Читать книгу Der Duft der Bücher - Jenny Schon - Страница 10
Ein Tagebuch der besonderen Art
ОглавлениеIch bin ganz erschüttert. So was habe ich noch nie gehört und gelesen. Tante Marie hatte mir noch ein Buch geschickt. Ich habe jetzt erst drin gelesen: Anne Frank, Tagebuch.
Auch Anne hat ein Tagebuch geschenkt bekommen, so hat das Tante Marie also gemeint. Dass ich das so mache wie Anne. Sie schreibt an eine: liebe Kitty, die es aber gar nicht gibt. Sie leben in Amsterdam, versteckt, weil sie verfolgt werden, von den Nazis.
Ich habe Mutti gefragt, was ist denn das? Dass die Nazis in Holland die Juden verfolgen?
Das weiß ich nicht, wir waren ja damals in der Tschechoslowakischen Republik, das ist weit weg. Da haben sich keine Juden versteckt, bei uns in Trautenau gab es keine Juden. Die Leute waren bis auf wenige Evangelische alle katholisch.
Ich kann keinen fragen, was das bedeutet. Sonja nicht, die Karin nicht, mit der ich Fahrrad fahre, sie alle wissen das nicht. Schade, dass Linda nicht mehr da ist, die hat das vielleicht auf der höheren Schule gelernt, was die Nazis mit den Juden gemacht haben.
Vielleicht weiß es Onkel Franz oder Opa, aber ich komme jetzt nicht mehr nach Bonn. In der Schule traue ich mich nicht, so was zu fragen, und den Pfarrer im Konfirmandenunterricht auch nicht, bald ist die Prüfung, da werden wir nach dem Neuen Testament abgefragt, nach Jesus und der Bergpredigt.
Ja, ich habe Jesus lieb, weil er zu den Kindern lieb war, lasset alle Kindlein zu mir kommen, denn ihnen gehört das Himmelreich.
Mein Vater ist doch auch konfirmiert, dass er das vergessen hat.
Meine Mutter als Katholische hatte ja so was nicht.
Ich kann gar nicht aufhören, Anne Frank zu lesen. Sie hat auch Probleme mit den Erwachsenen, mit ihrer zickigen Schwester, die stell ich mir wie Sonja vor, die Mutter von Anne ist auch komisch, der Vater ist ja in Ordnung, anders als bei mir.
Seit letztem Jahr haben wir den Kölner Stadt-Anzeiger abonniert, vorher hatten wir keine Zeitung, nur abends das Fernsehen mit den Nachrichten und das Radio.
In der Zeitung steht auch so einiges drin, was ich nicht wusste.
Geschimpft wird wegen der Jugend, diese Halbstarken untergraben die Moral, machen nur Krach und neigen zur Gewalt. Und diese engen Jeans … Man müsste jetzt schon bangen, wenn der Elvis-Presley-Film kommt. Dabei schrieb der Stadt-Anzeiger, erinnere ich mich, dass der Bill-Haley-Film ein Reinfall war, langweilig und noch nicht mal wie woanders Krawall. Ich konnte ihn ja nicht sehen, weil ich Stubenarrest hatte. Aber der Krawall ist nur die eine Seite, wir wollen unsere Musik machen und tanzen und Moped-Fahren, aber schwupp, schon ist die Polizei hinter uns her. Das ist doch deren Schuld. Die Alten hören doch auch ihre Musik, da holen wir doch auch nicht die Polizei, und dann gucken sie Kriegsfilme, Stalingrad und Schütze Arsch und was sie alles erzählen, die sind bestimmt schlimmer als Außer Rand und Band, wo letztes Jahr überall Polizei herumstand bei den Kinos.
Karin gibt mir heimlich die Bravo zu lesen. Die kriegt Taschengeld, davon kann ich nur von träumen. In meiner Sparbüchse ist das Geld, das meine Verwandten da reintun, wenn sie zu Besuch kommen, aber da muss ich dann zum Geburtstag von Mutti, Vati, Mattes, die beiden Omas und Opas und Tanten und Onkel. So eine große Verwandtschaft ist teuer, nein, für die Bravo reicht es nicht, die würde Vati mir auch um die Ohren hauen.
