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Der Traum vom Duft der Bücher

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Die Ratten lauerten überall, sprangen auf und huschten weg, als wir in den Trümmern von Brühl ankamen. Meine Mutter war schreckhafter als ich, sie kreischte, sobald sie eine Ratte erblickte.

Ich wachte schweißgebadet auf aus diesem Traum, noch lange Jahre danach.

Als Tante Änne aus Porta Westfalica zurückkehrte, wo sie die ersten Jahre nach dem Krieg als Kindermädchen gearbeitet hatte, brachte sie mir Der Rattenfänger von Hameln, gesetzt in großen Druckbuchstaben, mit. Ich begann zu buchstabieren: DER RATTEN … Nein, nein und noch mal nein, schrie meine Mutter. Die Ratten haben wir beseitigt. Schluss jetzt! Weg damit!

Es half nichts, das Buch blieb, es war mein erstes Buch, es war überhaupt das Allererste, was mir in Brühl geschenkt worden war, und es musste immer mit. Es spielt auch in dem Traum, der immer wieder kommen sollte, eine große Rolle.

Meine Mutter stellt sich beim Bankdirektor vor. Er klimpert mit dem Schlüssel in der Hosentasche. Er steht vor einem Schrank mit geschliffenen und geschwungenen Glasscheiben. Was ganz Kostbares …, das spürt sie, die neben ihm steht, sofort.

Ich sehe das Mädchen, das auf den gebohnerten, bei der kleinsten Bewegung knarrenden Dielen hockt. Es starrt auf die gewienerten, ebenfalls nach Bohnerwachs duftenden Schuhe dieses Mannes. Sie glänzen. Nie zuvor hat es so glänzende Schuhe gesehen.

Wenn es auf dem Mäuerchen hockt, bei der Oma vor der Berufsschule, wo viele Männerschuhe vorbeilaufen, sind manchmal auch Stiefel darunter. Die hat es überhaupt nicht gerne, die sind staubig und wirbeln Staub auf, das ist stinkender Staub, Straßenstaub. Das Mädchen hat Bilder vor Augen, auf denen Stiefel marschieren.

Auf dem Hof der Berufsschule – hier laufen viele Arbeiter herum –, riecht es so wie in den Trümmern von Dresden. Auch diesen Geruch wird das Mädchen nicht vergessen. Die Mutter erzählt manchmal davon, wie kaputt Dresden war, da wär’ doch Brühl noch ziemlich gut weggekommen im Vergleich. Das hören die Verwandten nicht gern, weil sie all die Arbeit sehen, die auf sie wartet, und all den Notstand, den der Krieg gebracht hat.

Dieser Mann hier aber hat eine unbeschädigte Wohnung und kostbare Möbel, und er riecht anders. So etwas hat das Mädchen noch nie gesehen und noch nie gerochen. Die Mutter wird sagen, das sei Parfüm.

Parfüm, wiederholt es für sich. Dieses Wort kennt das Mädchen noch nicht.

Die Mutter hat die Stelle bekommen, nachdem sie dem Direktor gezeigt hat, wie sie Staub wischt. Staub, der anders riecht, parfümierter Staub. Und dass das Kind mir gar nichts anfasst, donnert der Direktor. Das Mädchen zuckt zusammen.

Machen Sie den Schrank aber wieder fest zu, sagt er, als er ihn aufschließt, die Ratten fressen alles, auch alte Bücher, und seien Sie vorsichtig. In dem Moment, in dem die Glastür sich öffnet, fällt Duft, ein bisschen wie Heu, vermengt mit dem Geruch von Bohnerwachs, auf das Kind, das immer noch in der Ecke hockt. Es umhüllt es mit Sehnsucht nach einem eigenen Zuhause

Es hat zwar jetzt auch ein Zuhause. Aber der Vater muss es am Wochenende, wenn er aus dem Ruhrpott nach Hause kommt, überall stopfen, ausbessern und reparieren. Da gibt es keine Bücher und nicht so schöne Möbel. Woher soll das Mädchen wissen, dass das, was es riecht, Bücherstaub ist und der Geruch nach altem Leder, in das die Bücher geschlagen sind, und Möbelpolitur.

Vielleicht haben Sie eine andere Möglichkeit für das Kind, wenn Sie hier arbeiten. Das klingt wie ein Befehl. Das Kind duckt sich sofort. Die Mutter nimmt jedes Buch vorsichtig in die Hand und reibt es mit einem weichen wollenen Tuch ab.

Ein Zuhause ohne Kriegsschäden – das scheint es tatsächlich zu geben, wie hier bei den Bankleuten. Das Mädchen hat viel Zeit darüber nachzudenken, während es in der Ecke hockt und der Mutter beim Staubwischen zusieht. Warum kann es bei mir daheim nicht auch so schön sein?, denkt es, und sieht sehnsüchtig nach der Puppe mit dem Porzellangesicht und dem weißen Batistkleidchen. Sie thront auf dem Sofa wie eine Königin. Auch wenn es dem Mädchen in den Fingern juckt, sie einmal, nur ein einziges Mal, zu drücken, bleibt das Mädchen in der Ecke sitzen und schaut der Mutter zu.

Die Mutter erfährt, dass sie ihr Kind in den Kindergarten bringen kann. Der Direktor möchte nicht, dass sie es zur Arbeit mitbringt.

Der Kindergarten ist in der Friedrichstraße gegenüber dem Städtischen Knabengymnasium, eins für Mädchen hat die Stadt nicht.

