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11. Februar 2017 – Irland: Dublin: Trinity College – Eine gelungene Überraschung

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Aus den Augenwinkeln heraus registrierte Megan, dass sich einer der anderen Studenten dem Platz in der altehrwürdigen Bibliothek des Trinity College niederließ, der ihr genau gegenüber lag. Genervt zog sie ihr Buch näher zu sich heran und versuchte, sich noch mehr in den Text zu vertiefen, den sie als Hausaufgabe bis zum nächsten Morgen zu lesen hatte. Sie liebte das Flair der Bibliothek. Es war fast, als könne man den Geist der vergangenen Zeiten einatmen. Manchmal saß sie einfach nur mit geschlossenen Augen da und ließ ihre Gedanken schweifen. In die Historie dieser Räumlichkeiten, die schon Zeugen so vieler Jahrzehnte geworden waren. Und allzu oft sinnierte sie über ihre eigene Vergangenheit. Dafür wollte sie ihre Ruhe haben und wählte deswegen stets den gleichen Platz aus, um zu lernen, weil sie so weit hinten in dem verwinkelten Raum nicht behelligt wurde. Kaum jemand verirrte sich bis hier. Umso mehr fühlte sie sich nun in ihrer Oase der Ruhe gestört. Bewusst widerstand sie dem Drang, den „Eindringling“, der ihr gegenübersaß, genervt anzufunkeln und hielt ihren Blick trotzig gesenkt. Insgeheim wunderte sie sich, dass der andere keinerlei Bücher mitgebracht hatte, sondern sich damit begnügte, einfach nur still dazusitzen. Was wollte der hier? Tagträumen, so wie sie? Aber warum wählte er dann keinen der anderen beiden Tische, wo er alleine wäre? Auch ohne direkten Blickkontakt merkte sie, dass der junge Mann sie musterte. Zuerst wollte sie einfach abwarten, bis er genug gesehen hatte, um sich dann um seine eigenen Dinge zu kümmern, doch dann zog sich die Situation unangenehm lange hin. Ihr Gegenüber schien den Blick nicht freiwillig abwenden zu wollen. Gereizt beschloss Megan, den Studenten nun doch zur Rede zu stellen. Aber bevor sie hochfahren und ihn anraunzen konnte, vernahm sie eine bekannte Stimme mit amerikanischem Akzent: „Hallo Megan.“

Erschrocken fuhr sie hoch und eine Sekunde lang schien ihr Herz stillzustehen. Konnte das wirklich sein? Oder träumte sie schon wieder? Unzählige Male hatte sie in den vergangenen elf Monaten von dieser Stimme, oder vielmehr von dem Jungen, zu dem diese Stimme gehörte, geträumt. Tahsin!

Es hatte sie wochenlang große Kraft gekostet, endlich mit der Schwärmerei aufzuhören und sich stattdessen auf ihr Linguistikstudium zu konzentrieren, welches sie im September in Dublin aufgenommen hatte. Je mehr Zeit ins Land gegangen war, umso leichter war ihr das zum Glück gefallen. Denn mit dem räumlichen und vor allem zeitlichen Abstand zu den Ereignissen in Alessia im März 2016 hatte die Realität sie eingeholt, und es war ihr klargeworden, dass sie niemals in Tahsins Welt gepasst hätte. Sie tröstete sich damit, dass sich der junge Scheich nicht bei ihr meldete, weil er entweder der Vernünftigere von ihnen beiden war – oder weil sie ihm nichts bedeutet hatte. Was sollte ein derart erfahrener junger Mann auch mit einer verklemmten Tussi anfangen, die sie damals gewesen war? Im Nachhinein war es ihr schrecklich peinlich, wie ungeschickt sie sich angestellt hatte.

Kein Wunder, dass ein Prachtexemplar wie Tahsin sich nicht mehr bei ihr gemeldet hatte. Natürlich: Sie hatte es ihm auch nicht einfach gemacht, weil sie ihm keinerlei Kontaktdaten gegeben hatte. Es wäre ein leichtes gewesen, ihm durch Laura Miller, der Leiterin der Ausgrabungen in Alessia, eine Nachricht zukommen zu lassen. Zudem kannte sie ja auch die Adresse des Anwesens in Alessia, in dem Tahsin damals gewohnt hatte. Wobei sie nicht sicher war, ob ein persönlicher Brief an diese Adresse nicht vorab von einem der Sicherheitskräfte oder dem Haushälter in Augenschein genommen worden wäre. Sie konnte sich vorstellen, dass es bei einer derart wichtigen Persönlichkeit wie Tahsin gewisse Sicherheitsvorkehrungen gab – um ihn vor unangemessener oder vielleicht sogar gefährlicher Post zu schützen. Nein, sie wollte keinesfalls riskieren, dass jemand anderer als Tahsin ihre Zeilen las. Sie hatte ihn einmal über Facebook gesucht, Tahsin aber dort nicht gefunden. Kein Wunder! Wer auf rassigen Pferden durch die Wüste ritt, hatte eher selten Zugang zu modernen Kommunikationswegen. Oder?

