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Das Konzept des Capability Approach (Befähigungsansatz)

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Das Konzept des Capability Approach ist vom Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Amartya Sen und der Sozialphilosophin Martha Nussbaum entwickelt worden. Er fußt auf gerechtigkeitstheoretischen, sozialphilosophischen Erwägungen (Böllert et al. 2018). Er weist insofern eine Nähe zu Konzeptvorstellungen in der Sozialen Arbeit auf, als die Profession »Soziale Arbeit«, die nicht nur in gesellschaftlichen Funktionszuschreibungen (Normalisierung, Eingliederung, Defizitkompensation etc.) aufgehen will, sondern darüber hinaus eine eigene gesellschaftstheoretisch begründete und sozialethisch legitimierbare Position sucht und proklamiert, im Capability-Ansatz Anknüpfungspunkte erblicken kann. Nach diesem Konzept hat Kinder- und Jugendhilfe – als Teil der Sozialen Arbeit insgesamt – die Aufgabe, »jedem Bürger die materiellen, institutionellen sowie pädagogischen Bedingungen zur Verfügung zu stellen, die ihm einen Zugang zum guten menschlichen Leben eröffnen und ihn in die Lage versetzen, sich für ein gutes Leben und Handeln zu entscheiden« (Nussbaum, zit. nach Ziegler/Schrödter/Oelkers 2010, 304). Das »gute Leben« verwirklicht sich in den Chancen zu »Autonomie und Wohlergehen«, das in unterschiedlichen Dimensionen konkretisiert und gemessen werden kann. Die Ausrichtung an den Chancen für Autonomie und Wohlergehen mit den konkretisierenden Dimensionen erlaubt zum einen die kritische Frage, ob und wie Grundbedingungen in der Gesellschaft existieren und herausgebildet werden, die das Entstehen von Gerechtigkeit und Entfaltung ermöglichen. Zum anderen geht es um die Bewertung von Verwirklichungsmöglichkeiten der Individuen, also um die realen Möglichkeiten, ihre jeweils individuellen Vorstellungen von Autonomie und Wohlergehen zu gestalten. Da das, was »gutes Leben« ausmacht, an individuelle Vorstellungen von Wohlergehen geknüpft und auf Autonomiespielräume ausgerichtet ist, soll sich daraus keine paternalistische Perspektive ergeben im Sinne von außen definierter, allgemeinverbindlicher Konzepte und Maßstäbe für »gutes Leben«, die den Individuen übergestülpt werden. Vielmehr zielt diese Variante der Gerechtigkeitsethik auf eine Stärkung der Individuen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, ihre eigenen Vorstellungen von Autonomie und Wohlergehen realisieren zu können. (vgl. Otto/Ziegler 2008; Ziegler/Schrödter/Oelkers 2010; Ziegler 2018)

»Capabilities« sind Verwirklichungs- oder Entfaltungschancen für das Individuum, wobei solche Verwirklichungschancen sowohl eine gesellschaftliche Dimension aufweisen – als gesellschaftlich zur Verfügung gestellte reale Entfaltungsmöglichkeiten (gesellschaftliche Bedingungen) – als auch in einer personenbezogenen Dimension erkennbar werden – als vom Individuum in seinen Lebenskontexten und in seinen persönlichen Kompetenzen nutzbaren Optionen in Richtung Wohlergehen. Soziale Arbeit soll mit ihren »Wirkungen« auf beides zielen: auf gesellschaftliche und persönliche Relevanzfaktoren für Autonomiespielräume, die für ein individuelles Wohlergehen nutzbar werden.

