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2.2.2.2 Das Konzept lebensweltorientierter Jugendhilfe
ОглавлениеEnde der 1970er Jahre entwarf Hans Thiersch (2005; 2006) das Konzept einer lebensweltorientierten Jugendhilfe. Seither stellt dieses Konzept einen zentralen Bezugspunkt für die Gestaltung Sozialer Arbeit dar. Der Begriff ist bis heute fester Bestandteil fachpolitischer und praktischer Diskurse in der Kinder- und Jugendhilfe und darüber hinaus in der gesamten Sozialen Arbeit. Insbesondere der 8. Jugendbericht (BMJFFG 1990) ist ein Dokument, in das Konzeptformulierungen zur lebensweltorientierten Jugendhilfe eingegangen sind und das für den Wechsel vom Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) zum KJHG (SGB VIII) eine große Bedeutung hatte. Mittlerweile wird in vielfältigen Veröffentlichungen das Konzept einer lebensweltorientierten Jugendhilfe beschrieben und zum Ausgangspunkt für methodische Handlungsorientierungen gemacht. Die Konzeptformel »Lebensweltorientierung« wird in einer solch ausgeweiteten Form verwendet und vereinnahmt, dass sie zum einen profillos zu werden droht und zum anderen in Gefahr ist, ihren Stachel zu verlieren, mit dem sie zum Zeitpunkt ihrer Formulierung – in der Kinder- und Jugendhilfe: in den 1980er Jahren – als kritischer Maßstab an die Praxis herangetragen wurde.
Grunwald/Thiersch (2016, 29) verorten das Konzept der Lebensweltorientierung »in der Tradition einer hermeneutisch-pragmatischen Erziehungswissenschaft und einer pragmatisch orientierten Sozialen Arbeit«, die angereichert werden durch sozialwissenschaftliche Argumentationen. Das Konzept ist weniger empirisch und eher programmatisch ausgerichtet. Der normative Bezugspunkt des Konzepts ist »soziale Gerechtigkeit«, die »in der Unterschiedlichkeit von individuellen und situativen Lebenssituationen konkretisiert werden« muss (ebd., 31).
»Lebenswelt« wird sichtbar und erlebbar im Alltag der Menschen. Diesen Alltag hat die Kinder- und Jugendhilfe in den Blick zu nehmen und Unterstützungen anzubieten, mit denen die Menschen ihren Alltag besser bewältigen können. Alltagsorientierung als Bezugspunkt methodischen Handelns fordert zum einen die Hinwendung zu den konkreten Lebensvollzügen der Menschen und zu ihrer persönlichen Sichtweise auf ihren Alltag; zum anderen bietet Alltagsorientierung eine kritische Perspektive, weil der Blick zu richten ist auf die Frage, was ein »gelingender Alltag« für die Individuen sein kann, und auf die Verhältnisse, die am Gelingen des Alltags hindern.
Lebensweltorientierung beinhaltet somit gleichermaßen eine Handlungsorientierung wie ein kritisches Korrektiv sowohl zur Betrachtung des Alltags als auch zur Bewertung des Handelns der Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe. Thiersch/Grunwald/Köngeter (2010) charakterisieren Lebensweltorientierung als ein Prinzip, das
»in den gegebenen Verhältnissen Optionen [sucht], die auf Gestaltungsräume in gegenseitiger Anerkennung verweisen könnten. Als Handlungskonzept verbindet sie den Respekt vor dem Gegebenen mit dem Vertrauen in Potentiale und Entwicklungsmöglichkeiten im Feld. Sie agiert in den Verweisungen zwischen Personen, Sachaufgaben und Beziehungen, zwischen hilfreichen Strukturen in Zeit und Raum und Beziehungen. Sie agiert im Zusammenspiel von Zutrauen, Vorschlägen von Alternativen und Konfrontationen – klassisch geredet also im Horizont von Fördern, Behüten und Gegenwirken« (S. 179).
