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22. Mai 2016 – Offene Wüste – Eine faire Chance

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„Nein, Herr, ich nicht lügen! Augen überall“, jammerte Rayan mit gespielt weinerlicher Stimme am folgenden Morgen. Marvin hatte den „Sklaven“ auch bereits am Vorabend zu sich und seinen Männern bringen lassen, um ihn nach dem weiteren Weg innerhalb Zarifas zu befragen. Detailliert ließ sich der Amerikaner die Oase und das Gebirge beschreiben, und Rayan hielt sich an die Tatsachen. Allerdings war Marvin misstrauisch, als der Tarmane darauf beharrte, dass sie ab dem Morgen auf einem Umweg würden gehen müssen, um sich dem Gebirge nicht frontal zu nähern. Doch Marvin hatte Rayan erst einmal über Nacht zurück auf seinen Platz bringen und ihn wie jeden Abend an Hand- und Fußgelenken fesseln lassen.

Rayan wollte nach wie vor das Risiko eingehen, die aufrichtigen Wüstenmänner vor seinen Tarmanen zu warnen. Seiner Meinung nach hatte sich Solomon dank seiner Hilfeleistungen gegenüber Rayan in den vergangenen Tagen eine Chance verdient – die Frage war, ob er Marvin warnen würde, sobald er die Wahrheit erkannte. Mit seiner Fesselung konnte Rayan jedoch während der Nacht nichts unternehmen und musste sich somit ohnehin bis zum Morgen gedulden.

Kaum, dass man sich am nächsten Tag zum Aufbruch zur letzten Etappe ihrer Reise bereitmachte, versuchte Rayan noch dringlicher, Marvin davon zu überzeugen, dass es sicherer war, sich Zarifa von Osten her zu nähern, um dann im Schutz der schroffen Felswand des Gebirges seitlich auf die Oase zuzukommen. Im Grunde war es egal, denn die Tarmanen wussten ohnehin, dass sie kamen und hatten sie mit Sicherheit lange ausgemacht. Schließlich besaßen die Aussichtsposten hervorragende Ferngläser.

Aber nachdem ein echter Sklave panische Angst haben würde, zu seinen Herren zurückkehren zu müssen, die ihn sicher für seinen Verrat bestrafen würden, musste Rayan eine entsprechende Scharade darbieten. „Bitte!“, flehte er jämmerlich. „Die Herren mich töten! Und euch auch! Müssen vorsichtig sein! Bitte, bitte …“, jammerte er weiter. Marvin wirkte nicht überzeugt.

In dem Moment sprang Jassim nach vorne und stürzte sich auf Rayan. „Du hast ganz recht, du wertloses Stück Fleisch“, keifte der Leibwächter mit gespielt vor Wut schäumendem Mund und schlug ihn ins Gesicht. „Wir werden dich töten! Aber keine Sorge – das werden wir ganz langsam tun! Wir werden …“

Der falsche Hanif kam nicht mehr dazu, zu beschreiben, was man Rayan antun wollte, denn nun schritt Marvin ein. Er hatte seine Pistole gezogen und hielt sie Jassim an den Kopf. „Das reicht!“, befahl er. „Du hast hier gar niemanden zu bedrohen, hast du das verstanden?“, herrschte er Jassim an. Dann zog er die Waffe mit einer schnellen Bewegung über dessen Hinterkopf, sodass der Koloss lautlos in die Knie sackte. Rayan mimte den Erleichterten, dass man ihn von der „Bedrohung“ befreit hatte, während er im Inneren mit den Zähnen knirschte. Sein treuer Jassim hatte erkannt, dass Marvin noch immer zweifelte und hatte sich entschieden, ihm zu helfen, indem er das Spiel ein wenig weitertrieb. Erneut war der Scheich überrascht, wie überzeugend sein loyaler Begleiter seine Rolle spielte. Wäre er nicht zu einhundert Prozent von der Loyalität seines Gefährten überzeugt, und würde er ihn nicht seit Jahren kennen, so hätte er keine Sekunde Zweifel daran gehabt, dass Jassims Wut echt war. Noch dazu, weil dieser ihn völlig mit diesem „Angriff“ überrumpelt hatte.

Ihn nun wie einen gefällten Baum am Boden liegen zu sehen, schmerzte Rayan mehr als der Schlag, den er selbst von Jassim erhalten hatte. Einen Moment lang hatte er Angst um seinen Freund. Ein derart brutaler Hieb auf den Kopf war nicht ungefährlich! Doch zum Glück musste er nicht lange bangen, denn schon wenige Augenblicke später regte sich Jassim und brachte sich mit einem lauten Stöhnen in eine sitzende Position. Dann hielt er sich mit beiden Händen den schmerzenden Kopf und starrte wütend erst Marvin und dann Rayan an. Der vermeintliche Sklave zuckte angesichts dieses Ausdrucks wimmernd zurück, doch innerlich spürte der Scheich Erleichterung. Sein Freund war hart im Nehmen. Vermutlich würde er gehöriges Schädelbrummen haben, aber er schien nicht ernsthaft verletzt.

„Das war nicht nötig“, kommentierte in diesem Moment Solomon Marvins Verhalten scharf. Rayan hatte den Anführer der Wüstenmänner gar nicht kommen hören. „Der Mann mag Ihr Feind sein“, fuhr er nicht minder unfreundlich fort, „aber er ist immer noch der Anführer eines Volkes und hat damit eine respektvolle Behandlung verdient!“

Erstaunt sah der Scheich Solomon an. Dass dieser sich – nachdem er bereits ihm geholfen hatte – auch noch für Jassim einsetzte, war ein erneuter Beweis seiner Ehre. Er betitelte Jassim als Anführer, weil er ihn wie alle anderen nach wie vor für Hanif, den Bruder des Scheichs, hielt. Erneut überlegte Rayan, wie er Solomon und seinen Männern helfen konnte, bevor diese das eigentliche Gebiet von Zarifa betraten und somit ihr eigenes Todesurteil unterschrieben.

