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11. Februar 2017 - Alessia: Rayans Haus – Eine dreiste Bitte

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Rayan war tief in Gedanken versunken, als Jamal ihm die Türe des Jeeps öffnete, kaum dass dieser vor seinem Haus in Alessia zum Stehen gekommen war. Wie üblich hatte das Fahrzeug ihn, seine Familie und natürlich seinen treuen Leibwächter Jassim im Hangar am Flughafen erwartet.

Jamal, der Hausdiener aus Alessia, hatte den Scheich gestern Abend telefonisch verständigt, dass gleich zwei Personen um eine persönliche Audienz gebeten hatten. Rayan bekam öfter einmal derartige Anfragen – das lag in der Natur seines Status. Er nahm die Bitte um ein Gespräch ernst, legte diese Unterredungen jedoch normalerweise je nach Dringlichkeit auf Termine, an denen er ohnehin in Alessia war. Diesmal mussten sich die Bittsteller nicht lange gedulden, denn er war gleich am nächsten Morgen nach Alessia aufgebrochen.

Er hatte beschlossen, dass es höchste Zeit für eine ernste Unterredung mit seinem Sohn Tahsin war, der seine Anordnung nicht nach Irland zu reisen sehenden Auges ignoriert hatte. Spräche sich dieses Verhalten herum, müsste er um die Disziplin seiner Männer fürchten. Wie könnten sie einen Herrscher akzeptieren, der sich von seinem eigenen Sohn auf der Nase herumtanzen ließ? Für dieses Gespräch wollte er nicht warten, bis Tahsin zurück in Zarifa war. Er wollte ihn sich vorknöpfen sobald der Jet wieder in Alessia gelandet war.

Insofern hatte Rayan kurzfristig beschlossen, die Wartezeit auf die Rückkehr von Tahsin mit Audienzen zu verkürzen. Sobald bekannt wurde, dass er in der Stadt war, kamen allerlei weitere Menschen zu seinem Haus, um ihre Anliegen vorzutragen. Dabei waren die Themen vielfältig: Von Bitten um seinen Segen für eine Eheschließung, weil man sich dann ein besseres Gelingen oder Kinderreichtum erhoffte, als Schiedsrichter Streitigkeiten zu entscheiden, bis hin zu Betteln um Geld oder die Hoffnung auf finanzielle Unterstützung für ein geschäftliches Unterfangen.

Auch Carina hatte sich gefreut, als sie von der kleinen Reise hörte und war kurzentschlossen inklusive der Kinder mitgekommen. Sie wollte gerne einmal wieder genüsslich in aller Ruhe über den Basar schlendern, jetzt wo die Gefahr um Sedat endlich ein für alle Mal gebannt war.

Jassim öffnete der Scheicha, die den kleinen Zahir auf dem Arm trug, respektvoll die Autotür. Das Kindermädchen Fatima half Sheila beim Aussteigen, die in wenigen Monaten schon zwei Jahre alt werden würde.

Um sich selbst möglichst wenig Gelegenheit zu geben, über die ungenehmigte Reise seines Sohnes nachzudenken und sich damit womöglich die Laune zu verderben, gönnte sich der Scheich nur eine kurze Pause, um zusammen mit seiner Familie zu Mittag zu essen, dann machte er sich für die Audienzen bereit. Carina und Fatima packten begeistert die Kinder zusammen, um den Nachmittag in der Stadt zu verbringen – deshalb waren sie schließlich mitgekommen.

Es oblag Jamal, die Audienz-Ersuchenden einen nach dem anderen zu seinem Scheich zu bringen. Natürlich erfolgte dies erst, nachdem sie am Eingangstor ausführlich von tarmanischen Kriegern auf Waffen oder sonstige gefährliche Gegenstände untersucht worden waren.