Methodisch sind insbesondere Prinzipien wie der »respektvollen Annäherung an die Lebenswelt«, des »Respekts vor der Andersartigkeit und der Eigensinnigkeit von Lebensvoraussetzungen und -entwürfen« und der »strukturierten Offenheit« bedeutsam (Grunwald/Thiersch 2016); mit »strukturierter Offenheit« ist ein methodisches Handeln gemeint, das einerseits durch eine professionelle Logik im Verfahren strukturiert ist, andererseits aber hinreichend Raum lässt für individuelle und situative Konstellationen der Adressaten und Adressatinnen (insbesondere deren Alltagserfahrungen und Kompetenzen).
Für die Kinder- und Jugendhilfe impliziert das Konzept »Lebensweltorientierung« die Abkehr vom Versuch, professionelle Soziale Arbeit vorwiegend durch expertokratische Diagnose oder Therapie zu realisieren. Jugendhilfe soll an den konkreten Bedürfnissen von jungen Menschen und ihren Familien in ihren jeweiligen Lebensräumen anknüpfen. Ausgangspunkt professionellen Handelns sind nun die eigenen Problemdeutungen, aber besonders auch die eigenen Ressourcen des Individuums, um so in der Zielperspektive einen »gelingenden Alltag« zu ermöglichen. Eine solche Sicht verbietet standardisierte Reaktionen auf individuelle Probleme, sondern erfordert einen stets neuen reflexiven Zugang zu den Menschen. Hilfeprozesse sollen so gestaltet werden, dass sie zum einen eine Integration der Adressaten und Adressatinnen in gesellschaftliche Systeme (Arbeit, Schule, Familie) zu fördern vermögen, dabei aber zum anderen an deren Alltag und deren Sichtweise zu ihrem Alltag ansetzen sowie deren Fähigkeiten zur aktiven Gestaltung ihres Alltags in den Mittelpunkt stellen.
Während im Verständnis der Offensiven Jugendhilfe die ›Betroffenen‹ implizit als ›Opfer‹ restriktiver, ungerechter gesellschaftlicher Verhältnisse und als in ihren Handlungsmöglichkeiten und ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkte, den Verhältnissen eher passiv ausgesetzte Menschen gesehen werden, was sozialpädagogische Intervention (als »Emanzipationshilfe«) und stellvertretendes politisches Handeln erforderlich macht, werden Hilfeprozesse in einer lebensweltorientierten Kinder- und Jugendhilfe anders verstanden:
»Zentral werden [nun] beratende und begleitende Arbeit und Anregung und Hilfe zur Erschließung von materiellen, informationsbezogenen, sozialen und biographischen Ressourcen, von Ressourcen in Bezug auf Geld, Räume, Wohnungen und Freunde, die Entdeckung eigener Möglichkeiten« (BMJFFG 1990, 16).
Ziel ist es, Kinder und Jugendliche auf Wahrnehmung von Eigenverantwortung für ihren Alltag und auf selbständige Lebensführung vorzubereiten. Neben der Familie werden nun auch das System der Arbeit, die Wohnumwelt und die persönlichen Netzwerke der Adressatinnen und Adressaten mit in den konkreten Hilfeprozess einbezogen (BMJFFG 1990, 137). Ihnen selbst wird in diesem Kontext eine aktive Rolle zugeschrieben, womit sie gleichzeitig im Sinne einer Aktivierungslogik in die Verantwortung für die Überwindung ihrer Probleme genommen werden. Durch Hilfeprozesse sollen sie »eigene Vorstellungen zur Veränderung ihrer Situation (…) entwickeln und Spielräume der Selbststeuerung und Mitverantwortung (…) nutzen« (BMJFFG 1990, 24).
