Читать книгу Gabe & Fluch - Isabella Maria Kern - Страница 11

Das Geheimnis

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Im Alter von neunzehn Jahren wusste ich noch nicht einmal, dass es ein ICH gab. Ich konnte mich allein durchbringen. Mein Job als Buchhalterin erwies sich als eine gute Sache, denn ich bekam in jeder Stadt Arbeit, ohne lange suchen zu müssen. Ich war nicht glücklich, aber ich erfüllte meine normalen Bedürfnisse auf eine recht zufriedenstellende Art. Meine Wohnung richtete ich genau wie auf einem Bild in einem dieser Hochglanzwerbeprospekte ein, das ungefragt in meinem Postkasten landete. Meine Fantasie war diesbezüglich sehr begrenzt, denn ich hatte nie gelernt, mich zu entfalten. Ich konnte nicht wirklich kochen, deshalb nahm ich den Großteil meiner Mahlzeiten in einem kleinen, heruntergekommenen, aber deshalb spottbilligen Lokal ein, das in meiner Straße lag. Ich kann mich noch genau an diesen schicksalhaften Tag erinnern, als alles begann:

Es war ein Samstag, drückend schwül. Die Sonne brannte auf den Gehsteig und ich sputete mich, in den Hinterhof „meines“ Lokals zu kommen, damit ich der sengenden Hitze endlich entfliehen konnte. Hier war es sehr kühl, denn der kleine, enge Hof ließ die Sonne nur am Vormittag kurz hineinscheinen, den restlichen Tag lag er im Schatten. Die alten Steinmauern waren vom letzten Regen noch feucht und gaben eine herrliche Kühle ab. Ich nahm an einem der vier winzigen Tische Platz und beachtete die anderen Gäste nicht. Meistens nahm ich ein Buch mit, denn ich las lieber, vergrub mich in meinen Fantasien, als mich mit meiner Umgebung auseinanderzusetzen. Ich unterhielt mich nicht gerne mit anderen Menschen, denn ich war schüchtern und desinteressiert. Ich blieb lieber allein. An jenem heißen Sommertag las ich also in meinem Buch, aber ich spürte, dass ich vom Nebentisch aus beobachtet wurde. Ich konnte mich kaum mehr auf das Buch konzentrieren, so intensiv und unangenehm spürte ich den Blick auf mir. Um jeden Preis wollte ich vermeiden hinüberzublicken, doch ich wurde immer unruhiger. Als der Kellner mir das Essen auf den Tisch stellte und mir sein leidenschaftsloses „Mahlzeit“ dazu servierte, riskierte ich einen Blick und sah in die lebhaften Augen einer alten Frau. Ich warf ihr einen wütenden Blick zu, ehe ich zu essen begann.

„Lassen Sie es sich gut schmecken!“, sagte sie freundlich und ich begriff erst gar nicht, dass sie wirklich mich meinte. Ich murmelte ein unfreundliches „Danke!“ und vergrub meinen Blick in dem unappetitlich aussehenden Linsenbrei, der dampfend heiß einen sehr harmonischen Geruch verbreitete. Ich überlegte kurz, wie ein so ekelhaft aussehendes Gericht so gut schmecken konnte. Ein schizophrenes Essen also – schmunzelte ich über meinen eigenen Witz. Als der Kellner wieder kam und meinen mit Akkuratesse ausgeputzten Teller mit sich nahm, richtete die alte Frau das Wort abermals an mich.

„Wie heißen Sie denn, junge Frau?“, fragte sie mich und rückte mit dem Stuhl ein wenig näher. Ich fühlte mich nicht wohl in meiner Haut. Keiner sprach mich normalerweise aus heiterem Himmel an, so etwas war ich nicht gewohnt. Einen kurzen Augenblick überlegte ich, ob ich ihr einfach einen Fantasienamen entgegenschleudern und mich demonstrativ in mein Buch vertiefte sollte, damit sie kapierte, dass es zwecklos war, mit mir eine Unterhaltung anzufangen. Aber dann siegte doch die Neugierde, denn ich fand es ungewöhnlich, dass ich das Interesse von jemand auf sich zog.

„Augustine“, sagte ich kurz und streckte ihr die Hand entgegen. Ich hatte keine Ahnung, wieso sich meine Hand selbständig machte und warum mein Gesicht lächelte. „Das habe ich mir gedacht“, sie nickte freundlich und nahm meine Hand. Sie war nicht feucht, wie ich es bei diesem Wetter erwartet hatte. Ihre kühle Hand ließ die meine nicht los, sondern hielt sie lange fest. Überraschenderweise war es mir nicht unangenehm. In den Augen dieser alten Frau lag etwas, das mich beruhigte. Ich konnte den Blick nicht von ihr wenden. Was hatte sie gesagt? Ich war verwirrt.

