Читать книгу Kinder- und Jugendhilfe - Joachim Merchel - Страница 43

3.3 Gewährleistungsverantwortung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe

Оглавление

Der Träger der öffentlichen Jugendhilfe ist nicht nur als Leistungserbringer in der Kinder- und Jugendhilfe tätig, sondern seine Funktion unterscheidet sich von der Funktion der freien Träger elementar darin, dass ihm die Gewährleistungsverantwortung sowohl einzelfallbezogen als auch infrastrukturbezogen zugeschrieben ist:

• Einzelfallbezogen hat der Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Realisierung von Rechtsansprüchen von Leistungsberechtigten zu garantieren. Rechtsansprüche von Leistungsadressaten und -adressatinnen (z. B. auf Kindertagesbetreuung oder auf eine Hilfe zur Erziehung) richten sich stets an den regional zuständigen öffentlichen Träger, der in der Verpflichtung steht, die Einlösung des Leistungsanspruchs – entweder durch eigene Leistungserbringung oder durch Vermittlung und Finanzierung der Leistung bei einem freien Träger – zu ermöglichen.

• Dies wird nur dann erfolgen können, wenn der Träger der öffentlichen Jugendhilfe seiner infrastrukturbezogenen Gewährleistungsverpflichtung nachkommt. § 79 SGB VIII markiert dies durch den Begriff der öffentlichen zugewiesenen »Gesamtverantwortung«: »Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe haben für die Erfüllung der Aufgaben nach diesem Buch [Achtes Buch des SGB, d. Verf.] die Gesamtverantwortung einschließlich der Planungsverantwortung« (§ 79 Abs. 1 SGB VIII). Im zweiten Absatz wird die Gesamtverantwortung etwas genauer charakterisiert: »Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe sollen gewährleisten, dass zur Erfüllung der Aufgaben nach diesem Buch die erforderlichen und geeigneten Einrichtungen, Dienste und Veranstaltungen den verschiedenen Grundrichtungen der Erziehung entsprechend rechtzeitig und ausreichend zur Verfügung stehen« (§ 79 Abs. 2 SGB VIII).

Mit dem Begriff der Planungsverantwortung und mit dessen Charakterisierung anhand der zitierten Adjektive in § 79 Abs. 2 SGB VIII (›erforderlich und geeignet‹, ›rechtzeitig und ausreichend‹) hat der Gesetzgeber zum einen den zentralen Modus zur Umsetzung der Gesamtverantwortung markiert (»Jugendhilfeplanung«), und zum anderen hat er die elementaren Dimensionen des Planungsauftrags an den öffentlichen Träger gekennzeichnet: die fachliche, qualitative Dimension (erforderlich, geeignet), die quantitative Dimension (ausreichend) und die zeitliche Dimension (rechtzeitig) (Merchel 2016, 38 ff.).

Mit »Jugendhilfeplanung« wird das Verfahren bezeichnet, mit dem in der kommunalen Kinder- und Jugendhilfe der infrastrukturbezogene Gewährleistungsauftrag umgesetzt und kontinuierlich bearbeitet werden soll (ausführlich zum Folgenden: Maykus/Schone 2010; Merchel 2016). Wenn der Begriff »Planung« auftaucht, entsteht bisweilen Verwirrung, weil der Planungsbegriff auch für zwei weitere Handlungsebenen verwendet wird: für die einzelfallbezogene Ebene, bei der es um das Herausfinden und Erörtern des für den Einzelfall richtigen Hilfeangebots für einen Leistungsadressaten oder eine Leistungsadressatin geht (Hilfeplanung), und für die einrichtungsbezogene Konzept- und Programmplanung, bei der Akteure in einer Einrichtung überlegen, mit welchem fachlichen (und organisatorischen) Konzept sie welche konkreten Angebotsformen in einer Einrichtung entwickeln und präsentieren wollen. Der Begriff »Jugendhilfeplanung« richtet sich – im Unterschied zu den Ebenen »Einzelfall« und »Einrichtung/Organisation« – auf die Ebene der (i. d. R. lokalen bzw. regionalen/kommunalen) Infrastruktur, die von vielen Trägern (öffentliche, freien gemeinnützige, privat-gewerbliche) getragen und mit verschiedenartigen Angeboten ausgestaltet wird. Die Infrastrukturplanung wirkt sich zwar auf die beiden anderen Handlungsebenen aus, jedoch ist im Sprachgebrauch sorgfältig zu unterscheiden zwischen Hilfeplanung, welche die Einzelfallebene anspricht und Jugendhilfeplanung, womit die Planung der trägerübergreifend angelegten Leistungs- und Angebotsstruktur bezeichnet wird.

