Читать книгу Kinder- und Jugendhilfe - Joachim Merchel - Страница 26

§ 1 Abs. 3 SGB VIII

Оглавление

Jugendhilfe soll zur Verwirklichung des Rechts nach Absatz 1 insbesondere

1. junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen,

2. Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Erziehung beraten und unterstützen,

3. Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen,

4. dazu beitragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen.

Die hier formulierte Zielbestimmung erscheint auf den ersten Blick als ein Konglomerat unterschiedlicher Erwartungen auf unterschiedlichen Ebenen. Hier steht die Verpflichtung, Angebote der Beratung und Unterstützung von Eltern bei ihrer Aufgabe der Erziehung ihrer Kinder bereitzustellen, neben einem als eigenständig erscheinenden Auftrag zur Förderung von jungen Menschen und zur Vermeidung bzw. zum Abbau individueller Benachteiligungen. Dies wird wiederum kontrastiert mit dem Auftrag der Gefahrenabwehr bei einer Gefährdung des Kindeswohls in- und außerhalb der Familie – ggf. auch gegen den Willen der Eltern. Ergänzt wird dies noch durch einen übergreifenden gesellschaftspolitischen Auftrag, für positive Lebensbedingungen für junge Menschen und für eine familienfreundliche Umwelt einzutreten.

In dieser zunächst unsortiert und manchmal widersprüchlich erscheinenden Zielbestimmung werden bereits erhebliche Spannungsfelder erkennbar:

• Ansatzpunkt bei den jungen Menschen, bei ihren Eltern, bei den gesellschaftlichen Verhältnissen;

• Aufträge zwischen Förderung, Beratung und Unterstützung junger Menschen und Familien auf der einen Seite und der Abwehr von Gefahren für das Kindeswohl auf der anderen Seite;

• Interventionsstrategien, die auf das Verhalten von Menschen gerichtet sind, auf der einen Seite, und Strategien, die auf die Beeinflussung der gesellschaftlichen Verhältnisse gerichtet sind, auf der anderen Seite.

In dieser Breite offenbart sich jedoch ein umfassender Auftrag, der unter dem Etikett »Einheit der Jugendhilfe« sogar als ›Markenkern‹ der Kinder- und Jugendhilfe artikuliert wird: Jugendhilfe mit ihrer Breite der Handlungsfelder und Methoden wird als der Versuch verstanden, auf vielfältige Lebensbewältigungsanforderungen von Eltern und ihren Kindern durch die Bereitstellung einer fördernden, helfenden und schützenden Infrastruktur zu reagieren. Ihre gesamten Aktivitäten sind eingebettet in einen umfassenden Auftrag der politischen Interessenwahrnehmung, der gesellschaftlichen Einflussnahme und der Infrastrukturgestaltung durch öffentliche und freie Träger (z. B. im Rahmen des Jugendhilfeausschusses durch eine offensive Jugendhilfeplanung).

Je komplexer gesellschaftliche Anforderungen werden und je ungleicher die Teilhabechancen von Menschen in der modernen Gesellschaft verteilt sind, um so vielfältiger müssen die Angebotsstrukturen der Jugendhilfe ausgestaltet sein, um ihren Auftrag erfüllen zu können. Es geht um eine umfassende Verantwortung für die Bedingungen des Aufwachsens von jungen Menschen seitens der Jugendhilfe, die sich inzwischen weit über die ursprünglichen Wurzeln der Sozialdisziplinierung ( Kap. 1.2) und des hoheitlichen Wächteramtes hinaus entwickelt hat, ohne diesen Teil jedoch abspalten zu können oder zu wollen.

