliche Mehrheit der Weltbevölkerung spielen religiöse Erfahrungen also eine bedeutsame Rolle. Darum wird - im Verlauf der sozio-kulturellen Globalisierung - eine Koexistenz zwischen rational-materialistischen und mystisch-religiösen Denkweisen unvermeidlich sein.
In dieser faszinierenden Koexistenzzone tragen nicht wenige dann leider oft genug, unzulässigerweise die Wissenschaft in die Mystik oder die Mystik in die Wissenschaft. Es ist erstaunlich, was für realitätsfremde Weltbilder sich hierbei entwickeln.
Indes befinden sich Menschen, die sich gewollt oder unbeabsichtigt darum bemühen mit beiden Denkweisen zurechtzukommen, in guter Gesellschaft mit herausragenden Naturwissenschaftlern. Diese Wissenschaftler suchten ein Verständnis des scheinbar nicht auflösbaren Gegensatzes zwischen Religion und den Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaften. Sie verfassten dazu kluge Vorträge und schrieben exzellente Bücher. Im „Das Tao der Physik“ [3] versucht Capra das Verhältnis zwischen den gegenwärtigen Einsichten der Physik und Aspekten der fernöstlichen Religion, durch vergleichende Betrachtungen zu erhellen. Sein Buch entwickelte sich zum Bestseller, was zeigte, dass diese gegeneinander abwägende Reflexion nicht nur ein Gegenstand von Fachwissenschaftlern ist, sondern ein Thema, das Viele berührt. In unserer wissenschaft– und technikerfahrenen Welt fragt sich eine beachtliche Anzahl von Menschen, ob und von welcher Art es Schnittmengen zwischen Religionen und Naturwissenschaften gibt. Denn auf der Suche nach solchen Berührungspunkten ist es faszinierend, zu erkennen, dass die mystisch-religiösen Denkweisen nicht immer in einen nicht auflösbaren Widerspruch mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen geraten, wenn man von den archaischen bzw. antiken Denk- und Ausdrucksweisen in den „Heiligen“ Schriften abstrahiert. Mystische Gedankengebäude, vorzugsweise die Denkweisen der fernöstlichen Mystik, bergen in sich manch faszinierende Sicht auf grundlegende Fragen der modernen Wissenschaft. Es drängt sich die Einsicht auf, dass Mystik und Naturwissenschaften sich einander zu begrenzen scheinen, - allerdings hat das Eine im Anderen nichts zu suchen. Jedes für sich scheint für uns Menschen notwendiger denn je. Fritjof Capra [3] brachte es mit den Worten auf den Punkt: „Die Naturwissenschaft ist nicht auf die Mystik angewiesen und die Mystik nicht auf die Naturwissenschaft – doch die Menschheit kann auf keines der beiden verzichten“.
Auf der Suche nach Berührungspunkten zwischen Religionen und Naturwissenschaften und einer gemeinsamen, religiösen Axiomatik der Weltreligionen fragte Max Planck (*1858 – †1947, Nobelpreis für Physik, 1919): „Welche grundsätzlichen mystischen Erfahrungen werden von den Religionen den Gläubigen abverlangt und was für Glaubenssätze sind für eine echte Religiosität notwendig?“ [2].
Die Antwort könnte die Gemeinsamkeiten zwischen den Weltreligionen aufzeigen!
Allerdings behindert eine in der Bevölkerung weitverbreitete Ignoranz, ebenso wie die Illusion über wesentliche Aspekte der Religiosität Bescheid zu wissen, diese Suche nach Gemeinsamkeiten. Viel zu Viele sind kaum vertraut mit den Weltreligionen, mit ihren grundsätzlichen Glaubenssätzen und mit den mystisch-religiösen Erfahrungen der Gläubigen. Darum sind allgemein verständliche Darstellungen dazu nötiger denn je – und vor allem aus der Sicht der Gläubigen. Erst wenn wir in das Erfahrungswissen der Gläubigen, in die mystische Essenz ihrer heiligen Schriften, in das religiöse Gedächtnis ihrer Glaubensgemeinschaft eintauchen, erschließt sich uns ihre Denkweise und die spezielle Rationalität ihrer grundsätzlichen Glaubenssätze. Rituelle Besonderheiten, Feste, Hierarchien in den Konfessionen usw. betonen nur, dass Religionen Menschenwerk sind. Die grundsätzlichen Glaubenssätze, die Wirkpotenziale der ethischen Essenz im mystisch-religiösen Denken der Gläubigen, müssen wir als die „reine“, die eigentliche Religion ansehen.
