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2.5 Der lange Weg zum mystischen Denken

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Eine konstante Größe in der Geschichte des Menschengeschlechts ist die Neugier. Schon immer wollten Menschen das oft geheimnisvoll erscheinende Naturgeschehen entschleiern. Warum passiert das, warum passiert jenes? Und vor allem weshalb geschieht es mir oder uns? Gibt es eine Ursache dafür, dass diese, mein Selbst umfangende Welt, mich so bedrängt, treibt, Glück über mich ausschüttet und im nächsten Augenblick alles Schöne zunichtemacht? Wenn es denn mal gut geht, weswegen bleibt es nicht dabei? Was soll dieser ständige Wandel und warum muss alles, was lebt, wieder verfallen? Was für Ursachen sind dafür verantwortlich? Können wir durch die Beeinflussung der Wirkursache das Geschehen manipulieren?

Zu allen Zeiten fragt beispielsweise ein Landwirt: „Wann ist der günstigste Zeitpunkt zur Aussaat?“ Heutzutage können wir Meteorologen fragen und die wissen um wir grundlegende Zusammenhänge im Wettergeschehen. Zum Beispiel trifft hoher Luftdruck aus dem feuchten, heißen Süden auf ein kaltes Tiefdruckgebiet im Norden, so kühlt sich der warme Wind aus dem Süden ab und die abgekühlte Luft kann die Feuchtigkeit nicht mehr im ausreichenden Maße halten. Es regnet. Aber die kalte Luft erwärmt sich, der Wassergehalt der Luftschicht erschöpft sich und es hört langsam auf zu regnen - oder nicht. Irgendetwas stört wieder einmal die schöne Vorhersage. Aber wir, bzw. die Meteorologen, wissen zumindest um die Zusammenhänge im Wettergeschehen und können mehr oder weniger genau die Wetterlage voraussagen.

Aber wen befragten die Bauern weit vor unserer Zeit, wenn sie den so überlebenswichtigen Termin für die Aussaat festlegen mussten. Meteorologen gab es noch nicht, die physikalischen Vorgänge, die das Wetter bestimmen, waren im Wesentlichen unbekannt. Sie hatten nur ihre Erfahrungen, ihre sogenannten Bauernweisheiten, die sie von Generation zu Generation weitergaben - oder Wissen von „gelehrten“, die Natur beobachtenden Weisen dieser Zeit. Sie wussten nicht, dass aus einer Region mit hohem Luftdruck Winde in ein Gebiet mit niedrigem atmosphärischen Druck wehen müssten, dass warme Luft mehr Luftfeuchtigkeit speichern kann als kalte Luft. Sie hatten eben nur ein aus Erfahrung und Betrachtung der Natur gewachsenes Wissen.

In der weit entfernten, antiken Vergangenheit waren es oft die „Weisen“ oder die „Priester“ der menschlichen Gemeinschaft, die durch systematische Beobachtung von Sternkonstellationen, im Vergleich mit anderen Erscheinungen der Natur eine gewisse gesetzmäßige Wiederkehr von Wetterbedingungen beobachteten. Dies teilten sie ihrem Clan oder ihrer Glaubensgemeinschaft mit, - und begründeten damit oft genug einen Machtanspruch. Im antiken Ägypten war die Vorhersage der jährlichen Überschwemmungen in den Flussniederungen des Nils lebensnotwendig für die Landwirtschaft. Die für damalige Verhältnisse hohe Bevölkerungsdichte verlangte gute Erträge auf den Getreidefeldern. Das Nilwasser überschwemmte nicht nur einen breiten Streifen seiner Uferregion und die darin liegenden Felder, sondern düngte diese auch mit seinem fruchtbaren Schlamm. Was für ein Wissen für diese Zeitepoche, mittels der wiederkehrenden Sternstellungen, diesen Zeitpunkt der Überschwemmungen voraussagen zu können. Welcher Einfluss erwuchs aus der Fähigkeit das Land, nach der Überflutung, neu zu vermessen und damit Eigentum festzulegen. Es wusste keiner vom Regen im Gebiet um den Victoriasee im tiefen Süden, die den Nil speisten. Es kannte niemand die dortigen, jährlichen Schwankungen der Niederschläge, die den Pegelstand des Nils bis zu acht Meter ansteigen lassen konnten. Eine, wie immer geartete göttliche Macht wurde gesucht, die verantwortlich war für das Verhalten des Flusses.