„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“, fragte sie dann und rückte, ohne auf meine Antwort zu warten, mit dem Stuhl zu meinem Tischchen herüber. „Kennen Sie mich denn?“, fragte ich sie, jetzt wirklich neugierig geworden. „Nicht direkt“, sagte sie und schmunzelte geheimnisvoll.

Ich fand, das war eine seltsame Antwort. Entweder man kannte jemanden, oder er war einem fremd, aber indirekt jemand zu kennen schien mir mehr als merkwürdig. „Darf ich „Du“ sagen, mein Kind?“, ihre warmherzige Stimme wirkte fast hypnotisierend auf mich. Ich nickte automatisch.

„Mein Name ist Amalia und ich habe lange auf dich gewartet“, sagte sie geheimnisvoll. Ich schluckte. Kein Mensch hatte bisher auf mich gewartet. Meine unsichtbare Anwesenheit auf dieser Erde war Ausdruck meiner nicht vorhandenen Persönlichkeit. Ich war für andere nichts weiter als ein Individuum, dass ausgebildet werden musste, um sich selbst erhalten zu können. Aus dem Nest geworfen, war ich für immer vergessen. So empfand ich es jedenfalls, auch wenn mein Herz sich danach sehnte, Spuren hinterlassen zu haben, bei jenen, die mich jahrelang betreuten. Doch die Anrufe der Betreuer wurden immer seltener, bis das Telefon für immer verstummte.

„Ich weiß, dass du es nicht leicht hattest“, riss sie mich aus meinen Gedanken, „aber dein Leben fängt gerade erst an und du wirst sehen, es wird fantastisch werden! Was redet sie da, fragte ich mich und fühlte mich plötzlich sehr unwohl. Die Demenz dieser Frau war wohl schon etwas fortgeschritten, dachte ich, denn wie sollte sie mich kennen, wo ich doch erst seit ein paar Wochen in dieser Stadt wohnte. Krampfhaft suchte ich nach einer Möglichkeit sie wieder loszuwerden.

„Ich wohne noch nicht lange hier“, sagte ich und fing an mit dem Salzstreuer zu spielen. „Ich weiß“, sagte sie und rief nach dem Kellner. „Magst du Kaffee, Augustine?“, fragte sie mich und bestellte gleich zwei große „Braune“, ohne meine Antwort abzuwarten.

„Verwirrung stiften ist normal nicht meine Art“, sagte sie und legte ihre kühle Hand auf meinen Unterarm. Sofort spürte ich wie sich mein Herzschlag beruhigte und ich sah sie fragend an, harrend der Dinge, die da noch kommen mochten. Sie beugte sich wie eine Verschwörerin zu mir und flüsterte, sich vorher umsehend: „Du bist etwas Besonderes, mein Kind. Du hast eine große Chance verdient, da dich das Leben bisher nicht auf Rosen gebettet hat.“

Ich verstand überhaupt nichts.

Ich war nichts Besonderes.

Ich war das Einfachste und Unscheinbarste, was die Welt bisher gesehen hatte. Möglichst nicht auffallen, war meine Devise. Damit kam ich bis jetzt sehr gut klar. Konflikte ging ich mit bravouröser Sicherheit aus dem Weg, wohl wissend, dass ich stets den Kürzeren ziehen würde, war doch meine Rhetorik von Kindheit an verstümmelt worden. Körperlich war ich nie missbraucht worden, aber meine Seele wurde zerstückelt, durch den Fleischwolf gedreht und anschließend gebraten. Wer sie gegessen hat, kann ich nicht mit genauer Sicherheit sagen, es war wohl ein Gelage, das sich über Jahre hinzog. Und dann waren nur noch ein paar Krümelchen übrig, denen keiner mehr Beachtung schenkte. Vermutlich landeten sie im Biomüll.

„Ich bin nichts Besonderes und werde auch nie etwas Besonderes sein“, sagte ich trotzig und entzog ihr meinen Arm. „Ich kenne dich besser, als du glaubst“, sagte sie sanft. „Und woher sollten Sie mich kennen? Ich lebe erst seit Kurzem hier“, wiederholte ich, fast ein wenig zu grob. Durch meine schroffe Art ließ sie sich aber nicht beirren und redete mit ruhiger Stimme weiter.

