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Sozialraumorientierung
ОглавлениеSozialpädagogisches Handeln in der Kinder- und Jugendhilfe kann kein Handlungsmodus sein, der entfernt vom Alltag der jungen Menschen und Familien stattfindet. Seine Bedeutung besteht ja gerade darin, an diesen Alltag anzuknüpfen und Lösungen für Alltagsprobleme zu entwickeln bzw. Anschlussfähigkeit an den Alltag der Menschen herzustellen. Der Alltag der jungen Menschen, und damit ihre sozialräumlichen Lebensverhältnisse, ist der zentrale Ausgangspunkt der Angebote und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe. Hierzu gehört, dass Angebote der Jugendhilfe im Stadtteil, in der Stadt, in der Region erreichbar sein müssen und dass die Schwellen zur Inanspruchnahme nicht zu hoch sein dürfen. Das Prinzip der Dezentralisierung ist ein Baustein einer solchen Sozialraumorientierung, da nicht mehr zentrale Einheiten einheitliche Lösungen vorgeben, sondern Angebote jeweils mit Bezug auf die konkreten regionalen und alltagsbezogenen Zusammenhänge entwickelt und gestaltet werden müssen. Der Auftrag für die Jugendhilfe muss sich aus den lebensweltlich gegebenen (Problem-)Zusammenhängen der Adressaten und Adressatinnen ergeben. Das bedeutet, dass bei der Planung und Realisierung von Angeboten immer die regionalen Gegebenheiten zu berücksichtigen sind, wobei bei alledem natürlich auch darauf zu achten ist, dass dieses Prinzip sich nicht in der Hinsicht verselbständigt, dass regionale Disparitäten sich zusätzlich (im Sinne von spezifischen Problemzuschreibungen für bestimmte Lebensräume und Wohnviertel) verschärfen. Dies erfordert eine sensible Berücksichtigung der Komplexität der verschiedenen Lebenswirklichkeiten von Kindern, Jugendlichen und Familien. Dabei ist es eine zentrale Frage, wie Kinder- und Jugendhilfe ihren Auftrag zwischen individueller Förderung, Unterstützung, Hilfe, Schutz einerseits (Ausrichtung auf das Verhalten von Menschen) und der Thematisierung und Veränderung von strukturellen Rahmenbedingungen andererseits (Ausrichtung auf die Verhältnisse, in denen Menschen leben) interpretiert und ausgestaltet.
Der Grundsatz der sozialräumlichen Bezugnahme und Ausgestaltung der Hilfe- und Förderungsangebote ist in der Kinder- und Jugendhilfe unumstritten. Problematisch ist jedoch, dass die Akzeptanz mit einer zunehmenden Diffusität in der Verwendung des Begriffs »Sozialraumorientierung« einhergeht und damit der Begriff fast zu einer leeren Konzeptionsfloskel geworden ist (Merchel 2008a), bei der Konzeptionsvertreter und -vertreterinnen mittlerweile viel Mühe aufwenden, um noch einigermaßen nachvollziehbare Konturen dieses Leitbegriffs aufrechtzuerhalten und den Begriff gegen mögliche Missverständnisse abzugrenzen (Hinte 2014). Ambivalenzen im Konzeptbegriff Sozialraumorientierung liegen insbesondere zunächst im Widerspruch zwischen der Hoffnung, einerseits in den Sozialräumen enthaltene Hilfe- und Unterstützungspotenziale wecken und aktivieren zu können, sowie der Wahrnehmung von Erosionen in den sozialen Milieus und der damit einhergehenden Überschätzung sozialräumlicher Potenziale andererseits. Weiterhin ist ein Widerspruch zu konstatieren zwischen den jeweils individuell und biografisch konstituierten »sozialen Räumen« der Menschen einerseits und der notwendigen territorialen, mit administrativen Strukturen verknüpften Logik des Sozialraumkonzepts andererseits. Die sozialpsychologisch inspirierte Netzwerkforschung und neuere raumsoziologische Forschungen haben einen »Bedeutungsverlust eines eng umgrenzten Orts zugunsten eines flexibel gedachten Sozial-Raums« (Straus/Höfer 2005, 487) deutlich gemacht. »Soziale Räume« müssen eher lebensweltlich gedacht werden: Menschen konstruieren ihre »sozialen Räume« entsprechend ihren lebensweltlichen Bezügen, die über die unmittelbare räumliche Umgebung hinausweisen. Zu fragen ist also nach dem Stellenwert des geografischen Raums für die Lebenswelt, ob also »die Bedeutung der unmittelbaren räumlichen Umgebung für die Lebenswelt der meisten Adressaten und Adressatinnen nicht eher im Abnehmen begriffen ist, weil die Dimension Raum in der Moderne neu definiert wird« (Santen/Seckinger 2005, 51). Gleichwohl muss sich ein Sozialraumkonzept in der Kinder- und Jugendhilfe, die durch die Logik von Organisationen und Steuerungsnotwendigkeiten gebunden ist, an territorialen, administrativ handhabbaren Strukturen ausrichten. Die Divergenz zwischen Lebenswelt und administrativ-territorialer Logik mündet in die kritische Anfrage an Sozialraumkonzepte, ob nicht hier »eine letztlich doch wieder territorial gedachte Sozialraumorientierung weder den historisch stärker gewordenen Entgrenzungsprozessen entspricht noch den Entwicklungen der sozialen Netzwerke, die immer weitmaschiger und weiter verstreut agieren« (Straus/Höfer 2005, 487).
Zentrale Fragen im Kontext alltagsorientierten Handelns in der Kinder- und Jugendhilfe sind insbesondere:
• Sind die Angebote für die Menschen im Alltag erreichbar?
• Gelingt es den professionellen Akteuren, einen angemessenen Blick auf die Adressaten und Adressatinnen herzustellen, um ihre Fragestellungen und ggf. Problemlagen vor dem Hintergrund ihrer Alltagserfahrung angemessen interpretieren zu können?
• Reflektiert Jugendhilfe sozialräumliche Bedingungen, in denen sich Probleme manifestieren und Lösungen realisieren lassen müssen? In welcher Weise versuchen die Fachkräfte und Organisationen, durch Kooperationen mit anderen Organisationen sozialräumliche Potenziale für die jungen Menschen und ihre Familien zu erschießen oder zu erweitern?
• Richtet sich der lebensweltorientierte Blick der Fachkräfte auch auf diejenigen »sozialen Räume«, die sich junge Menschen außerhalb ihres territorialen sozialräumlichen Bezugsfeldes erschließen, und wie werden diese verschiedenen Segmente von »sozialer Lebenswelt« in den Hilfebezügen methodisch miteinander verkoppelt?