Für die Menschen musste derjenige, der dies voraussagen konnte, eine spezielle Stellung und Nähe zu dieser göttergleichen Macht besitzen. Was für ein Herrschaftswissen, was für ein Hebel, um „priesterlichen“ Einfluss zu entwickeln. Was für das Wettergeschehen galt, galt bald für andere Lebensumstände. Die Entwicklung des Glaubens an ein System göttlicher Gewalt wurde oft erbarmungslos durch das Streben nach Macht, von einzelnen Menschen und von Interessengruppen vorangetrieben.

Trotzdem entwickelte sich der Glauben an eine göttliche Macht immer und zu aller erst durch die Fragen nach den Ursachen für das übermächtige Wirken der Natur.

Aber die elementare Hoffnung auf einen barmherzigen, helfenden Gott wurde immer wieder geträumt. Man hoffte auf eine göttliche Macht, deren Essenz ethisches Empfinden war, - so wie es zu dieser Zeit eben verstanden wurde.

Die Sorge vor einer übermächtigen und geheimnisvollen Natur zwang die Menschen zu allen Zeiten sie wachsam zu beobachten und sich vor ihr in Acht zu nehmen. Denn sie wurden ja nicht nur von der sie umgebenden Natur, sondern außerdem von ihrer eigenen bedrängt. Zu jeder Zeit versuchten einige Neugierige in der menschlichen Gemeinschaft ihre Umwelt zu verstehen, zu analysieren - und wenn möglich, sie in ihrem Sinne zu nutzen. Ging diese analysierende Neugier verloren, beispielsweise in religiösen Konflikten oder in Kriegen oder starben gar die neugierig Fragenden aus, so erloschen die Gemeinschaften samt ihrer Kultur. Diese Kulturgemeinschaften versanken dann im Dunkel der Vergangenheit. Von ihr blieben, wenn überhaupt, geheimnisumwitterte Kulturgüter – oft mühsam dem Vergessen entrissen. So beispielsweise geschehen mit der Gemeinschaft der Minoer auf Kreta. Erste Hinweise auf sie finden sich vor ca. 5319 Jahren. (Die Zeiträume sind umstritten aber in ihrer Größenordnung allgemein akzeptiert). Diese minoische Kultur entwickelte sich auf Kreta und erreichte einen außergewöhnlich hohen Stand. Die Paläste dieser Zeit waren in dieser Epoche wirtschaftliche und kultische Zentren. Es bildeten sich längst Städte heraus. Beispielsweise hatte man schon eine funktionierende Trink- und Abwasserversorgung. Der heute bekannteste Palast im minoischen Kulturkreis ist Knossos auf Kreta. Diese außergewöhnliche Hochkultur erblühte in der Jungsteinzeit und fand ihr Ende so zwischen den Jahren 1500 – 1430 v. Chr. aus bis heute ungeklärten bzw. umstrittenen Umständen. Kreta geriet unter den Einfluss mykenischer Festlandgriechen, die die minoische Kultur einige Zeit fortführten. Aber wo blieb die Gemeinschaft der Minoer? Wahrscheinlich wurde sie nach Naturkatastrophen und kriegerischen Ereignissen aufgerieben und der Rest durch Überfremdung und von Eroberern assimiliert. Eines ist gewiss. Der ungeklärte Untergang dieser erstaunlichen Kultur ist verbunden mit einem geheimnisvollen „Aussterben“ der Kulturträger dieser Epoche – trotzdem ein minoischer Kulturexport nachweisbar ist. Die Forschenden starben aus, wurden assimiliert oder hatten in ihrem Überlebenskampf keine Zeit mehr für neugieriges Hinterfragen.

