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10. Februar 2017 – Zarifa: Großes Tal: Herrenhaus – Eine plötzliche Reise

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Rayan runzelte die Stirn, als ihn das leise Summe aus seiner Konzentration riss. Er saß am Schreibtisch seines kleinen, aber modern eingerichteten Büros im ersten Stock des Herrenhauses im Großen Tal von Zarifa, tief in Gedanken über die Konstruktionspläne eines Hauses gebeugt, dessen Eigentümer die amerikanische Firma „TanSEC“ gebeten hatte, die Sicherheitsanlagen zu überprüfen. Da das Anwesen des Kunden sehr verwinkelt war, war es keine leichte Aufgabe, sicherzustellen, dass alle Ecken und Zugänge zu hundert Prozent von Kameras erfasst waren. Um es kurz zu sagen: Genau der Fall, bei dem Rayans unheimliches Gespür gefragt war. Der Scheich genoss es nach wie vor, die schwierigsten Fälle selbst zu übernehmen.

Dass er noch immer Miteigentümer der Firma war, die sein Adoptivvater gegründet hatte, hatte keine finanziellen Gründe, obwohl das Geschäft um die Sicherheit einiger Prominenter und hochrangiger Wirtschaftsbosse überaus lukrativ war. Rayan liebte die Herausforderung, ein möglichst sicheres Konzept zu entwerfen, und mit Cho und Hummer hatte er die idealen Partner: Der amerikanische Japaner würde die technischen Voraussetzungen schaffen, die Rayan ihm aufgab und dann würde Hummer versuchen, einen Weg zu finden, um trotzdem noch ins Haus einzubrechen. Da auch der Afroamerikaner aus der Bronx ein Experte auf seinem Gebiet war, stellte er die beste Qualitätskontrolle dar, die man sich denken konnte. Natürlich gab es nie hundertprozentige Sicherheit. Wer konnte schon wissen, welchem Genie es doch gelang, bereits morgen ein Schlupfloch zu finden, aber grundsätzlich hatte sich TanSEC auf dem Markt einen hervorragenden Ruf erarbeitet. Sie konnten über die Anzahl der Aufträge in Millionenhöhe nicht klagen und sich den Luxus leisten, sich ihre Klienten auszusuchen.

Weil es absehbar war, dass Rayan bei diesem Projekt all sein Können würde unter Beweis stellen müssen, hatte er die Bediensteten angewiesen, ihn in den nächsten Stunden nicht zu stören. Das Summen verriet ihm, dass jemand außerhalb der schallisolierten Tür die „Klingel“ aktiviert hatte. Alarmiert vergaß der Scheich sein Projekt, denn ihm war klar, dass man ihn nicht wegen einer Lappalie entgegen seiner ausdrücklichen Anweisung belästigen würde.

Mit einem Mausklick wechselte er von seinem Projekt zum Bild der Kamera, die ihm den Bereich vor seiner Bürotür zeigte. Weitere Kameras hatte er im kompletten Haus anbringen lassen, sodass er sich auch in seiner eigenen Privatsphäre jederzeit ein Bild über die Lage machen konnte. Wenn er es wollte, konnte er über die Bildschirmleinwand, die sich hinter der Holzvertäfelung zu seiner Rechten verbarg, sogar gleich neun Kamerabilder zugleich aufrufen. Verbrecher, die unbemerkt bis ins Herrenhaus von Zarifa vordringen würden, waren zwar theoretisch aufgrund der ständigen Bewachung durch tarmanische Krieger ausgeschlossen, aber die Vergangenheit hatte gezeigt, dass nichts unmöglich war.

Das kleine Volk der Tarmanen umfasste inzwischen etwa 2500 Menschen. Jeden einzelnen davon als hundertprozentig loyal einzustufen, war nicht realistisch. Wer wusste schon, was die Menschen aus Rache, Gier oder, wie sein Hausdiener Ahmad, einfach aus zu viel Gutgläubigkeit machten? Genau jenen treuen Helfer namens Ahmad konnte er nun auf seinem Computerbildschirm erkennen. Der Tarmane wusste um die Kamera und sah daher direkt in die Linse. Sein flackernder Blick verriet, dass es ihm überaus unangenehm war, seinen Herrn zu stören. Rayan betätigte die Sprechanlage.

„Was ist los, Ahmad?“, fragte er so ruhig wie möglich, um den nervösen Mann nicht noch mehr zu beunruhigen.