„Du hast deine Mutter viel zu bald verloren und dein Vater war ein armer, getriebener Mann. Er meinte es gut mit dir, konnte dir aber keine Liebe geben, da er selbst eine gebrochene Seele war. Ich hoffe, du kannst ihnen eines Tages verzeihen.“, „Wieso wissen Sie von meinen Eltern?“, meine Neugierde flammte erneut auf und nährte meine Hoffnung, doch etwas von ihnen zu erfahren. „Ich weiß es einfach“, lächelte sie geheimnisvoll. „Kannten Sie sie?“, fragte ich hoffnungsvoll. Wie sehr wünschte ich, etwas von meiner Mutter zu wissen! „Viele Leute haben dich verletzt, und einige haben nicht immer die Wahrheit gesagt, was dich daran zweifeln ließ, dass deine Mutter nicht mehr lebt. Ich bin überzeugt davon, dass sie dir eine gute Mutter gewesen wäre, wenn sie nicht so bald von dieser Erde gegangen wäre. Es stimmt: deine Mutter ist bei deiner Geburt gestorben“, tröstend legte sie ihre Hand auf meine Schulter. Alte Gefühle kamen in mir hoch und schnürten meine Kehle zu. Ich musste unaufhörlich schlucken, aber der Kloß in meinem Hals brannte immer mehr, bis ich endlich resignierte und meinen Tränen freien Lauf ließ. Heiße Tränen, die jahrelang unter meinen Augenlidern brannten, die ich chronisch unterdrückte, bahnten sich nunmehr ihren Weg die Wangen hinab zu meinen Mundwinkeln. Mittlerweile hatten die anderen Mittagsgäste den Hof verlassen, was mir dabei half, meine Tränen hemmungslos laufen zu lassen. Ich sah alles nur mehr verschwommen, meine Nase lief und mein Körper wurde von einem unendlich befreienden Schluchzen geschüttelt. Die Welt um mich versank in einem weißen Schleier, meine Gedanken waren einem Schmerz gewichen, der mit aller Gewalt aus mir herauswollte. Ich spürte meinen Körper, wie er mit den Gefühlen einen Kampf austrug, den nur ich gewinnen konnte.

Nach einer schier endlosen Zeit griff ich nach dem Taschentuch, das mir gereicht wurde und putzte mir die Nase. Ein seltsames Gefühl des Friedens hatte sich in mir und um mich herum ausgebreitet. Die alte Frau sah mich zufrieden an.

Während ich die letzten Tränen trocknete, musste ich plötzlich, der grotesken Situation wegen, lachen. „Es tut mir so leid“, sagte ich, noch immer lachend, „ich kenne Sie ja gar nicht und Sie müssen sich meine Gefühlsausbrüche anhören. Ich schäme mich.“ Eigentlich schämte ich mich gar nicht, aber ich hatte das Bedürfnis, mich zu entschuldigen, wobei sich das Verlangen in den Vordergrund drängte, mich zu bedanken.

„Tränen können sehr befreiend sein, Augustine. Kein Mensch sollte sich dafür rechtfertigen müssen. Umsonst hat uns der liebe Gott diese seltsame Funktion nicht geschenkt“, sie schenkte mir ein gütiges Lächeln. Ich sah ihr forschend in die liebevollen Augen, die von unzähligen kleinen Fältchen umgeben waren. Sie hatte ein rundes Gesicht und auch um den Mund zahlreiche Falten, die ihrem Aussehen einen Zauber verliehen, dem ich mich nicht entziehen konnte. Bei Amalias Betrachtung hatte ich keine Angst mehr, einmal alt auszusehen. Ja, genauso wollte ich werden. „Wie alt sind Sie eigentlich, Amalia?“, entfuhr es mir plötzlich und ich wollte mich gleich dafür ohrfeigen, dass mir so eine dumme Frage herausgerutscht war.

„Sehr alt!“, sagte sie nur und trank bei ihrem Kaffee, der in der Zwischenzeit kalt geworden war. Auch ich nippte an meiner Tasse und war froh, dass das Thema Alter damit erledigt war. „Haben Sie meine Mutter wirklich gekannt?“, fragte ich etwas zaghaft und wusste nicht, ob ich wollte, dass sie die Frage mit Ja oder Nein beantwortete. Amalia nickte bedächtig mit dem Kopf. „Deine Mutter wollte, dass ich dir ein Geheimnis verrate, deshalb bin ich hier“, sie beugte sich etwas vor und flüsterte beinahe. „Sie hatte eine Gabe“, sie räusperte sich ein wenig und sah sich um, obwohl keiner mehr im Hof war, „und deine Mutter hat sie an dich weitergegeben.“

Mein Herz begann wie wild zu schlagen.

Was für eine Gabe denn?

Was sollte das eigentlich?

Ich glaubte nicht an Märchen!