Die im SGB VIII formulierten und dabei durch vielfältige Spannungsfelder gekennzeichneten objektiven Rechtsverpflichtungen und subjektiven Rechtsansprüche lassen sich als gesellschaftlicher Auftrag verstehen, für junge Menschen Bedingungen des Aufwachsens zu schaffen und weiterzuentwickeln, die ihnen eine optimale gesellschaftliche Teilhabe und optimale individuelle Verwirklichungschancen eröffnen. An diesem Auftrag kann die Kinder- und Jugendhilfe nicht ohne eine normative Basis arbeiten: Die Akteure der Kinder- und Jugendhilfe müssen sich in professionsinternen Diskursen und in Diskursen in ihrem gesellschaftlichen Umfeld auf der Basis spezifischer Menschenbilder und normativer Vorstellungen darüber verständigen, was »gelingendes Aufwachsen« von Kindern und Jugendlichen in dieser Gesellschaft ausmachen soll, wie das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen gestaltet werden soll und welcher Anteil dafür in öffentlicher Verantwortung liegt. Solche Vorstellungen unterliegen wie alle Konzepte und Ideen immer dem gesellschaftlichen Wandel. Daher befinden sich auch die gesetzlichen Grundlagen immer wieder auf dem Prüfstand und werden diesen gesellschaftlichen Entwicklungen folgend (wie die Vielzahl von SGB-VIII-Novellierungen seit 1990 zeigt) stets angepasst und im besten Falle im Sinne einer Kongruenz zu den gesellschaftlichen Herausforderungen weiterentwickelt.


Abb. 2: Aufgaben und Ziele der Jugendhilfe

Abbildung 2 macht den komplexen Auftrag der Jugendhilfe deutlich. Zunächst geht es um die Aufgabe allgemeiner Förderung, Unterstützung, Bildung und ggf. Befähigung von Eltern und Kindern. Die in diesem Kontext erbrachten Angebote und Leistungen richten sich grundsätzlich an alle Eltern, Kinder, Jugendliche und jungen Erwachsenen. Beispiele für solche, allen Bürgern und Bürgerinnen zugänglichen, zumeist selbstverständlich erwarteten und in Anspruch genommenen Jugendhilfeleistungen sind Tageseinrichtung und Tagespflege, Allgemeine Förderung der Erziehung in der Familie, Eltern- und Familienbildung, Jugendarbeit und Jugendbildungsarbeit, Jugendverbände etc. Diese Angebote sind zentrale Bestandteile einer fördernden gesellschaftlichen Infrastruktur. Zu dem Bereich der allgemeinen Förderung gehören auch spezielle Unterstützungsangebote für Menschen in belastenden Lebenslagen. So sollen spezifische Angebote für Eltern in Trennungs- und Scheidungssituationen oder für junge Menschen mit individuellen Beeinträchtigungen oder sozialen Benachteiligungen dazu beitragen, dass möglichen Problemlagen schon bei ihrer Entstehung wirkungsvoll entgegengetreten werden kann. Auch die im letzten Jahrzehnt aufgebaute interdisziplinäre, durch die Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Gesundheitswesen gekennzeichnete Infrastruktur der sog. Frühen Hilfen ist solchen allgemein fördernden, für alle (jungen) Eltern zugänglichen Angebotsformen zuzurechnen.

Auf einer zweiten Ebene normiert das SGB VIII spezielle Angebote der Hilfe und Unterstützung für Familien in besonders belastenden Lebenssituationen, die Unterstützung bei der Erziehung ihrer Kinder benötigen. Daneben gibt es auch spezifische Leistungsangebote, die sich direkt an Jugendliche und junge Erwachsene richten. Diese Angebote, die mit individuellen Rechtsansprüchen gekoppelt sind, richten sich auf konkrete Hilfebedarfe, die durch eine allgemein fördernde Infrastruktur (allein) nicht mehr aufgefangen werden können und die einer speziellen individuellen Hilfeplanung und Intervention bedürfen. Zu solchen Hilfeformen gehören die Hilfen zur Erziehung, die Hilfen für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche sowie die Hilfen für junge Volljährige. Sie umfassen ein breites Spektrum von möglichen Interventionen von der Erziehungsberatung über ambulante Hilfen unterschiedlichster Intensität bis hin zur Schaffung alternativer Lebensorte für Kinder und Jugendliche in Heimen und Pflegefamilien oder in sonstigen betreuten Wohnformen. Entscheidungen über die Bewilligung solcher Hilfen werden im jeweiligen Einzelfall vom Jugendamt getroffen.