„Verzeiht die Störung, Herr“, sagte der junge Mann, der mit seinen 28 Jahren schon so einiges durchgemacht hatte. Es grenzte an ein Wunder, dass die zahlreichen Knochenbrüche und sonstige Blessuren, die ihr Feind ihm 2015 zugefügt hatte, fast ohne Folgen abgeheilt waren. Aufgrund der Verletzungen waren diverse Operationen notwendig gewesen, wodurch den brutalen Schnitten, die der Sadist Sedat ihm während der Folter quasi „zum Spaß“ verabreicht hatte, noch weitere Narben hinzugefügt wurden. Insgesamt war es also nicht übertrieben, zu sagen, dass Ahmads Körper kein schöner Anblick war. Er verbarg freilich diese Wundmale unter seiner Kleidung.

Wie es mit den Verwundungen seiner Seele aussah, vermochte der Scheich nicht zu sagen. Vermutlich nicht einmal zu schlecht, weil Ahmad aus tiefstem Herzen davon überzeugt war, dass er bei diesen Misshandlungen die gerechte Strafe für seinen Verrat erhalten habe. Eine recht eigenwillige Betrachtungsweise, die der Scheich jedoch nicht in Frage stellte. Solange es Ahmad damit besser ging und er die Erlebnisse auf diese Weise verarbeiten konnte, sollte es ihm recht sein. Der Mann hatte ein gutes Herz, und es wäre bedauerlich, ihn noch mehr leiden zu sehen.

„Herr, wir erhielten einen dringenden Anruf vom Posten an der Landestelle der Transall …“, Ahmad räusperte sich verlegen. „Der dort aktuell zuständige Gruppenführer informierte uns, dass der Herr Tahsin und seine Begleiter Zakkariyya und Azeem den letzten Flug des heutigen Tages nach Alessia genommen haben …“ Der Hausdiener schluckte verlegen, weil er offenbar nicht genau wusste, wie er den nächsten Satz formulieren sollte, aber es lag auch so auf der Hand, was man von Rayan wissen wollte: ob dieser Flug von ihm autorisiert worden war.

Rayans Gedanken rasten. Er war froh, dass die Kamera nur in eine Richtung Bilder übermittelte und Ahmad, der noch immer vor der Tür zu seinem Büro stand, ihn seinerseits nicht sehen konnte. Vermutlich wäre sein Gesichtsausdruck in diesem Moment nicht gerade intelligent anzusehen. Tahsin? Heute Morgen hatte sein Sohn noch wie für jeden Krieger üblich am morgendlichen Training teilgenommen. Nun flog er aus heiterem Himmel nach Alessia? Ohne ihn zumindest zu informieren, geschweige denn sich die eigentlich erforderliche Genehmigung einzuholen? Der Scheich überlegte, ob etwas passiert sein konnte, doch er konnte auf die Schnelle keine Begründung finden, die rechtfertigte, dass Tahsin sich unerlaubt auf eine Reise begab. „Ohne Erlaubnis“ – Dieser Gedanke ließ sein Herz für einen Moment aussetzen und das ganze Dilemma der Situation erkennen.

Ein erneutes Räuspern machte ihn darauf aufmerksam, dass Ahmad offenbar auf seine Antwort wartete. Was hatte der Hausdiener gefragt? Rayan hatte nicht mehr zugehört. Aber nachdem er die Frage kannte, musste er dies auch nicht. Was sollte er nun antworten? Es lag nicht in der Natur des Scheichs, zu lügen. Er war dafür bekannt, stets die Wahrheit zu sagen, so wie er von seinen Untergebenen auch stets die Wahrheit einforderte. Doch dieser Fall war klar: Sein Sohn hatte mit keinem Wort über irgendwelche Pläne mit ihm gesprochen. Doch das konnte Rayan nicht zugeben – oder? Denn Tahsin war seit dem Ritual im letzten Sommer offiziell einer der Krieger, und solange er nicht seinen Vater als Scheich von Zarifa vertrat, galten für ihn die gleichen Regeln wie für jeden anderen. Dass Tahsin sein Sohn war, kam erst an zweiter Stelle. Das bedeutete, ein Verlassen des großen Tals ohne Erlaubnis war ein schweres Vergehen! Tahsin musste das doch wissen?

Was also war so wichtig, dass er diese Regel sehenden Auges ignorierte? Was hatte Tahsin vor?

Rayan - Der Einsame Falke

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