Dann hatte er eine Idee, wie er Solomon noch mehr vor Augen führen konnte, wie unehrenhaft Marvin war.

Er wendete sich erneut an Marvin. „Bitte Herr! Ihr haben gehört, was Tarmanen machen“, radebrechte er in gespielt schlechtem Englisch. „Ihr mir habt versprechen, dass frei sein, wenn zeigen Weg nach Zarifa. Hier ist Zarifa!“, er deutete theatralisch auf das Gebirge. „Nun halten Versprechen. Lassen mich gehen!“, flehte er und warf sich Marvin zu Füßen.

Wie zu erwarten gewesen war, hatte der Amerikaner wenig Mitleid. Er zog Rayan am Kragen hoch. „Du brauchst nicht vor mir hier herumkriechen. Ich lasse dich auf keinen Fall gehen!“, sagte er und lachte humorlos. „Du forderst bei mir ein Versprechen ein?“, Marvin lachte verächtlich und spuckte in den Sand. „Ich spucke auf Versprechen, verstehst du? Noch dazu, wenn ich sie so einem stinkenden Insekt gegeben habe, wie du es bist. Du kommst mit und damit Basta! Du bleibst an meiner Seite und weichst keinen Millimeter von mir, klar? Ich bin von nun an dein bester Freund. Denn wenn ich überlebe, überlebst du auch. Wenn du uns aber in eine Falle führst, bist du der Erste, der stirbt. Verstanden?“

Rayan jammerte noch ein wenig, doch aus den Augenwinkeln sah er, dass seine Vorführung den gewünschten Erfolg zeigte: Mit zusammengekniffenen Augen hatte Solomon Marvins Antwort und vor allem seine Aussage über den Wert seiner Versprechen verfolgt. Auch wenn man Solomons Gesicht nichts ansehen konnte, ahnte der Scheich, was in dem Mann vorging, dem Ehre sehr wichtig war: er fragte sich, wieviel sein eigenes Abkommen mit Marvin unter diesen Umständen wert war.

Zu Rayans Glück marschierte Marvin nun voran, ohne sich noch einmal nach „dem Sklaven“ umzusehen. Er wusste, dass auf seine Männer Verlass war und sie den Gefangenen nicht aus den Augen lassen würden. Immerhin ging er nun doch in Richtung Osten, also hatte Rayan sein Ziel erreicht.

Nur langsam trottete Rayan hinter Marvin her. Es war nicht schwer, sein Tempo so anzupassen, dass er bald neben Solomon herging. In einem geeigneten Moment gab der Scheich vor, zu stolpern. Als würde er nach Halt suchen, packte er den Anführer der Wüstenleute am Ärmel. Hilfsbereit stützte Solomon ihn. Ihre Blicke trafen sich. Rayan registrierte, dass sich Solomons Augen überrascht weiteten, als er nun zum ersten Mal den nicht verstellten, offenen, stahlharten Blick des Scheichs sah. „Noch ist es für dich und deine Männer nicht zu spät, Solomon!“, sagte Rayan leise, aber mit Nachdruck in der Stimme. „Du bist ein ehrenvoller Mann, der der falschen Person ein Versprechen gegeben hat, an das du dich nun gebunden fühlst. Doch du weißt genau, was passieren wird, wenn du und deine Männer das Gebiet der Tarmanen betreten: Ihr werdet sterben!“ Nach einer kleinen Pause, in der er Solomon Zeit geben wollte, sich an Rayans Veränderung zu gewöhnen, setzte er fast bittend hinzu: „Soweit muss es nicht kommen. Du hast Marvin hierher begleitet. Damit ist deine Aufgabe erfüllt – Oder hast du ihm versprochen für ihn in den Krieg zu ziehen?“

Rayan konnte sehen, wie Solomon mit sich rang. Er war nicht dumm, und sah nun seine Vermutung bestätigt, dass hinter dem vermeintlichen Sklaven mehr steckte. Die logische Schlussfolgerung war, dass man sie in eine Falle führte. Sollte er Marvin warnen?

„Marvin hat mir erzählt, dass er erwartet wird … für Verhandlungen …“, entgegnete Solomon. Doch in dem Moment, in dem er die Worte sagte, merkte er selbst, wie unsinnig sie klangen.

„Du weißt, dass das Lügen sind“, versetzte Rayan scharf. „Lass deine Männer heute Nacht nicht das Gebirge betreten. Noch haben sie kein tarmanisches Gesetz gebrochen … Ich garantiere dir, dass keinem von ihnen ein Haar gekrümmt wird, wenn sie im Lager an der Ostseite des Gebirges verbleiben!“ Er verlieh diesem Versprechen Nachdruck, indem er Solomon nochmals offen in die Augen sah. Dann drehte er sich mit einem Ruck ab, kehrte zu seiner Rolle zurück und stammelte mit flehentlichem Ton: „Verzeihung Herr! Verzeihung!“, und verneigte sich mehrmals unterwürfig vor Solomon.

Rayan war sich deutlich bewusst, dass er gerade den Erfolg seines Plans in Solomons Hände gelegt hatte. Alles hing nun davon ab, wie dieser reagierte. Doch der Scheich wollte dem ehrenhaften Anführer der Wüstenleute eine faire Chance geben. Nun lag es an ihm, ob er sie nutzte.

Rayan - Der Einsame Falke

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