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Der Verrat

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Das Thema war: Was willst du mal werden?

Ich hab in Gedichtform geschrieben.

Voller Fehler, sagt die Lehrerin. Solche Wörter, die du erfindest, gibt es nicht. Der erste Satz hat schon mal kein Tuwort. Lies es vor.

Der Winter ein Schattenwurf.

Die Geworfenen, seine Kinder,

hinter den düsteren Bäumen im Grabennebel,

morgens, wenn ein Ahnen von Licht sich aufmachte

in den Tag.

Kleine Gespenster von lila,

ein wenig farbiger als das sie umgebende Grau.

Ich sah sie reiten mit dem Wind,

auf meinem Schulweg durch den Park,

ein lichtes Flattern der Äste

Das ist der Wind, mein Kind,

war das erste Gedicht, das ich auswendig lernte.

Wir besaßen keine Bücher,

nur eine Tafel, an die die Lehrerin den Erlkönig schrieb,

jede Stunde eine Strophe,

die sie in der nächsten Stunde abfragte,

bis es saß, bei allen!

Wir waren in der sechsten Klasse

und hatten das erste Mal in Deutsch Literatur.

Langsam vergaß ich die Schatten,

die meine Kindheit verfolgten.

Ich bettete sie in Märchen,

sie verloren ihren Schrecken.

Ich möchte Märchenerzählerin werden.

Gut, ich gebe zu, als Märchen ist es schön, dafür würde ich eine Eins geben, sagte Frau Schmitz, aber ansonsten ist nicht nur das Thema verfehlt, sondern auch die Form. Deshalb kann es als Aufsatz nicht bewertet werden. Schon was Thema verfehlt heißt, weißt du. Und was meint ihr? Die Lehrerin fragt die Klasse.

Ich musste die ganze Zeit vorne stehen und über das Gedicht sprechen, das heißt: verteidigen.

Ich muss am Sportplatz vorbei zur Schule, stammelte ich, da ist es morgens noch dunkel. Früher kamen die Jungs, die in die katholische Schule gehen, und verprügelten mich, evangelischer Rattenfänger, riefen sie, Pimock, Fusselumpzigarrenstump, da habe ich Angst. Ich habe Angst, zu spät in die Schule zu kommen, weil ich ja noch einen weiten Weg habe.

Und deshalb siehst du Gespenster? fragt die Lehrerin, die Schülerinnen gackern, besonders hässlich sind die hämischen Gesichter der dicken Töchter aus gutem Haus, die eine vom Eisen- und Elektrowaren-Kaufhaus, die durch den Schwarzen Markt reich wurden, und die von der Baufirma, die vom Bauen der Nachkriegsjahre reich wurden. Und ausgerechnet diese Schülerinnen, die schon eh Langeweile haben, sind vom Turnen befreit, weil sie was haben, was die anderen Mädchen noch nicht haben, wird getuschelt.

Ihr habt ja keine Heimat verloren, schreie ich sie an, ihr hattet zu essen, und seid zu faul zu turnen!

Da blieb ihnen das Lachen im Halse stecken, damit hatten sie nicht gerechnet, dass ich mich wehre.

Geld habt ihr, ja, das haben wir anderen Mädchen nicht, die wir flüchten mussten. Aber keinen Funken Fantasie habt ihr!

Nun kommt es! Statt mich zu unterstützen, sehe ich Sonja grinsen, und sie meldet sich und sagt, ich hab gesehen, wie sie das Gedicht abgeschrieben hat.

Das ist nicht wahr, Sonja, schreie ich. Nein, das ist nicht wahr, ich habe doch gar keine Bücher, das weißt du doch, Sonja, außer Grimms Märchen, und diese Märchen kennt ihr alle.

Nein, ich heule nicht, aber ich bin puterrot und darf mich wieder auf den Platz setzen.

Zu einem späteren Zeitpunkt wird Vati in die Schule geladen, der kann aber nicht, weil er in der Fabrik arbeitet und dafür keinen freien Tag kriegt, da müsste er sich Urlaub nehmen, aber das bin ich ihm nicht wert.

Frau Schmitz sagt, ich würde dir jetzt bei den Nachmeldungen doch noch mal eine Chance geben und eine Empfehlung für die höhere Schule schreiben.

Mutti geht zur Lehrerin.

Sie sind aber nicht erziehungsberechtigt, Frau Pütz.

Lassen Sie den Versuch, Frau Schmitz, sagt sie, mein Mann will es nicht, die Schule kostet Schulgeld, das haben wir nicht, und er ist der Meinung, dass ein Mädchen eh heiratet.

Ihre Tochter ist ja gut, aber in Deutsch bräuchte sie Nachhilfe und dann könnte sie auch weiterhin Englisch lernen, aber so geht es nicht, sie muss aus dem Englischunterricht raus. Sie kann ein wenig Latein, wie kommt das? Sind Sie katholisch?

Ja, ja, gewesen, stottert Mutti, aber nicht praktiziert, ich kann kein Latein. Wir hatten im Haus ein Mädchen, von einem schlesischen Beamten, verstehen Sie, die ging aufs Lyzeum, da hat Berta sie mit den Vokabeln abgehört.

Das ist ja erstaunlich, ein Volksschulmädchen hört eins vom Lyzeum ab?

Hat sie also doch die Begabung?

Nein, nein, Frau Schmitz, das Mädchen ist nach Köln gezogen, weit weg, die haben keinen Kontakt mehr. Meine Tochter wird das alles wieder vergessen, ereifert sich Mutti, und ich kann ihr ja sowieso nicht helfen, ich hab weder Latein noch Englisch gelernt, nur ein wenig Tschechisch, das zählt hier aber nicht.

Das ist wahr, Frau Pütz, dann kann ich Ihnen und Ihrer Tochter nicht helfen, da kommt sie nach der achten Klasse raus und wird in die Lehre gehen.

Ja, suchen wir dann für sie eine Lehrstelle, aber das ist ja noch ein Weilchen hin. Ich danke Ihnen, Frau Schmitz. Da kann ich ja meinen Mann beruhigen. Der hätte Krach geschlagen, wenn Sie eine Empfehlung für die höhere Schule ausgesprochen hätten, es sind ja selbst die Töchter der Reichen, ja sogar die vom Arzt ist letztes Jahr durch die Aufnahmeprüfung gefallen. Wie sollten wir einfachen Leute dem Kind helfen können?

Mutti nimmt mich an die Hand und wir gehen schweigend nach Hause.

Ich muss immer wieder an diesen Tag denken, was wäre wenn …?, ginge ich auf die Höhere Schule oder in ein Internat, könnte ich vielleicht wie die Ilse Macket in Trotzkopf mal einen Landratssohn heiraten, was immer das ist.

Sonja hat das Buch zurückgebracht, gefällt ihr nicht, sie würde keinen Landratssohn heiraten, sondern gleich einen Grafen.

Der Duft der Bücher

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