Im Vergleich zu Konzeptformulierungen der Offensiven Jugendhilfe verschiebt sich im Konzept der Lebensweltorientierung der Blick vom politisch stellvertretenden Handeln und einem auf gesellschaftliche Bezüge ausgerichteten Verständnis von »Emanzipation« und »Autonomie« hin zu einer Ausrichtung auf »Alltag« und eigenständige Lebensbewältigung, wobei die in der Biografie erworbenen, im Alltag sichtbaren und in der unmittelbaren Lebenswelt erschließbaren Ressourcenpotenziale im Zentrum von Hilfe- und Befähigungskonzepten stehen. Das Konzept »Lebensweltorientierung« kann aber nicht als ›unpolitisch‹ kategorisiert werden: Im Hintergrund steht eine – wenn auch sehr allgemeine, relativ bedeutungsoffene – Leitkategorie »soziale Gerechtigkeit« (nur ansatzweise genauer gefasst mit dem Begriff »Zugangsgerechtigkeit« als Zugang zu Ressourcen der Lebensgestaltung; Böhnisch/Schröer/Thiersch 2005, 247 ff.) und damit in Verbindung gesetzt Vorstellung von einem »gelingenden Alltag« mitsamt der politischen und gesellschaftlichen Bedingungen, die an einem Gelingen hindern oder es zu fördern vermögen. Auch das Einbeziehen der »Lebenslage« – als objektive Dimension der Lebenswelt (Kraus 2006; von Thiersch [2016a, 256] bildhaft als »Hinterbühne« zur alltäglichen Lebenswelt bezeichnet, die er als »Vorderbühne« kennzeichnet) – markiert den Stellenwert gesellschaftlicher (und politischer) Verhältnisse innerhalb des Konzepts der Lebensweltorientierung. Jedoch im Zentrum der Betrachtungen stehen die konkreten Lebensbedingungen der jungen Menschen (»Lebenswelt«) und weniger die politischen Konstellationen, auf die – neben der konkreten Hilfe zur »Emanzipation« und »Autonomie« – die Kinder- und Jugendhilfe Einfluss auszuüben bestrebt sein sollte.
Das Konzept der Lebensweltorientierung, so wie es in den 1980er und 1990er Jahr in der fachpolitischen Debatte diskutiert sowie in den 8. Jugendbericht Einzug gehalten und die Formulierung des SGB VIII beeinflusst hat, kann im Vergleich zur Offensiven Jugendhilfe als sozialpolitisch eher verhalten beschrieben werden. Statt einer politisch markanten Ausrichtung der Kinder- und Jugendhilfe tritt das Individuum in seinen konkreten sozialen Bezügen – und weniger als eingebunden in und geprägt durch politische Verhältnisse – in den Vordergrund. Es geht, salopp formuliert, nicht mehr so sehr um die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch die Individuen, sondern eher um die Gestaltung individueller Lebensräume durch die Gesellschaft.
Ein wichtiges Element der lebensweltorientierten Hilfen sind die den direkt helfenden Interventionen vorgelagerten »präventiv-feldorientierte[n] Ansätze« (BMJFFG 1990, 23). Die präventiven Hilfen basieren auf der Idee, dass die Probleme der Adressaten und Adressatinnen nicht plötzlich entstehen, sondern sich stufenweise im Lauf einer Biografie entwickeln. Dem soll in der lebensweltorientierten Hilfe entsprochen werden, indem sie in schwierigen Situationen frühzeitig entlasten und Hilfestellung bieten, damit diese erst gar nicht eskalieren (ebd., 85).
Für die Kinder- und Jugendhilfe wurden im 8. Jugendbericht (ebd., 85 ff.) – angelehnt an Konzeptvorstellungen der »Alltags- und Lebensweltorientierung« – einige »Handlungsmaximen« formuliert, die als fachliche Orientierungen für die Strukturierung der Kinder- und Jugendhilfe dienen sollten und bis heute immer wieder als fachliche Leitkategorien zitiert und diskutiert werden.