Wie so oft verschwinden mit den Lehrern auch die Schüler. Der Bestand von Kulturregionen sowie die kulturell-soziale Evolution von Menschengemeinschaften braucht effiziente Gemeinschaften von Forschenden, Lehrerenden und Lernenden. In dieser Kommunität von Neugierigen ist die Vielfalt der Meinungen essenziell. Sie liefert den notwendigen Wettstreit zwischen rationalen Sichtweisen und ist die Voraussetzung für die Dynamik im Wissenszuwachs.

Das kann aber auch zu schrecklich gegensätzlichen Ansichten führen, wenn die jeweiligen Denkweisen nicht koexistieren. Das wird beispielsweise im Verhältnis zwischen rational-materialistischen und mystisch-religiösen Denken deutlich. Oft tritt dies beim Aufeinandertreffen der Gläubigen der Weltreligionen auf. Eine Wand aus Un– und Missverständnis kann eine fanatisch vertretenen Religiosität heranbilden.

Zum Beispiel erleben wir alle das religiöse Spannungsfeld zwischen dem Islam und den anderen Weltreligionen, insbesondere dem Christentum und den aus christlichen Werten gewachsenen Kulturen. Im mystisch–religiösen Denken glauben zwar alle an die einzige, allmächtige, geistige Wesenheit „Gott“, die das Sein aus- und erfüllt und deren ethische Essenz Seinsinn stiftend ist und für individuelle Lebensformen aspekthaft erfahrbar ist. Aber der Islam betrachtet gleichwohl die Gläubigen der anderen Weltreligionen als Ungläubige. Beispielsweise offenbart sich Gott dem Gesandten und Propheten Mohammed in Sure 112 des Korans als: der Eine, der Alleinige, der Allmächtige, der weder geschaffen wurde, noch andere göttliche Wesenheiten erschafft. Aus diesem Gotteswort heraus verurteilt der Islam den Glauben an verschiedene Wirkmanifestationen Gottes, die im Christentum durch die Dreieinigkeit (Trinität) „Gottvater, Jesus Christus, Heiliger Geist“ ausgedrückt wird, oder die im Hinduismus durch die drei kosmischen Operatoren (Trimurti): „Erzeuger Vishnu, Bewahrer Brahma, Zerstörer Shiva“ dargestellt wird. Dies ist nicht das einzige Un– oder Missverständnis, - aber mutmaßlich das Wesentliche. Die fanatische Verfechtung dieser scheinbar unterschiedlichen Interpretationen führte und führt zu gewaltigen und gewalttätigen Auseinandersetzungen, die zusätzlich für machtpolitische Interessen genutzt werden.

Nicht nur in den mystisch-religiösen Denkweisen der Weltreligionen, sondern auch im wissenschaftlichen Denken können die Erkenntniswege in Sackgassen enden. In ihnen entfalten sich dann oftmals Auswege suchende, konkurrierende Weltsichten. Die Neugierigen, die Forschenden, verliefen sich zu allen Zeiten immer wieder mal in solchen Sackgassen.