„Der Nächste ist der Kaufmann Junis Kaya, Herr“, verkündete Jamal mit einer formvollendeten Verbeugung nach einer Weile. Rayan hatte bereits fünf Bittsteller angehört, als der Hausdiener endlich eine der beiden Personen ankündigte, auf die er besonders neugierig war. Wie es üblich war, hatte der Hausdiener seine Aufgabe glänzend erfüllt, genaue Erkundigungen einzuziehen, bevor einer Person die Ehre zugestanden wurde, vor den Scheich zu treten. Insofern hatte Rayan meist eine ganz gute Vorstellung davon, was die Menschen ihm vortragen würden.

Voller Spannung musterte er den Mann, der auf Jamals Wink hin unter den Baldachin im Garten in der Nähe des Pools trat und sich gemäß Etikette im gebührenden Abstand auf dem schweren Teppich zunächst auf seine Knie niederließ. Es fiel ihm etwas schwer, was überraschend war, denn er wirkte noch nicht sehr alt. Einige Jahre älter als Rayan vielleicht. Dann neigte er seine Stirn zum Boden, womit er die Überlegenheit Rayans offiziell anerkannte.

„Was kann ich für dich tun?“, fragte der Scheich freundlich.

„Eure Hoheit, ich komme im Namen meiner Frau, die sehr krank ist und daher ihr Anliegen nicht selbst vortragen kann“, begann der Fremde.

Soviel wusste Rayan bereits von den Vorgesprächen, die Jamal geführt hatte. Er war aber gespannt, ob der Mann wirklich dreist genug war, die Bitte, die er dem Hausdiener geschildert hatte, zu wiederholen.

„Meine Frau ist schwer an Krebs erkrankt. Sie hat einen Hirntumor, der sich trotz Chemotherapie nicht hat beseitigen lassen …“ Er hielt einen Moment lang inne, um seine zitternde Stimme wieder in den Griff zu bekommen. Offenbar fiel es ihm nicht leicht, mit dem Scheich über die Krankheit zu reden.

Rayan, der sonst nicht gerade für seine Geduld bei diesen Terminen bekannt war, bemühte sich, ruhig zu bleiben. Er liebte seine Ehefrau Carina über alles, und wenn er sich vorstellte, sie würde an einer derart furchtbaren Krankheit leiden, zog sich sein Innerstes zusammen.

„Das tut mir sehr leid für dich“, sagte der Scheich mit mitfühlender Stimme. „Wie lange geben ihr die Ärzte noch?“, fügte er hinzu. So brauchte der Mann nicht selbst über den bevorstehenden Tod seiner Ehefrau zu sprechen.

„Nur noch wenige Monate“, war die leise Antwort. Der Kaufmann hatte sich aufgerichtet, was Jassim dazu veranlasste, einen drohenden Schritt auf ihn zuzugehen. Er würde keine dieser Personen auch nur einen Zentimeter näher an seinen Scheich heranlassen, als notwendig war.

Doch da der Mann den Blick weiter respektvoll gesenkt hatte, gab Rayan seinem treuen Gehilfen ein Zeichen, ihn gewähren zu lassen – der Mann kniete noch immer, wäre also wohl kaum in der Lage schnell aufzuspringen, um den Scheich zu bedrohen.

„Es tut mir sehr leid, wenn die Bitte meiner Frau euch zu dreist wirken mag“, begann der Kaufmann mit einem Seufzen, als bereite er sich auf das Schlimmste vor. Was auch nicht ganz unberechtigt war, denn Rayan hatte den Ruf, mit Menschen, die seine Zeit stahlen, nicht zimperlich umzugehen.

„Meine Frau hat in den letzten Monaten sehr gelitten und die kommende Zeit wird noch schlimmer werden.“ Wieder seufzte der Kaufmann in sein Schicksal ergeben. „Ich werde alles tun, was sie auch nur ein klein wenig glücklich machen könnte!“