• Prävention in dem Verständnis, nicht mehr nur auf Notzustände zu reagieren und Jugendhilfe primär auf Eingriffstatbestände zuzuschneiden, sondern »vorbeugend« tätig zu werden in zweifacher Hinsicht: zum einen »feldorientierte Hilfen« zu gestalten, in denen Personen frühzeitig entlastet und ihnen de-eskalierende Hilfen geboten werden, sowie zum anderen mit sozial- und kommunalpolitischen Aktivitäten gesellschaftlich positive Lebensverhältnisse für junge Menschen und Familien zu schaffen.
• Dezentralisierung/Regionalisierung als Grundanspruch einer Jugendhilfe, die ihre Angebote in der Lebenswelt der Familien bereitstellt, Brüche verhindert und eine Inanspruchnahme von Unterstützungsleistungen der Jugendhilfe in erreichbarer Nähe des Lebensortes selbstverständlich ermöglicht.
• Alltagsorientierung setzt die Wahrnehmung der Ganzheitlichkeit und der an den Lebenslagen der Menschen orientierten Gestaltung der Jugendhilfeleistungen voraus. Menschen sollen in den Kontexten ihres Alltagslebens wahrgenommen werden und diese werden zur Richtschnur des Handelns. Nicht segmentierte, ausgrenzende Unterstützungsangebote, sondern eine in der Welt der Menschen verfügbare, die sozialen Ressourcen berücksichtigende Infrastruktur der Jugendhilfe soll die Praxis bestimmen.
• Integration – Normalisierung fordert eine konsequente Stärkung der Lebenszusammenhänge und die Akzeptanz eigensinniger Lebensführung. Damit einher geht immer die Aushandlung über die Frage, was Normalität ist und wie die Nutzer und Nutzerinnen von Jugendhilfeleistungen diese definieren. Aufgabe der Jugendhilfe ist es, Anschlussfähigkeit an diese Normalität herzustellen.
• Partizipation ist folgerichtig notwendiger Bestandteil, weil nur mit diesem Prinzip eine partnerschaftliche Kooperation zwischen den Nutzern und Nutzerinnen sowie den Fachkräften der Jugendhilfe gesichert werden kann. Ziel sind nicht aufgesetzte Angebote, sondern mit den Nutzern und Nutzerinnen sich entwickelnde Formen von Unterstützungsleistungen, die primär diesen bei der Bewältigung von Lebens- und Erziehungsaufgaben helfen und gleichzeitig den Ausgleich mit den gesellschaftlichen Erwartungen herstellen.
Das verstärkte Einbeziehen der Lebensbedingungen eines Menschen (Lebenslage) ermöglicht es, dessen subjektive Wirklichkeit (Lebenswelt) besser zu verstehen; subjektive und objektive Dimensionen der Lebenswelt werden stärker analytisch verschränkt. Gleichwohl bleibt im Konzept die Lebenswelt der Schlüssel für die Herstellung einer gelingenden Lebensführung. Das bedeutet für die Kinder- und Jugendhilfe zwar, dass sie differenzierte Betrachtungen zur Bedeutung von (objektiv analysierter) Lebenslage und (subjektiver) Lebenswelt einbeziehen kann. Entscheidungen zur Hilfe, Förderung und Unterstützung lassen sich jedoch nicht für, sondern nur mit den Adressaten und Adressatinnen treffen. Letztere bleiben immer Experten und Expertinnen in eigener Sache mit der Konsequenz, dass die Erkundung und Berücksichtigung von deren Sichtweisen zu einer elementaren Anforderung an die Kinder- und Jugendhilfe werden (Bitzan/Bolay/Thiersch 2006). Damit einher geht das Bemühen um eine Individualisierung der Hilfen: Hilfe soll individuell am und mit dem Menschen gemäß seiner persönlichen Lebenswelt geleistet werden, damit dieser seine Handlungsfähigkeit im Sinne eines gelingenden, in gesellschaftlicher Integration eingebetteten Alltags sichern bzw. wiederherstellen kann.