Auf einer dritten Ebene schließlich wird die Jugendhilfe von sich aus auch dann tätig, wenn es darum geht, den Schutz von Kindern und Jugendlichen sicher zu stellen. Es handelt sich hierbei um hoheitliche Aufgaben, die unabhängig vom Willen der Adressaten und Adressatinnen (nicht aber ohne deren Beteiligung) vom Jugendamt wahrgenommen werden (Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung). Hoheitliche Aufgaben umfassen aber nicht nur die unmittelbare Gefahrenabwehr (z. B. Inobhutnahme), sondern auch die Mitwirkung in strittigen Trennungs-/Scheidungsverfahren oder im Rahmen von jugendgerichtlichen Strafverfahren. Hier kommt die öffentliche Jugendhilfe ihrem »staatlichen Wächteramt« nach. Inhaltlich dienen auch diese hoheitlichen Aufgaben der Sicherstellung der Sorge und Fürsorge für Kinder und Jugendliche.

Auffallend ist, dass sich viele Angebote des KJHG an die Eltern als die Personensorgeberechtigten richten. Das hat dem Gesetz den heute nicht mehr so oft zu hörenden Vorwurf eingetragen, eher ein Eltern- oder Familienhilferecht als ein Kinder- und Jugendhilferecht zu sein. Münder et al. machen mit Bezug hierauf noch einmal den besonderen Stellenwert des SGB VIII im Gesamtkontext des SGB deutlich:

»Die Lebenslagen der Leistungsberechtigten des SGB VIII unterscheiden sich regelmäßig von den Lebenslagen, von denen die Sozialgesetze ansonsten ausgehen. Hier geht es nicht nur um Leistungen zwischen Leistungsberechtigten und Leistungsträgern, sondern im Mittelpunkt der Leistungen stehen Kinder und Jugendliche. Selbst dort, wo Minderjährigen eigenständige Rechte eingeräumt sind, werden sie regelmäßig durch die Sorgeberechtigten vertreten. So schaden Personensorgeberechtigte, die Leistungen nicht in Anspruch nehmen, nicht primär sich selbst, sondern regelmäßig ihren Kindern« (Münder et al. 2013, Einleitung Rz 60, 68, Hervorhebung im Original).

Auf diese Besonderheit hinweisend fordert Münder gerade in der Jugendhilfe niedrige Zugangsschwellen für Eltern und Kinder und ein offensives Auftreten der Jugendhilfe beim Anbieten ihrer Leistungen. »[I]nsgesamt ist die Verfahrensgestaltung seitens der Verwaltung aktiv, in zugehender Weise auszugestalten« (ebd.).

Das SGB VIII ist einerseits als Leistungsgesetz konzipiert, in dem personenbezogene sozialpädagogische Dienstleistungen normiert werden; andererseits enthält es hoheitliche Aufgaben zum Schutz von Kindern und Jugendlichen, die im Rahmen von entsprechenden Eingriffsbefugnissen und -verpflichtungen erfüllt werden müssen.

Beiden Funktionselementen ist gemeinsam, dass sich die Voraussetzungen des Handelns nicht objektiv (ohne Ansehen der Person) bestimmen lassen. Als zentrale Angebots-Elemente der hier formulierten personenbezogenen (Dienst-)Leistungen tauchen in allen Leistungsfeldern Begriffe wie Beratung, Betreuung, Förderung, Unterstützung, Erziehung auf. Da sich angesichts der unendlichen Vielfalt von Lebens- und Erlebensformen von Menschen weder die Anspruchsgrundlagen für Leistungen noch die je im Einzelfall richtigen sozialpädagogischen Leistungen auch nur annähernd objektiv oder gar abschließend beschreiben lassen, sondern diese immer abhängig sind von den spezifischen Lebenssituationen der Adressaten und Adressatinnen, ist der Gesetzgeber hier gezwungen, an vielen Stellen auf unbestimmten Rechtsbegriffe (notwendig, geeignet, rechtzeitig, erforderlich, ausreichend, bedarfsgerecht etc.) zurückzugreifen. Ähnliches gilt auch im Kontext der zum Eingriff in Elternrechte berechtigenden und z. T. verpflichtenden hoheitlichen Aufgaben, in dem eine Grenzziehung zu den Leistungen vor allem durch die Unterscheidung der beiden ebenfalls unbestimmten Rechtsbegriffe des nicht-gewährleisteten Kindeswohls (als Grundlage eines Rechtsanspruchs auf Hilfe) und des gefährdeten Kindeswohls (als Grundlage für staatliche Eingriffe ins Elternrecht) normiert wird.