Die Mutter muss einen Henkelmann besorgen, damit das Kind darin sein Essen bekommt. Die Mühlen-Oma hat einen übrig. Damit de groß und stark wirst, sagt die Oma, die nur eine Nenn-Oma ist. Der Kindergarten ist in der Nähe der Mühle.

Und nach dem Kindergarten kannste bei mich vorbeikommen, ne, Mädsche. Die Mühlen-Oma streichelt das Kind. Jetzt biste ja schon jroß. Pfiffi knurrt eifersüchtig und will dem Kind, wie jeden, der die Wohnung verlässt, an die Beine. Pfui Pfiffi, schimpft die Oma. Du fiese Möpp, dat is doch ä Pänz und kein Einbrecher.

Die Nonnen schöpfen aus einem riesigen dampfenden Kessel mit großen Schöpfkellen das duftende Essen und geben es in die Henkelmänner der Kinder. Den Kindern wird ganz warm. Sie sitzen ganz still an den Tischen.

Wenn ich dieses Bild träume, werde ich hungrig und wache auf. Ich nehme das Foto, das ein Fotograf von uns machte, aus dem Bilderrahmen auf meinem Tischchen. Es ist das einzige Foto bis zur Schulzeit.

Am liebsten hatte ich die dicke Nudelsuppe mit Rindfleischstückchen darin, den Milchreis mit Backpflaumen mochte ich auch sehr gerne.

Und dann geht der Traum weiter, das Kind zittert aus Angst vor den vielen Kindern. Es sagt der Schwester, dass es auf die Toilette müsse. Die Toilette ist auf dem Hof. Es kommt nicht wieder bis zur Kindergartenschließung. Die Schwestern rufen: Berta, wo bist du?

Sie antwortet nicht. Erst als die Mutter ruft, macht sie die Klotür auf, und kommt heraus.

Berta, was ist denn?

So viele Kinder, sagt sie.

Die Mutter Oberin kommt angerannt. Das geht aber nicht, Frau Pütz, erziehen müssen Sie Ihr Kind schon selbst, wir haben uns um alle Kinder zu kümmern.

Berta, bittet ihre Mutter auf dem Heimweg, ich kann Dich nicht zum Bankdirektor mitnehmen, auch wenn Du die Bücher gerne hast, er will es nicht. Du bist fünf Jahre alt und musst das verstehen. Du bekommst hier Essen, da hab ich zu Haus einen Esser weniger. Das ist viel Geld für Vati und mich, wenn wir wochentags nicht für Dein Essen sorgen müssen, Du weißt doch, dass wir arm sind, wir haben alles verloren und müssen erst wieder was aufbauen, dazu müssen wir schwer arbeiten. Schwer arbeiten, hörst du. Am Sonntag essen wir dann zusammen.

Es hilft nichts, am nächsten Tag sperrt sich Berta nach dem Essen wieder auf der Toilette ein, und am dritten Tag auch, obwohl sie versprochen hat, es nicht zu tun.

Herr Direktor, spricht die Mutter den Herrn mit den funkelnden Lederschuhen an. Sehr geehrter Herr Direktor, um es noch höflicher zu sagen, das Kind hat Angst bei so vielen Kindern im Kindergarten. Darf es nicht hier in der Ecke sitzen, es fasst auch nichts an. Es guckt in sein Märchenbuch, das seine Tante von der Porta Westfalica mitgebracht hat. Die Mutter holt das Buch aus ihrer Tasche. Eigentlich hasst sie das Buch, wo sie sich doch so vor Ratten ekelt, aber als sie sah, dass die Ratten vernichtet werden, war sie einverstanden.

Seh’n Sie, sehr geehrter Herr Direktor, das ist unser Buch, unser einziges. Berta geht nicht an Ihre Bücher, wir haben ja selber eine Kostbarkeit.

Der Direktor guckt sie an und geht wortlos raus. Ihre Mutter fasst dies als Erlaubnis auf.

Am Monatsende, nach der Auszahlung des Lohns, sagt er, dass sie ihre Arbeit gut gemacht habe, aber nicht wieder zu kommen brauche.

Auf der Straße zerrt sie das Kind hinter sich her. Alles Deinetwegen, giftet sie, erst haste die Lebensmittelmarken zerrissen und jetzt hab ich Deinetwegen die Arbeit verloren! Hätte ich dich doch damals bei der Vertreibung im Graben ersaufen lassen!

Sie erschrickt, drückt das Kind fest an sich und Tränen tropfen auf seine Locken.

Auch mit diesem Traum muss ich leben. Mutti lässt mich im schmuddeligen Graben liegen. Reden darüber mit ihr, was das für ein Graben ist, kann ich nicht. Sie will nichts mehr von früher wissen. Wir sind jetzt hier, Schluss aus. Auch wenn Oma aus Bonn kommt und im Dialekt redet, schimpft sie. Du sollst nicht, Mama, so reden, wir sind schon Jahre im Rheinland, und lass endlich das Kopftuch zu Hause. Opa, sag du doch was, wendet sie sich an ihren Vater.

Ja, was soll ich sagen, Madla, wir sind alte Bäume, die verpflanzen sich schlecht.

Opa hat mir neulich den Stifter mitgebracht, Bergkristall, hab ich mit der Taschenlampe in einer Nacht leergelesen, das Buch mit seinen glitzernden klirrenden Worten, jedes einzelne hat mich angeschaut. So etwas hab ich noch nie erlebt, so ein Buch, das mich so mitnimmt auf eine Reise in die eisige Nacht in ein anderes Land, in eine andere Zeit. So etwas möchte ich auch schreiben können.

Der Duft der Bücher

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