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Das Konzept einer Offensiven Jugendhilfe

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Das Etikett »theoretische Orientierung« muss beim Konzept einer Offensiven Jugendhilfe zunächst etwas relativiert werden. Wie in diesem Abschnitt dargestellt, ist das Konzept eher aus einem jugendhilfepolitischen Impuls entstanden und folgt nicht so sehr theoretischen Grundannahmen. Der Theoriegehalt des Konzepts der Offensiven Jugendhilfe ist daher eher gering ausgebildet. Es wird dennoch hier einbezogen, weil damit generelle konzeptionelle Orientierungen in die Kinder- und Jugendhilfe eingebracht wurden, deren Linien in die bis heute formulierten Konzepte hineinwirken.

Die Ursprünge dieses Konzepts liegen in den 1960er Jahren und den in dieser Zeit durch die Studentenbewegung initiierten und begleiteten Diskussionen um die Demokratisierung der Gesellschaft. Im Zuge gesellschaftlicher Umbrüche, angetrieben durch verschiedene soziale Bewegungen (Studentenbewegung, Frauenbewegung, Friedensbewegung) kommt es im Gefolge der Ereignisse rund um das Jahr 1968 zu einer Politisierung und zu neuen Denkbewegungen auch in der Jugendhilfe. Stichworte wie ›Heimkampagne‹, ›Kinderladenbewegung‹ oder ›antiautoritäre Erziehung‹ stehen exemplarisch für die vielen Erneuerungen und Umbrüche rund um die Jugendhilfe und um das sozialpädagogische Denken und Handeln. In Anlehnung an marxistische Theorien wird die Frage nach der gesellschaftlich-politischen Bedeutung der Sozialen Arbeit und der Jugendhilfe aufgeworfen. Um ein Gegengewicht zu einer sozialpädagogisch integrativen (eher unpolitischen) Tätigkeit zu schaffen, wird das »gesellschaftspolitische Mandat zur Durchsetzung sozial gerechter Lebensverhältnisse« (Hering/Münchmeier 2002, 114) mit der Forderung nach einer »Offensiven Jugendhilfe« betont. Befördert wird dies durch die zu Beginn der 1970er Jahre erfolgende Aufwertung von (sozial-)pädagogischen Ausbildungsinstituten, indem diese zunächst zu höheren Fachschulen für Sozialarbeit bzw. Sozialpädagogik und ab 1971 zu Fachhochschulen umgewandelt wurden (Rauschenbach 1990). Kurze Zeit später konnte die Ausbildung zu einem sozialen Beruf sogar an einigen neugegründeten Gesamthochschulen und Universitäten aufgenommen werden. Durch diese Akademisierung hat die Jugendhilfe einen deutlichen Bedeutungszuwachs erfahren, der sich auch in einer zunehmend stärkeren Profilierung der Jugendämter zu sozialpädagogischen Fachbehörden widerspiegelt.

Die Diskussionen zu einer Offensiven Jugendhilfe, die auf die (sozial-)politischen Rahmenbedingungen Einfluss nehmen und sich nicht auf die sozialpädagogische Bearbeitung individueller Problemkonstellationen beschränken will, markieren einen Wandel der Denkrichtung der Jugendhilfe von einer Defizitorientierung und einer Fürsorge für ›Problemjugendliche‹ hin zur Thematisierung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen bzw. gesellschaftlicher Strukturen, die das Aufwachsen und die Lebensperspektiven von jungen Menschen prägen. Jugendhilfe profiliert sich in diesem Verständnis als politische Interessenvertretung für junge Menschen; mit ihrem politischen Impuls soll sich die Jugendhilfe nicht auf Jugendhilfe- bzw. Sozialpolitik begrenzen, sondern ihre Perspektive politisch auch dort in die Politikfelder einbringen, in denen Entscheidungen über Lebensverhältnisse von jungen Menschen und Entscheidungen über die Handlungsmöglichkeiten der Kinder- und Jugendhilfe getroffen werden (Wohnungspolitik, Bildungspolitik, Beschäftigungspolitik, Familienpolitik u. a. m.).

Begleitet wurde diese Diskussion auf Bundesebene auch durch das BJK. Unter dem Leitbegriff der Offensive Jugendhilfe veröffentlichte das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit 1974 einen Bericht des BJK mit dem Titel »Mehr Chancen für die Jugend – Zu Inhalt und Begriff einer offensiven Jugendhilfe« (BMJFG 1974). Hierin wurden fünf Leitkategorien für die Jugendhilfe entwickelt und ausführlich beschrieben.

• Autonomie: »Autonomie wird hier verstanden als ein Zustand der Selbstverwirklichung und Eigenständigkeit, in dem physische, seelisch-geistige und gesellschaftliche Faktoren in einem optimalen Verhältnis zueinander stehen. (…) Autonomie überwindet insofern die zunächst gegebenen leiblich-pflegerischen, psychosozialen, ökonomischen und geistig-kulturellen Abhängigkeiten« (ebd., 40).

• Produktivität: Mit Produktivität ist für die Autoren und Autorinnen sowohl das Bedürfnis als auch die zu entwickelnde Fähigkeit zur Aufrechterhaltung und zum Ausbau von »Lebens- und Überlebensbedingungen« gemeint. Bezogen auf die Jugendhilfe umfasst die Leitkategorie die Fähigkeit, einerseits »für das Funktionieren einer Leistungsgesellschaft als Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit unentbehrlich für die Lebensqualität des einzelnen zu sein und andererseits zugleich kritische Distanz und gegebenenfalls Widerstand gegen das bloße Funktionieren zu mobilisieren« (ebd., 101).