Verdutzt war die Engländerin ins Grübeln geraten. Tahsin war ihr in ihren Gesprächen keineswegs als hinter dem Mond erschienen. Er kannte die neuesten Top-Ten-Hits und wirkte auch sonst wie jeder andere Teenager ihres Alters. Vor allem sein Handy war von der neuesten Generation gewesen. So war doch kein „Hinterwäldler“ ausgestattet. Doch auch eine erneute Suche auf der Onlineplattform hatte kein Ergebnis gebracht. Sie mutmaßte, dass er sich aufgrund seiner Stellung bedeckt halten musste. Wenn sie sich an seinen persönlichen Leibwächter erinnerte, ohne den er niemals irgendwo aufgetreten war, dann schien ein gewisser Schutz ständig von Nöten. In so einem Fall postete man nicht sein Privatleben in die Welt hinaus. Entnervt hatte sie also aufgegeben.

Andererseits war Megan sich sicher, dass jemand mit Tahsins Beziehungen Mittel hatte, um sie ausfindig zu machen – wenn er dies wollte. Da er es nicht getan hatte, war Megan zu der Erkenntnis gekommen, dass er nicht an ihr interessiert war. Eine Schlussfolgerung, die sehr schmerzhaft gewesen war, und die erst in den letzten Monaten etwas an Bitterkeit für sie verloren hatte.

Nun war er nicht nur hier, an ihrem College, sondern er saß ihr sogar ohne jegliche Vorwarnung gegenüber? Ungläubig blinzelte sie einige Male und konnte dabei nicht entscheiden, was ihr lieber war: dass sie erneut einem ihrer Tagträume erlegen war – oder dass Tahsin wirklich hier war. Hier in Dublin, in der Bibliothek des Trinity College. Der Gedanke erschien ihr völlig absurd.

Als ihr Blick den seinen traf, durchzuckte es sie wie ein elektrischer Schlag.

Seine Augen waren tatsächlich so leuchtend blau, wie sie sie in Erinnerung hatte. Tahsins strahlendes Lächeln nahm ihr den Atem. Sie spürte, wie sie rot anlief und blickte schnell weg. Sie lenkte sich ab, indem sie seine Kleidung musterte. Zu ihrer Überraschung trug er westliche Kleidung, was ihn ihr eigenartig fremd erscheinen ließ, weil sie ihn bisher nur in arabischen Gewändern gesehen hatte. Doch wenn Megan darüber nachdachte, ergab es Sinn, sich ortsüblich zu kleiden. Zumindest wenn man nicht zu viel Aufsehen erregen wollte. Bei dem dunkelblauen Hemd, das die Farbe seiner Augen sogar noch mehr betonte, waren die obersten Knöpfe leger geöffnet, sodass man das weiße T-Shirt sehen konnte, das er darunter trug. Der weiße Kragen stand in wundervollem Kontrast zu dem dunklen Bronzeton seiner Haut. Die braune Lederjacke, die er lässig übergeworfen hatte, kaschierte zwar seine muskulösen Oberarme, verlieh ihm jedoch einen eleganten Touch, der bestens in diese klassische Umgebung zu passen schien. Sein Outfit war eine gelungene Mischung aus jugendlichem Stil und gehobenem Standard, nicht zu protzig. Anerkennend musste sie zugeben, dass Tahsin es verstand, sich korrekt und dem Anlass angemessen zu kleiden. Dann fiel ihr ein, dass er ihr von seiner Schulzeit in Amerika und später in England berichtet hatte und dass es natürlich daher völlig normal für ihn sein musste, westliche Kleidung zu tragen. Was hatte sie gedacht? Dass er damals in traditionellen Gewändern durch das Internat in London gelaufen war? Eigenartig, dass sie niemals darüber nachgedacht hatte. In all ihren Tagträumen hatte Tahsin stets traditionelle Kleidung getragen – oder gar nichts …, wenn sie sich ausmalte, was damals hätte sein können, wenn Lauras Anruf sie nicht in die harte Realität zurückgeholt hätte. Unzählige Male hatte Megan sich gewünscht, sie und Tahsin hätten mehr Zeit gehabt.

Als Megans prüfender Blick schließlich bei Tahsins Händen endete, die er vor sich auf dem Tisch liegen hatte, erkannte Megan erstaunt an der verkrampften Haltung, dass der sonst so selbstsichere junge Scheich offenbar ebenfalls reichlich nervös war. In diesem Moment wurde der Engländerin klar, dass sie ihr Gegenüber bereits fast eine Minute lang wortlos und ziemlich unhöflich von oben bis unten musterte. Sie zwang sich, zumindest seinen Gruß zu erwidern:

„Hallo Tahsin“, presste sie hervor. Mehr Worte brachte sie im Moment nicht heraus. Auch sie wollte lächeln, doch es misslang ihr gründlich. Ihr Herz schlug rasend schnell in einer Mischung aus Glück gemischt mit ein wenig Panik – vor einigen Monaten wäre sein Besuch die Erfüllung ihres größten Traums gewesen. Nun war sie sich nicht mehr so sicher. Was wollte er von ihr? Sie besuchen? Oder zu sich einladen? Warum kam er gerade jetzt, wo es ihr einigermaßen gelungen schien, über ihn hinwegzukommen?

Wenn der junge Scheich geplant hatte, sie zu überraschen, weil er so ganz ohne jede Ankündigung aus dem Nichts hier auftauchte, musste sie gestehen: Dies war ihm definitiv gelungen!

Rayan - Der Einsame Falke

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