Auf der Suche nach gemeinsamen Fundamenten eines mystisch-religiösen Denkens in den verschiedenen Weltreligionen ist zuallererst zu klären, was wir unter den Begriff „Mystik“ verstehen wollen. Da es hierzu in der Fachliteratur keinen allgemeinen Konsens gibt, existieren oft unterschiedliche, umgangssprachlich vereinfachte bzw. missverständliche Interpretationen des Begriffs. (Mystik hat rein gar nichts mit Magie zu tun.) Wir wollen hier sowie im Folgenden unter Mystik, wie mehrheitlich gesehen, das vernünftige Wissen um eine einzig allmächtige, geistige, absolute Wirklichkeit verstehen. Diese in allen Weltreligionen als wahr geglaubte Fundamentalannahme (siehe dazu I. religiöse Axiom, Abschn. 2.3.1) ist die Grundlage des mystisch-religiösen Denkens. Diese fundamentale Annahme ist ein grundsätzlicher Glaubenssatz und ein religiöses Axiom, - das als wahr aber nicht beweisbar angenommen wird.
Max Planck - einer der beeindruckendsten Physiker – war in seinen Arbeiten ganz gewiss kein Vertreter mystisch-religiöser Denkweisen. (Er löste ein Erdbeben im naturwissenschaftlichen Denken aus.) Jener strenge Denker durchleuchtete auf eine grundsätzliche Weise den Zusammenhang zwischen Religion und Naturwissenschaft.
In seinem Vortrag dazu [2] fragte er nicht nur nach essenziellen, religiösen Erfahrungen und Glaubenssätzen, die für eine echte Religiosität notwendig sind, sondern auch nach den als wahr angenommenen, grundsätzlichen Glaubenssätzen, aus denen wir die Gesetze der Naturwissenschaft folgern. Diese zwei Fragen provozieren die Frage: Existieren in den Weltreligionen - so wie in den Naturwissenschaften - nicht beweisbare und als wahr geglaubte religiöse Axiome aus denen sich andere Glaubenssätze ergeben, die dann gar keine mehr sind, sondern Schlussfolgerungen? – Und, stellen diese religiösen Axiome die Weltreligionen auf ein gemeinsames Fundament? Und, weiter forsch gefragt: Definieren diese Axiome ein erkenntnistheoretisches Grenzland zwischen den mystisch-religiösen und den rational-materialistischen Denkansätzen?
Es gibt schwerwiegende Gründe für diese Fragen. Denn die Harmonisierung zwischen den verschiedenen Glaubensgemeinschaften ist notwendiger denn je. Aber auch das Spannungsfeld zwischen Naturwissenschaften und Religionen braucht dort, wo es wirkt, ein Abbau der gegenseitigen Ignoranz und der Illusion von Wissen über die jeweils andere Denk- und Schlussweise.
Die Masse der Gläubigen vermittelt in unterschiedlicher Ausprägung den Eindruck, dass eine gegenseitige Akzeptanz und Toleranz in nächster Zukunft eher nicht zu erwarten ist. Eine besondere Gefahr erwächst genau dann, wenn Machthydren religiöse Spannungsfelder benutzen, um ihre Interessen durchzusetzen und ihren Lenkungsanspruch zu festigen – was sowohl in der Vergangenheit als auch gegenwärtig eine verabscheuenswürdige Praxis war und ist. Religiös dominierte Auseinandersetzungen nutzen von je her vor allem herrschenden Machteliten und nicht den „einfachen“ Gläubigen. Religiös motivierter Terror frisst sich allzu oft auch heute noch durch Regionen und trifft Freund und Feind gleichermaßen. Kalte sowie heiße Religionskonflikte treiben Millionen in die Flucht, polarisieren auf beunruhigende Weise sogar die stabil geglaubten, demokratischen Gesellschaften. Darum wird es immer wichtiger auf eine allgemein verständliche Art, nachvollziehbar für jeden, sich auf die Suche nach den gemeinsamen mystisch-religiösen Wurzeln der Weltreligionen zu begeben, um Konfliktdenken abzubauen. Ein für uns alle existenzieller „Weltfrieden“ ist ohne Religionsfrieden nicht zu haben. Dieser Frieden ist leichter erreichbar, wenn wir uns auf einen Kern der Weltreligionen besinnen und die einvernehmlichen Grundannahmen in ihnen erkennen. Stellen wir bei der Suche nach den mystisch-religiösen Wurzeln fest, dass sich die Weltreligionen in einem mystischen Kern ihrer „Offenbarungen“ nahestehen und gemeinsame religiöse Axiome besitzen, wäre eine Universalreligion denkbar, die die Gegensätze zwischen kontrovers gesehene Glaubenssätze aufhebt und trotzdem die religiöse Vielfalt erhält.