• Kreativität: Hiermit wird die Fähigkeit zu »selbständig-schöpferischer Arbeit« benannt, die im Rahmen des Erziehungsprozesses gefördert werden soll; einbezogen ist Kreativität als Gestaltungselement persönlicher Beziehungen. Kreativität wird definiert als »die Fähigkeit, neue Beziehungen zu sehen, ungewöhnliche Ideen und Einfälle zu produzieren und von herkömmlichen Denkschemata abzuweichen« (ebd., 119).

• Sexualität: Sexualität wird verstanden als ein sowohl biologisches als auch soziales Grundanliegen des Menschen, sich seiner eigenen Geschlechtlichkeit bewusst zu werden, diese bewusst zu erfassen und in Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Normen und Standards zu entwickeln. Ebenso beinhaltet die Sexualität die Ausprägung von Liebesfähigkeit sowohl in Bezug auf die Beziehungen zu Personen wie auf die Gestaltung spezifischer wie allgemeiner Lebenssituationen und Lebensbezüge. »Gelungene Sexualität kann nur entstehen, wenn liebesfähige Erwachsene Kinder erziehen, ohne daß sie erlittene Repressionen einfach weitergeben.« (ebd., 84).

• Soziabilität: Soziabilität bedeutet vor allem die Fähigkeit zu sozialem Lernen. Dies schließt die »Fähigkeit zur Kommunikation« einschließlich einer »Risiko- und Konfliktbereitschaft« gerade auch in Bezug auf die Erlangung von Autonomie ein. Damit ist Soziabilität eine wichtige Ergänzung und Erklärung zur Leitkategorie der Autonomie. Vereinfacht meint Soziabilität, die eigenen Autonomiebestrebungen stets in Bezug setzen zu können zu dem elementaren Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Anerkennung. Soziabilität wird damit eine wichtige Grundlage für die Auseinandersetzung mit der Gesellschaft (ebd., 39).

Die vorstehenden Leitkategorien stellten einen Ausbruch aus einer einseitigen Fürsorgetradition für die ›Schwachen‹ dar und beschreiben faktisch ein auf Emanzipation gerichtetes Menschenbild, das zur Grundlage von Erziehung und damit auch der Jugendhilfe gemacht werden sollte. Gleichzeitig stellten die Leitkategorien ein Referenzsystem für eine Weiterentwicklung der Jugendhilfe in jener Zeit dar. Das auf Emanzipation ausgerichtete Menschenbild und Erziehungsverständnis korrespondiert mit einem gesellschaftspolitischen Verständnis von Jugendhilfe, das die sozialpädagogischen Aktivitäten mit politischen Impulsen zur Verbesserung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen verknüpft.

Hottelet et al. (1978) markierten die Leitformel einer Offensiven Jugendhilfe« plakativ auf dem Umschlag ihres Buches:

»Ein neues Konzept für die moderne Jugendhilfe setzt ein neues Selbstverständnis voraus. Allzu lange wurde ihre Aufgabe in der Flickschuster-Funktion bei Mißständen gesehen: Jugendhilfe springt ein, wenn Schäden entstanden sind. Offensive Jugendhilfe versteht sich demgegenüber als vierte Erziehungsinstanz – neben Familie, Schule, beruflicher Bildung – mit einer eigenen Erziehungsstrategie. Motto: Helfen und verändern. Jugendhilfe muß für alle Kinder und Jugendlichen wirksam werden« (ebd.).

Damit charakterisierten sie zum einen den mit dem Konzept der Offensiven Jugendhilfe vollzogenen Perspektivenwechsel von den Problemen der jungen Menschen zu deren gesellschaftlichen Ursachen. Zum anderen wird hier der Anspruch deutlich, dass Jugendhilfe sich um die Belange aller Kinder und Jugendlichen kümmern soll, indem sie ihren Vertretungsanspruch für die gesamte Jugend erklärt und sich politisch stellvertretend für die Interessen aller Jugendlichen einsetzt. Das Selbstverständnis, für alle und nicht nur für junge Menschen mit Problemen in der Erziehung zuständig zu sein, wird in der Selbstproklamation als »vierte Erziehungsinstanz« verstärkt.

In den heutigen Konzeptdebatten zur Kinder- und Jugendhilfe sind Argumentationsmuster erkennbar, die in der Traditionslinie der Offensiven Jugendhilfe liegen: das auf Emanzipation ausgerichtete Menschenbild mit seinen verschiedenen, den o. g. Leitkategorien folgenden Elementen, die Ablehnung einer reinen Defizitorientierung mit einer Ausrichtung an der Förderung und Unterstützung aller Kinder und Jugendlichen sowie der Einbezug gesellschaftspolitischer Überlegungen und Impulse in das Konzept- und Handlungsrepertoire der Kinder- und Jugendhilfe.

Man kann die Regelungen des § 1 Abs. 3 Nr. 4 SGB VIII auch als eine gesetzliche Anknüpfung zur Offensiven Jugendhilfe« interpretieren (so Meysen/Münder, in Münder et al. 2019, § 1 Rz 25): Der Jugendhilfe wird als Ziel zugesprochen, »dazu beizutragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen« (§ 1 Abs. 3 Nr. 4 SGB VIII) – eine generelle Zielsetzung, die in den Regelungen zur Jugendhilfeplanung (§ 80 Abs. 4) und zur Zusammenarbeit mit Organisationen aus anderen administrativen und politischen Bereichen (§ 81) aufgegriffen und konkretisiert wird.

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