Nun sah er auf und Rayan konnte die Tränen in seinen Augen glitzern sehen. „Meine Frau ist in Zarifa geboren und wünscht sich nichts sehnlicher, als ihre Heimat noch einmal zu sehen, bevor sie diese Welt verlassen muss!“, stieß er hervor. Kaum hatte er die Worte hervorgebracht, besann er sich auf die Etikette und brachte seine Stirn wieder dicht an den Boden. Unter anderen Umständen hätte der Scheich sicher lächeln müssen, denn die unbeholfene Geste hatte mehr wie ein schnelles Abtauchen, wie eine Flucht gewirkt. Offenbar war der Mann erleichtert, den Mut gefunden zu haben, das Anliegen seiner Frau auszusprechen. Aber der Ernst der Bitte bewirkte, dass dem Scheich jegliche gute Laune verging. Es war allgemein bekannt, dass keine Fremden Zarifa betreten durften. Und die Fremde hatte keinerlei Nachweis, dass ihre Behauptung, sie sei in Zarifa geboren, der Wahrheit entsprach. Selbst Jassim, der diese Form der Audienzen normalerweise mit der ihm eigenen stoischen Ruhe und konzentrierter Wachsamkeit über sich ergehen ließ, sah nun verblüfft drein. Im Gegensatz zu Rayan, der durch Jamal zuvor informiert worden war, traf die Anfrage den Leibwächter aus heiterem Himmel. Er warf einen fragenden Blick auf seinen Herrn, denn natürlich war seine erste Reaktion, diesen Junis aufgrund seiner dreisten Bitte zu packen und höchstpersönlich zum Tor zu schleifen, um ihn hinauszuwerfen.

Rayan schüttelte kaum merklich den Kopf. Er konnte nicht genau sagen, aber er spürte, dass mehr hinter der Anfrage stand. Es war offensichtlich, dass Junis seine Frau über alles liebte und sogar dieses für ihn sichtlich unangenehme Gespräch auf sich nahm. Der Scheich spürte, dass in dem Mann keine Falschheit war. Das bedeutete nicht, dass die Ehefrau ehrlich sein musste. Sie wäre nicht die erste, die die Zuneigung eines anderen ausnutzte.

„Wenn deine Frau so sehr an Zarifa hängt, wie kommt es, dass sie heute nicht mehr dort ist? Wann und unter welchen Umständen hat sie ‚ihre Heimat‘ verlassen?“, fragte Rayan, um sich ein besseres Bild machen zu können. Sein Tonfall verriet Zweifel.

„Die genauen Umstände weiß ich nicht, Herr“, gab Junis zu. Seine Stimme zitterte nun merklich, denn er konnte die Anspannung der beiden Krieger sehr wohl spüren und wusste, dass sich die Lage nun ganz schnell zu seinem Nachteil umschlagen konnte. Schnell fuhr er fort: „Verlassen hat sie Zarifa im Sommer 1989. Sie ist jedoch nicht freiwillig gegangen. Es war wohl Euer ehrenwerter Herr Vater, der sie von dort fortgeschickt hat …“

Nun hatte er Rayans volle Aufmerksamkeit – diese Jahreszahl war richtig interessant! Es gab nur ein einschneidendes Ereignis, das sich im Jahr 1989 ereignet hatte: der Sieg seines Vaters Sedat über die Rebellen und Rayans vermeintlicher Tod! Konnte die Frau wirklich eine der verbannten Rebellen sein? Dann würde er sie vermutlich persönlich kennen. Aber wenn ihr so viel an Zarifa lag, warum war sie dann nicht dortgeblieben? Viele von Rayans damaligen Kumpanen hatten Sedat die Treue geschworen und so Vergebung und die Erlaubnis erhalten, ins Große Tal zurückzukehren.

An Jassims Haltung war nun erkennbar, dass er sich zum Eingreifen bereit machte: Jeder Muskel seines kräftigen Körpers war angespannt – die Aufregung seines Herrn war so deutlich, dass er dies als alarmierend einstufte – denn sonst ließ Rayans Pokerface nicht zu, dass man seine Gedanken erriet. Der Scheich bemerkte es nicht einmal.

„Wie ist der Name deiner Frau?“, fragte Rayan leise.

„Sie heißt Elifa, Herr“, sagte der Kaufmann. Rayan empfand einen eigenartigen Schauer, der einen immer dann trifft, wenn einen die Vergangenheit unvermittelt mit voller Wucht einholt.

Rayan - Der Einsame Falke

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