Aus den »Grundbedingungen« zur Herausbildung von Autonomie und Wohlergehen in einer auf Gerechtigkeit ausgerichteten, ermöglichenden Gesellschaft werden verschiedene Dimensionen abgeleitet und begründet, in denen sich »Autonomie und Wohlergehen« abbilden und an denen ein wirkungsorientiertes Handeln der Sozialen Arbeit beurteilt werden sollen. In Anlehnung an die von Martha Nussbaum erarbeiteten zentralen Dimensionen haben Albus et al. (2010, 107) in ihrem evaluativen Forschungsprojekt zu Wirkungen in der Erziehungshilfe die Dimensionen folgendermaßen auf das Handlungsfeld übertragen und auf diese Weise einen Bezug zur Kinder- und Jugendhilfe herzustellen versucht: Gesundheit, Wohnen und Leben, körperliche Integrität, Bildung, Fähigkeit zu Emotionen, Vernunft und Reflexion, Zugehörigkeit, Zusammenleben, Kreativität, Spiel und Erholung, Kontrolle über die eigene Umgebung. In diesen Dimensionen soll Soziale Arbeit tätig werden und »Wirkungen« entfalten: zum einen im Hinblick auf die Gestaltung gesellschaftlicher und organisationaler Zustände, die den Individuen Verwirklichungschancen eröffnen, und zum anderen im Hinblick auf die individuellen Fähigkeiten, die eine reale Wahrnehmung vorhandener oder zu gestaltender Entfaltungschancen ermöglichen sollen.

Für die Kinder- und Jugendhilfe formuliert der Capability Approach somit zwei Handlungsrichtungen: zum einen die (sozial- und gesellschafts-)politische Analyse und Bewertung der Verteilung bzw. des Zugangs zu Ressourcen (z. B. zu materiellen Gütern und Rechten), zum anderen die personenbezogene Ausrichtung auf persönliche Fähigkeiten und das individuelle Relevanzsystem, mit dem »gutes Leben« individuell konnotiert wird. Jedes Kind, jede bzw. jeder Jugendliche sollte entsprechend dem Gerechtigkeitskonzept des Capability Approach die Möglichkeit haben, die Themen, die ihr bzw. ihm wichtig sind, im Leben realisieren zu können. Aus der Capability-Perspektive wird kritisch betrachtet, wie die Verwirklichungschancen ausgestaltet sind. Es handelt sich um eine Zusammenspiel von individuellen Fähigkeiten, Zugängen zu Infrastruktur-Angeboten, Ressourcen und Berechtigungen (Otto et al. 2010, 155). Im Mittelpunkt der Betrachtung und der Handlungsperspektiven stehen individuelle und gesellschaftlich konstituierte Teilhabechancen: Teilhabe als gesellschaftlich zugestandene Option des Zugangs zu Ressourcen sowie Teilhabe als herausgebildete individuelle Fähigkeit, persönliche Vorstellungen vom »guten Leben« zu entwickeln und die Schritte zur Umsetzung dieser Vorstellungen realisieren zu können. Kinder- und Jugendhilfe hat die objektiven und subjektiven Faktoren zur Umsetzung individueller Teilhabeoptionen (in den o. g. Dimensionen) zu analysieren und sich zielgerichtet für eine Verbreiterung der Teilhabemöglichkeiten – durch sozialpolitisches Handeln und durch Förderung bei der Herausbildung individueller Fähigkeiten zum selbstbestimmten Leben – einzusetzen, wobei entsprechend der individuellen Ausrichtung verschiedener Vorstellungen vom »guten Leben« die Stärkung der persönlichen Fähigkeiten im Mittelpunkt steht. Leitthema des Capability Approach ist die Chancengleichheit von Kindern und Jugendlichen, verstanden als Verwirklichungschancen im Sinne einer aus ihrer Sicht »guten Lebens«.