Selbst in unserer doch ach so erfolgreichen Zeit suchen seit fast einem Jahrhundert viele scharfsinnige Forscher eine „Weltformel“ bzw. nach einem Modell von „Allem“, vom „Sein“. Das läuft darauf hinaus, dass ein universelles Prinzip gesucht wird, aus dem alle gesetzmäßigen Zusammenhänge, das bedeutet, die Gesamtheit der von uns beobachteten Kräfte der Natur folgen. Im Prinzip sollte in solch einem Weltmodell die Naturgesetzlichkeit des Kosmos und unsere Rolle in ihm abgebildet werden! Oh je, was für ein Anspruch! Man sucht eine Theorie für die Abbildung aller Dinge des Seins in unserem „Bewusstsein“. Einige fundamentale Zusammenhänge zwischen den grundsätzlichen Kräften, die die Welt - gemäß unserer gegenwärtigen Kenntnisse - zusammenhalten, wurden ja gefunden. Zum Beispiel fand man heraus, dass die elektrischen und die magnetischen Kräfte die Wirkungen einer einzigen Kraft, der elektromagnetischen Kraft, sind. Sie ist gut verstanden und wird in jedem Haushalt nutzbringend angewendet. Beispielsweise kennen wir sie alle in ihrem Wirken in Antennen von Radios, Handys, etc.. Später wurden die Kräfte der Radioaktivität und die elektromagnetischen Kräfte als Wirkung einer einheitlichen, fundamentaleren Kraft, der elektroschwachen Kraft, erkannt. Aber der große Zusammenhang für „Alles“ erschließt sich seit Jahrzehnten nicht! Mutmaßlich ist nur die Frage nach einer „Weltformel bzw. Theorie für Alles“ paradox. Die den Erkenntnisweg begrenzende Steilwand existiert ja, genauer gesagt, in den Abbildern der Realität in unserem Bewusst-Sein. Wir haben vermutlich nur die falsche Denkweise. Vielleicht wird eine, das rational-materialistische Denken eingrenzende, mystisch-religiöse Sichtweise außer acht gelassen. Wir stellen faktisch die falschen Fragen und erhalten somit nur falsche Antworten. Aber mutmaßlich ist der Anspruch eine „Weltformel für alles“ zu finden nur eine, bei Physikern ja oft beliebte, fantasiereich-bunte Formulierung für eine programmatische Zielführung in der Grundlagenforschung. Zumindest führt diese ergebnislose Suche nach allumfassender Welterklärung zu aufgeregten und faszinierenden Diskussionen zwischen den Verfechtern der unterschiedlichen Weltmodelle … und schwappen manches Mal sogar ins öffentliche Interesse. Zu früheren Zeiten, zum Beispiel in der Antike, führten solche Auseinandersetzungen zwischen den Welterklärungsvorstellungen manchmal zu heftigsten Konflikten meist religiöser Art, - und konnten zu Kriegen und zum Untergang von Weltbildern, Religionen und ganzer Kulturen führen. Das erscheint uns heute absurd.

Häufig bewegten sich die Forschenden auf geheimnisvollem Terrain, - wenn Unverstandenes sie bedrängte. Vor allem in der Frühzeit der Menschheitsgeschichte flüchteten sich dann oft genug die Menschen und ihre Weisen in die Vorstellung, dass magische Kräfte die Ursache mancher Ereignisse wären. Wie sollten sie auch in der Urzeit oder der Antike beispielsweise ein Gewitter verstehen. Noch heute lässt uns die Naturgewalt eines kräftigen Sommergewitters einen Schauer den Rücken herunter gleiten. Wir fühlen intuitiv die Gewalt der Naturvorgänge. Die germanischen Stämme glaubten, wenn es blitzte und der Donner grollte, beispielsweise an das Zuschlagen des magischen Kriegshammers Mjöllnir, des Blitzhammers des Gottes Thor. Die antiken Griechen nahmen statt Thor den Gottvater Zeus, der ebenfalls strafend diese mächtigen Naturgewalten auf das hilflose Menschengeschlecht feuerte. Das unverstandene Naturgeschehen wurde mit dem märchenhaften Wirken von Göttern in Zusammenhang gebracht.

Der Schritt von den magisch agierenden Göttern ohne Allmacht, zu einer Mystik mit einem einzigen, allmächtigen Gott wurde sehr zögerlich, in einigen Kulturkreisen, getan. In den antiken Hochkulturen Ägyptens, Mesopotamiens, des Industals und am Jangtsekiang entfalteten sich mystische Denkweisen, die in der Folge zu monotheistischen Religionen wurden.