Jeder bereitet sich sein eigenes, anschauliches Bild von der, ihn er – und umfassenden Welt. Er besitzt eine Weltsicht, eine Weltanschauung. Sie ist bewusst oder unbewusst Richtschnur seines Urteilens und Handelns. Sie kann sich aus persönlichen Erfahrungen und Überlegungen entwickeln oder komplexen philosophischen Vorstellungen folgen, welche auf verallgemeinerte Beobachtungen und Erkenntnisse einer weitläufigen Bildungsgemeinschaft beruhen. Diese, ganz eigene Weltanschauung kann aus rational-materialistischen Denken als auch aus mystisch-religiösen Denkweisen oder aus beidem folgen. Die aus diesem Zusammenwirken abgeleiteten Erkenntnisse prägen seine Weltanschauung, beeinflussen letztlich seine persönliche Lebensweise. Aus dem Zusammenspiel des personalisierbaren Denkens und Handelns der individuellen Menschen taucht qualitativ anderes auf – ein nicht personalisierbares „Denken“ und „Handeln“ der Schwarmintelligenz einer emergenten Kontaktgemeinschaft. Diese Gemeinschaften, diese Menschenschwärme besitzen systemische Weltanschauungen, die das Zusammenspiel der Kulturen der Menschheit wirkungsstark beeinflussen. Es sind die nicht personalisierbaren „Schwarmintelligenzen“ der Kontaktgemeinschaften, die in letzter Konsequenz über die Überlebensfähigkeit der Menschheit entscheiden. Darum ist die Entfaltung eines Weltethos zwingend nötig, da es sozio-kulturelle Wirkungen öffnet, die moralische Normativen sowohl für den Einzelnen als auch für die Kontakt- bzw. Menschengemeinschaften schafft und die Gegensätze zwischen den Weltreligionen ausbalancieren kann. Die religiös dominierten, nicht personalisierbaren Schwarmintelligenzen können damit ein zusammenführendes ethisches Handeln der Weltreligionsgemeinschaften entwickeln. Die systemische, ethische Essenz der Schwarmintelligenz der emergenten Kontaktgemeinschaften der Menschen definiert letztlich eine Seinsethik, einen Seinsinn „Leben“, ein „Tao-Aspekt“ der Menschheit! (Der Taoismus betrachtet die „Lebenswege“ der Natur um und in uns. Dieser ausdrücklich nur über ihren Wandel beobachtbare „Lebens“-Pfad alles Seienden im Sein, ist der nicht benambare Seinsinn, ist das Tao. (Kap. 4, Abschn. 4.4.2))
Hierbei spielen Weisheitslehren der Weltreligionen, schon aufgrund der überwältigenden Zahl der Gläubigen, eine nicht auf die leichte Schulter zu nehmende Rolle. Sie prägen die moralischen Normativen, die sich im Rahmen der sozio-kulturellen Evolution herausbilden. Dies zu unterschätzen führt oft zu herablassender Verunglimpfung mystisch-religiöser Denkweisen.
Darum wird im Folgenden versucht, für jedermann nachvollziehbar, eine, auch für rational-materialistische Denkweisen tolerierbare, multi-religiöse Wissens- und Denkkultur zu verbreiten.
Aufgrund der Vielzahl „Heiliger Schriften“ und religionswissenschaftlicher, theologischer oder philosophischer Abhandlungen zum Thema ist hier keine Vollständigkeit in den Darstellungen möglich. Wir werden im Folgenden versuchen, aus der Sicht der Gläubigen aber für jedermann nachempfindbar, nur auf wesentliche Gesichtspunkte der jeweiligen mystisch-religiösen Denkweisen in den Weltreligionen Bezug zu nehmen. Sicher wird einiges für den Leser nicht gleich greifbar sein. Es wird vorkommen, dass für den Einen oder Anderen manche Aussagen nicht sofort nachvollzogen werden kann. Das ist kaum verwunderlich bei dieser konfliktträchtigen Thematik. Vielleicht hilft dann ein wiederholtes Lesen oder auch einfach ein Überspringen der entsprechenden Abschnitte. Als Lohn könnte dem Leser eine ganz eigene, tolerante Sicht auf das ach so komplizierte Verhältnis zwischen den Gläubigen der verschiedenen Weltreligionen und zwischen den mystisch-religiösen und rational-materialistischen Denkweisen gelingen. Er wird dann hoffentlich erkennen, dass es ein Weltethos gibt, das vor den Religionen und dem atheistischen Denken rangiert.