Mein Blick musste eine Mischung aus Erstaunen, Skepsis und Lächerlichkeit widergespiegelt haben, denn die alte Frau sah mich an und begann herzhaft zu lachen. „Genauso hat mich deine Mutter damals auch angesehen. Du siehst ihr sehr ähnlich, weißt du“, sagte sie und tätschelte beruhigend meine Hand. Krampfhaft durchstöberte ich mein Gehirn, eine Ausrede zu finden, um hier augenblicklich vor dieser Wahnsinnigen zu verschwinden. Aber eine unbekannte Kraft hielt mich auf dem Sessel. Ich war noch immer unfähig irgendetwas zu sagen. Tausend Fragen formierten sich in meinem Kopf, doch war es mir unmöglich nur eine zu stellen.

Warum war sie hier?

Doch nicht wegen einer unscheinbaren Person wie mir? „Du musst wissen: diese Gabe kann einen Fluch oder einen Segen bedeuten. Du musst selbst herausfinden, welche Möglichkeiten dir offenstehen und wie du sie einsetzt. Doch hüte dich vor ihrer Macht!“, sagte sie gedämpft und lehnte sich wieder in ihrem Sessel zurück. Ich starrte sie an.

Sie war eindeutig nicht recht bei Sinnen.

Man hatte mich immer vor Irren gewarnt: `Sprich nicht mit Fremden!´, `Die Leute lügen!´, `Lass dich nicht ausnützen!´ Wie um alles in der Welt sollte ich zu meiner Umwelt je Vertrauen aufbauen, wenn man mir von Kindheit an gelehrt hatte, vor meinen Mitmenschen auf der Hut zu sein. Es gab nicht viele Menschen, die es gut mit mir meinten. Ich war ein Job wie jeder andere. Man passte auf mich auf und erzog mich adäquat, oder auch nicht. Wenigstens war ich selbständig und konnte mich allein durchs Leben bringen. Also: Aufgabe erfüllt! Augustine liegt uns nicht länger auf der Tasche!

Wütend starrte ich Amalia an, unfähig nur ein Wort zu sagen. „Ich weiß, mein Kind, dass du mich für verrückt hältst, aber ich bin dir nicht böse“, wieder lächelte sie mich freundlich an. Schön langsam ging sie mir auf die Nerven, mit ihrem ewigen Lächeln. Ich war wütend, konnte aber nicht genau sagen auf wen oder was. Ich hatte keine Ahnung, von was diese alte Frau sprach und was ich damit zu tun hatte. Kannte sie denn meine Mutter? Dann sollte sie gefälligst von ihr erzählen.

„Bitte…, meine Mutter…, wie war sie?“, brachte ich zögernd hervor. Amalia ließ sich gemütlich in den Sessel zurück und dachte kurz nach. „Sie war eine liebenswürdige, junge Frau. Dein Vater hat sie geliebt, sehr sogar. Ihren Tod hat er nicht verkraftet, deshalb war dein Vater so, wie du dich an ihn erinnern kannst. Er zerbrach daran, dass er sie verloren hatte. Die Liebe zu dir konnte er deshalb nicht aufbringen, weil sie bei deiner Geburt gestorben ist. Er begann zu trinken, um zu vergessen. Den Rest kennst du ja“, sie machte eine kurze Pause und seufzte.

„Deine Mutter dagegen liebte das heranwachsende Kind in ihrem Bauch mehr als ihr eigenes Leben, das kannst du mir glauben.“ Wieder stiegen Tränen in mir hoch, aber ich schluckte sie tapfer hinunter. Ich sah meinen Vater vor mir, betrunken, mit gequältem Gesichtsausdruck. Intuitiv hatte ich immer gewusst, dass es nicht an mir lag, dass er trank. Aber meine Sehnsucht nach seiner Liebe, nach Anerkennung und Trost waren so groß, dass ich mich auch heute noch oft in den Schlaf weinte. Ich hatte niemanden. Der Schmerz in meiner Brust war so groß, dass ich es fast nicht ertragen konnte.

„Du wirst deinen Weg gehen, mein Kind. Du hast noch dein ganzes Leben vor dir! Das Glück ist in dir, du brauchst es nur zu finden“, ihre Stimme klang zuckersüß, was mir aber auch kein Trost war. Ich schnaubte verächtlich.

„Wann hatte ich schon Glück!“, stieß ich wütend hervor. „Du kannst in den Schuhen der anderen gehen“, sagte sie geheimnisvoll und legte einen Finger auf die Lippen, um zu demonstrieren, dass es nur für meine Ohren bestimmt war. Der Kellner kam mit der Rechnung und verhinderte meine brennenden Fragen. Plötzlich überkam mich eine starke Müdigkeit und ich war wohl ein paar Minuten eingenickt.

Als ich erwachte saß ich allein in dem schäbigen Hof.

Gabe & Fluch

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