Die Sonja ist meine beste Freundin, seit die Linda nicht mehr im Haus wohnt. Aber ich bin sehr oft von ihr enttäuscht, weil sie mich verrät und mir wehtut, und auch eifersüchtig ist, weil ich mit den Jungs Moped gefahren bin. Sie darf ja nicht auf der Straße spielen, und da lernt sie auch nicht die Jungs kennen, die ich kenne. Das kann sie aber nicht leiden.
Ich werde mit Karin gehen, auch wenn die katholisch ist, die Eltern von ihr sind nicht so streng wie die bei uns in der Tiergartenstraße, wo die Strenggläubigen nicht mit mir spielen durften, früher.
Ich habe viel zu tun, deshalb kann ich auch nicht jeden Tag ins Tagebuch schreiben.
Ich schreibe heimlich Tagebuch, wenn ich allein bin, was selten vorkommt.
Ich bin jetzt öfter in der Kirche und bei der Gemeindeschwester, manchmal ist auch der Pfarrer dabei. Ich nehme das schon ernst mit Gott und mit Jesus und ich lese zu Hause auch im Testament, deshalb komme ich nicht dazu, Anne und ihre Kitty zu lesen.
Der Pfarrer hat mir eine Bibel geliehen.
Siehst du, hat meine Mutter gesagt, Fritz, aus dem Saulus ist Paulus geworden.
Wie kann dat Paulus sein, dat is doch nur ä Mädsche, spottet mein Vater.
Gib mich mal. Ich geb ihm die Bibel. Dat is doch keine Bibel, dat is doch das Neue Testament. Und der Pfarrer hät dich dat geliehen?
Ich nicke, die anderen Kinder haben eine eigene.
Wat vor der Konfirmation?
Ich nicke.
Siehste, der ahle Pfarrer Großer is nich meh, da geht allet drüvver und unger.
Ein paar Tage später, mein Vater ist schon zu Hause, als ich von der Schule komme, sagt er: Isch han ens drüvver noh jedacht, eigentlich wollt isch ät dich erst vor die Konfirmation jevven, ävver heh:
Er öffnet die Schublade, dat is for dich.
Und er hat Tränen in den Augen, als er mir das Buch in die Hand drückt:
Do hät die Pfarrer Großer 1934 singe Namen ringeschribben für meine Konfirmation, lur ens. Und dat de nit denkst, mir woren in de Partei, nix do, und meh han ooch nit Juden umgebracht, jetzt wo du dat von dem Judenmädsche liest, der Großer wor in der Opposition und ming Mam hät him im Haushalt jeholfen.
Da war ich platt. Auch ich hab Tränen in den Augen. Da gibt er mir sein einziges Buch mit so einer kostbaren Unterschrift, und ein ander Mal ist er so ekelig zu mir.
Ich hab der Anne Frank erzählt, dass meine Familie und unser Pastor nicht Schuld an ihrem Unglück sind. Mir ist es ganz leicht ums Herz.
Einige Tage später. Ich geh ja immer noch einmal die Woche in die Turnhalle, das bezahlt mein Vater, ich kann mir keine kranken Kinder leisten, meint er, und immer kalt und warm duschen hinterher, verstehste, dat ham mer bei de Armee ooch so gemäht.
Da komm ich dann am Knabengymnasium vorbei, wo die Jungen anders aussehen als meine Rock’n Roller vom Jahrmarkt oder aus dem Fischmarkt. Auch die von unserer Straße sind anders, schläppsch, sagt mein Vater. Damit meint er, wie die gehen und frech antworten.
Die Gymnasiasten reden hochdeutsch, tragen eine Aktentasche, die an ihren dünnen Ärmchen zieht, weil sie schwer ist vor lauter Wissen. Manchmal sehe ich auf dem Schulhof einen Jungen ganz alleine auf dem Mäuerchen sitzen und lesen. Er trägt eine Brille.
In der Schule ist eine Berufsberaterin angekündigt.