Im mykenischen und im altgriechischen Kulturkreis entwickelte sich aus dem magischen Götterglauben ein spezielles „griechisches Denken“, aus der unsere „westliche“ oder abendländische Denkweise und Philosophie im Wesentlichen hervorging. Deshalb wollen wir formal und verallgemeinert dieses „griechische Denken“ ebenfalls als eine Art „Weltreligion“ betrachten. Denn im „griechischen Denken“ wurde zweifellos nach sogenannten letzten Wahrheiten im Sein, nach mystischem Wissen, gesucht, - ohne dabei unbedingt die magische Götterwelt ihrer Zeit aufzugeben. Als aufgrund wachsender Einsichten in das Naturgeschehen die Götter, die hinter diesem Geschehen stehen sollten, immer weniger notwendig wurden, fielen sie nach und nach aus der Naturbetrachtung heraus. Im Bemühen um ein rationales Verständnis der Welt und des Daseins gelangten antike Gelehrte, wie Sokrates, Buddha, Konfuzius, Lao-zu, Zarathustra zur Erkenntnis, dass alles Seiende in zwei Kategorien zerfällt: In Materielles und Geistiges (in Energie und Information würde man heute sagen). Und der dem Lebendigen zugeordnete „Geist“ evolutionierte zum geistigen Selbst in unserer Daseinsform, von einigen „Seele“ genannt (Abschn. 2.3.2). Diese sehnt sich, so wird als wahr geglaubt (Abschn. 2.3.3), nach Befreiung von der vergänglichen Körperlichkeit, nach einer Symbiose mit dem „Reich“ des Geistigen, von einigen als die „Weltseele“ bezeichnet. Kernpunkt dieser mystischen, dieser im Grunde monotheistischen Denkweise, ist konsequenterweise, dass diese göttliche Weltseele für den individuellen Verstand zwar nicht verstehbar aber „splitterhaft“ erfahrbar ist, da das geistige Selbst „Seele“ ja ein Teil von ihr ist.

Der Pharao Echnaton (Herrschaftsbeginn ca. zwischen 1353 und 1340 v. Chr., † im 17. Jahr seiner Herrschaft) begründete, vermutlich erstmalig den Weg zu einer monotheistischen Religion. Ihm offenbarte sich der eine, der einzige Gott Aton. Er wollte daraufhin, mit zum Teil rigorosen Methoden, den Eingott-Glauben an den Sonnengott „Aton“ durchsetzen. Der das gesamte Universum erfüllende, das Leben wärmende, reine Lichtgott „Aton“ wurde durch die Sonnenscheibe symbolisiert. Sein ethisches Wesen verkörpert die Wahrheit und die Liebe. Da dieser Glaube untergeordnete Götter zuließ, die zwar von einigen Gläubigen nur als Manifestationen des Aton angesehen wurden, ist er eher als eine Übergangsphase zum Eingott-Glauben zu sehen. Hinsichtlich der religiös-kulturellen Bedeutung ist sich die Wissenschaft uneins. Es ist unstrittig, dass diese „Religion des Lichts“ eine revolutionäre theologische Neuerung war, die womöglich als Vorläufer des Eingott-Glaubens des Judentums betrachtet werden könnte. Die „Religion des Lichts“ mit ihrem Eingott-Glauben wurde nach dem Tod des Echnaton rigoros ausgemerzt und ging wieder unter. Der Monotheismus der abrahamitischen Weltreligionen „Judentum, Christentum und Islam“, besitzt hier womöglich seine Wurzeln.

Den mystisch-religiösen Denkweisen liegen als wahr geglaubte, nicht beweisbare religiöse Axiome zugrunde (Abschn. 2.3). Diese fassen zahllose Erfahrungen zusammen. Aus ihnen leiten sich Systeme von mystisch-religiösen Vorstellungen ab - die manch einen Glaubenssatz plausibel erscheinen lässt bzw. erklärt. Einige, der auf diese Axiome der Mystik aufbauenden Religionen, stiegen zu Weltreligionen auf. Sie prägten über Jahrtausende weite Bereiche der Menschheitskultur mit ihren Weltbildern und dominieren die Weltanschauungen der Menschen in den verschiedenen Kulturregionen bis heute. Es drängt sich die Überlegung auf, dass im Wesentlichen gleiche Fundamentalannahmen der Mystik von allen Gläubigen der Weltreligionen als wahr geglaubt werden. In Folge dessen müssen wir dann akzeptieren, dass in den am meisten verbreiteten mystisch-religiösen Anschauungen ein gemeinsamer Kern im Glauben vorhanden ist.