Sowohl bei den dienstleistungsorientierten als auch bei den stärker eingriffsorientierten Interventionen werden oft jeweils nur Zwecke und Ziele vorgegeben, denen die professionellen Akteure verpflichtet sind. Das SGB VIII ist also gerade in seinen sozialpädagogischen Teilen nicht konditional gestaltet (wenn A vorliegt, muss B erfolgen), sondern erfordert von den Fachkräften, die Handlungsvoraussetzungen in jedem Einzelfall immer wieder neu zu bestimmen und das eigene Handeln nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten (wie ist eine Lebenssituation zu interpretieren; welche Handlungsschritte macht dies erforderlich?) individuell auszugestalten.

Dabei ist unvermeidbar, dass die mit solchen Aufgaben beauftragten Fachkräfte immer auch ihre eigenen, wesentlich durch gesellschaftliche Norm- und Wertvorstellungen geprägten weltanschaulichen, politischen, alltagstheoretischen, schichtspezifischen Vorstellungen von Familie, Erziehung und Kindeswohl zum Maßstab ihres Handelns machen. Die Unbestimmtheit von Gesetzesbegriffen wie »Kindeswohl« birgt insoweit die Gefahr eines »staatlichen Einfallstors in das private Erziehungskonzept« (Münder 1996, 157). Für die Akteure gilt es deshalb, stets professionelle Erkenntnis und persönliche Überzeugungen eigens zu reflektieren und dabei deren Verwobenheit reflexiv in den Blick zu nehmen. Erst wenn dieses Gebot strikt eingehalten und kontrolliert wird, kann der Vorteil der vielen unbestimmten Rechtsbegriffe im SGB VIII zum Tragen kommen, nämlich, dass sie es im besonderen Maß erlauben, die professionelle Förderung, Hilfe oder ggf. auch den Eingriff induktiv an den Notwendigkeiten des Einzelfalls auszurichten.

Im Sinne der Einheit der Jugendhilfe ist von den Fachkräften zu erwarten, dass sie das Gesamtfeld der Jugendhilfe im Blick haben und über die dort bestehenden Handlungsaufträge und Handlungsmöglichkeiten Bescheid wissen. Es reicht nicht, sich unter Ausblendung der anderen Leistungsbereiche nur über sein eigenes Aufgabenfeld zu definieren. Eine solche abgeschottete, ›versäulte‹ Sichtweise liefe der Intention und dem Grundverständnis der Jugendhilfe zuwider. Allerdings sind die inhaltlichen Herausforderungen in den verschiedenen Feldern trotz ihres gemeinsamen sozialpädagogischen Begründungsrahmens so unterschiedlich, dass es unabdingbar ist, arbeitsfeldspezifische Kompetenzen für die je spezifischen Handlungsbereiche zu entwickeln ( Kap. 5).

So ist klar, dass erhebliche Unterschiede allein in den verschiedenen Förderbereichen der Förderung in Tageseinrichtungen und der Kinder- und Jugendarbeit existieren, die aufgrund des unterschiedlichen Alters und der unterschiedlichen Entwicklungsstufen und Lebensbewältigungsaufgaben einer je spezifischen Kompetenz der Fachkräfte bedürfen. Die hier schon sehr divergierenden Anforderungen unterscheiden sich wiederum gravierend von der Anforderung, bei zugespitzten Problemlagen Zugänge zu den betroffenen Familien zu erlangen, Hilfebedarfe zu erkennen und angemessene Hilfestrategien zu deren Bearbeitung zu entwickeln und umzusetzen (Hilfen zur Erziehung). Und schließlich ist auch ein professioneller Umgang mit hoheitlichen Schutzaufgaben zur Abwendung von Kindeswohlgefährdung, ggf. auch gegen den Willen von Eltern, mit ganz spezifischen Kompetenzerwartungen verbunden. Jedes Handlungsfeld definiert einen eigenen Korridor für legitime Erwartungen und begründete Handlungsstrategien. Die Fachkräfte haben bei allen Spezifika der Handlungsfelder, in denen sie tätig sind, jedoch immer deren Stellenwert im Gesamtfeld der Jugendhilfe im Auge zu behalten und Überschneidungen mit Handlungsaufträgen anderer Arbeitsbereiche in einem Gesamtverständnis von Jugendhilfe produktiv und kooperativ zu nutzen.

Kinder- und Jugendhilfe

Подняться наверх