Die Kinder- und Jugendhilfe nimmt »schwierige Bedingungen des Aufwachsens« in den Blick, die Kindern auf verschiedenen Ebenen Teilhabe- und Verwirklichungschancen verwehren und ein Wohlergehen im Sinne eines gelingenden Aufwachsens be- oder verhindern. Die Analyse und die daraus abgeleiteten Handlungsorientierungen in der Kinder- und Jugendhilfe sollen sich auf vier Ebenen erstrecken:

• individuelle Problemlagen als Frage nach dem Mangel an Entwicklungs- und Verwirklichungschancen junger Menschen;

• sozialraum- bzw. milieuspezifisch charakterisierte Rahmenbedingungen mit der Frage nach deren erweiternden oder restringierenden Entwicklungs- und Verwirklichungschancen junger Menschen;

• pädagogische Institutionen ebenfalls mit der Frage nach den Folgen ihrer Strukturen und Prozesse für erweiternde oder restringierende Entwicklungs- und Verwirklichungschancen junger Menschen;

• kommunale Sozial- und Infrastrukturpolitik mit der Analyse zu deren Einfluss auf die Ermöglichung von Entwicklungs- und Verwirklichungschancen junger Menschen.

Der Unterschied des Capability-Ansatzes zum Konzept einer lebensweltorientierten Jugendhilfe liegt zunächst in der Bezugnahme auf sozialphilosophische Begründungen: Während im Konzept der Lebensweltorientierung der normative Bezug zum Begriff der sozialen Gerechtigkeit sehr allgemein bleibt und eher lose mit der Vorstellung vom »gelingenden Alltag« verknüpft wird, erscheint im Capability-Ansatz der Gerechtigkeitsbegriff etwas genauer dimensioniert und begründet durch einen differenzierteren Teilhabe-Begriff und durch die Dimensionen, in denen sich ein »gutes, autonom geführtes Leben« zeigt und bewertet werden kann. Insbesondere für die Debatten um »Wirkungen« in der Kinder- und Jugendhilfe stellt der Capability-Ansatz verschiedene Dimensionen zur Verfügung, die Effektivität in der Kinder- und Jugendhilfe über die jeweils individuellen Hilfeziele hinaus vergleichend analysierbar machen können (Albus et al. 2010). Somit erscheinen weitere Unterschiede zum Konzept der Lebensweltorientierung in der Dimensionierung für »Autonomie und Wohlergehen«, im Versuch der Konkretisierung dieser Dimensionen anhand von Indikatoren (Albus et al. 2010) sowie in der o. g. Differenzierung in vier Analyse- und Handlungsebenen.

Andererseits sind aber auch viele Anknüpfungspunkte zwischen den Konzepten der Offensiven Jugendhilfe, der Lebensweltorientierung und des Capability zu registrieren. Dies ist erkennbar in den sozial- und gesellschaftspolitischen Bezugnahmen, in Vorstellungen zu Autonomie und Emanzipation, in normativen Gerechtigkeitsvorstellungen, in ähnlichen Vorstellungen zu Zielrichtungen methodischen Handelns (»Selbstbefähigung« von Adressaten und Adressatinnen, Partizipation und Teilhabe etc.). Manches erscheint inhaltlich ähnlich, jedoch in verschiedenartige Begriffskontexte eingeordnet. Mit den verschiedenen Begrifflichkeiten mag die Aufmerksamkeit jeweils etwas anders ausgerichtet werden, und es mögen andere Begründungskontexte angesprochen sein, jedoch ergeben sich vielfach für praktische Handlungsorientierungen ähnliche Perspektiven. Ob der Capability-Ansatz, der erst später (seit ca. 2005) in die Kinder- und Jugendhilfe eingebracht und publiziert wurde, in den Konzeptdebatten ein längerfristig relevanter Faktor sein wird, ist noch nicht absehbar und bleibt abzuwarten. Seine Anknüpfungsoption an andere Konzepte und Leitbegriffe in der Kinder- und Jugendhilfe kann einerseits als eine Option für eine Eingliederung in Konzeptdebatten gewertet werden, andererseits aber auch als Begrenzung, weil sich die Frage nach dem Zusatz-Nutzen im Vergleich zu anderen Konzepten und Leitbegriffen stellt.

Kinder- und Jugendhilfe

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