Es drängt sich einem die Frage auf, ob es sogar Fundamentalannahmen der Mystik gibt, die ein naturphilosophisches Rüstzeug für unseren neugierigen Drang nach Wissen liefern könnten. Im Hinduismus wird beispielsweise die göttliche Wesenheit mit der letzten Wahrheit über das kosmische Sein verknüpft, sodass wissenschaftliche Forschung als eine Art Meditation betrachtet wird. Gibt es mystisch-religiöse Vorstellungen, die ergänzende Sichtweisen auf die Natur liefern könnten? Ohne sich auf die Bewertung und dem Bekenntnis auf eine der Weltreligionen festzulegen, sollten wir auf Gemeinsamkeiten sehen.

Die Weltreligionen eint die als wahr geglaubte Annahme einer einzigen, emergente, jede Zustandsalternative alles Seienden darstellende, geistige Wesenheit, die im ewigen Wandel existiert und sich aufgrund ihrer Allmacht selbst bestimmt. Diese Wirklichkeit wird als unzerstörbar, Seinsinn stiftend geglaubt und als göttlich verehrt. Sie eint die fundamentale Annahme der Möglichkeit einer Kommunikation mit der als Weltseele gedachten Wirklichkeit. Durch die Innenschau in das geistige Selbst „Seele“, dem „Splitter“ der göttlichen Ethik, halten wir einen Kontakt zur IHR. Es entsteht mittels der Innensicht auf unser Selbst ein Erkennen von Abbildern der real existierenden Wirklichkeit. Somit existiert die Möglichkeit, die Beobachterrolle als Teil der beobachteten Realität zu verstehen.

Die mystisch-religiösen Denkweisen könnten neue Sichtweisen auf die Dinge des Seins und ihrem schöpferischen Wandel, auf die Lebensformen und ihre Sinnhaftigkeit, auf den universellen Zusammenhang von Materie und Geist, erlauben.

Seit Jahrtausenden grübelten Menschen über diese Fragen nach. Sie zu beantworten führte zu dezidierten, durch den jeweiligen Kulturkreis geprägten Denkweisen - und zu unterschiedlichen Religionen und Weltbildern.

In Naturreligionen, wie zum Beispiel dem Schamanismus, sind die den Menschen umgebenen Objekte mit Göttern und Zauberwesen beseelt. Sie sind Akteure als auch Erleidende im Weltgeschehen. Sie sind der Wirklichkeit und den Gesetzen der Realität unterworfen. Sie sind weder absolut noch allmächtig, da sie in Vielzahl angenommen werden und sich gegenseitig bedrängen. Somit findet ein mystisches Erkenntnisstreben in Naturreligionen nicht statt. Die Mystik spielt hier keine Rolle.

Derjenige, der einer naturwissenschaftlichen und materialistischen Denkweise lieber folgt, kann diese göttliche Wesenheit sicher anders betrachten. Er würde SIE vielleicht als Manifestation der letzten Wahrheit begreifen wollen, ein Modell für „Alles“, das dann notwendig aus als wahr geglaubten fundamentalen Annahmen zu entwickeln wäre. Er könnte diese göttliche Wesenheit als eine, dem Sein entsprechende emergente Informationsstruktur betrachten, - die für unseren individuellen Verstand nicht formulierbar wäre. Aber diese Sicht hat wesentliche Aspekte der mystischen Denkweise. Seine Suche nach Erkenntnis und der letzten Wahrheit wird zumindest in der fernöstlichen Mystik als Meditation und Suche nach Erleuchtung vereinnahmt.

Wir haben uns beispielhaft auf einige fundamentale Annahmen der Mystik beschränkt und sie auf eine einfache, möglichst nachvollziehbare Weise dargestellt. Natürlich werden in Ausführungen der Religionswissenschaften oder in theologischen Abhandlungen detailliertere und genauere Ausarbeitungen zu finden sein. Wir wollten uns hier ja nur auf das Allgemeinverständliche, nur das Allerwesentlichste, konzentrieren. Das bedeutet, dass ich viel, was in diesem Zusammenhang zu schildern wäre, fortlassen musste.

Der religiöse Schwarm

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