Da der Begriff »Planung« offen ist für viele Definitionsmöglichkeiten, hat der Gesetzgeber festgelegt, dass der Planungsauftrag nur dann als realisiert gelten kann, wenn drei unverzichtbare Planungsschritte realisiert werden (§ 80 Abs. 1 SGB VIII):

• Bestandserhebung – mit den Leitfragen: Welche Angebote zur Förderung und Hilfe für junge Menschen existieren? Entsprechen diese Angebote und Leistungen dem fachlichen Stand und dem Bedarf?

• Bedarfsermittlung (unter Berücksichtigung der Bedürfnisse und Interessen junger Menschen und Personensorgeberechtigter) – mit den Leitfragen: Welcher quantitative und qualitative Bedarf an Förderung und Hilfe ist aktuell und für die nähere Zukunft sichtbar und sollte im Hinblick auf Erweiterung/Neuschaffung von Angeboten oder Veränderung bestehender Angebote für die Infrastrukturgestaltung berücksichtigt werden? In welchem Umfang und in welcher Weise sollen Leistungsangebote neu geschaffen oder durch gezielte Weiterentwicklungsimpulse gegenüber Trägern und Einrichtungen verändert werden?

• Maßnahmeplanung – mit den Leitfragen: Welche Maßnahmen sollen entsprechend der Bedarfsdefinitionen in welchen Zeiträumen, in welchen Regionen und mit welchen Trägern realisiert werden? Nach welchen Kriterien sollen Prioritäten in der Bearbeitung der verschiedenen Maßnahmen gesetzt werden?

In den Fachdiskursen zur Jugendhilfeplanung haben sich einige konzeptionelle Eckpfeiler und damit einhergehende methodische Verfahrensgrundsätze herausgebildet, bei denen man mittlerweile – zumindest auf der Diskursebene – von einer relativ breit getragenen fachlichen und fachpolitischen Positionierung ausgehen kann:

• Federführend bei den Planungsprozessen ist das Jugendamt (Gesamtverantwortung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe), jedoch sind die Träger und Einrichtungen der freien Jugendhilfe frühzeitig und umfassend zu beteiligen. Denn die Träger und Einrichtungen verfügen aus ihrer täglichen Praxis über wichtige planungsrelevante Kenntnisse zu den Lebenssituationen der Adressaten und Adressatinnen, zu den vorhandenen Angeboten und zu den Anforderungen an eine adäquate Angebotsgestaltung. Ferner ist man in einer pluralen Trägerlandschaft für eine angemessene Umsetzung der Planungsergebnisse auf die Mitwirkung der verschiedenen Träger angewiesen. Jugendhilfeplanung muss sich profilieren als eine »diskursive, beteiligungsorientierte Form der Steuerung«

• Eine gute Jugendhilfeplanung fußt auf einer sorgfältig und kompetent erhobenen Datenbasis, wobei die erhobenen Daten nicht »für sich sprechen«, sondern stets der Bewertung in kommunikativen Prozessen bedürfen. Jugendhilfeplanung bedarf also einer empirisch ermittelten Grundlage.

• Bewertung durchzieht als wesentliches Element die gesamte Jugendhilfeplanung. Lebenssituationen von Adressatengruppen müssen im Hinblick auf Bedarf bewertet werden, die fachliche Angemessenheit des Bestandes an Angeboten und Leistungen muss eingeschätzt werden. In die Maßnahmeplanung gehen unterschiedliche Interessen und fachliche Schwerpunktsetzungen von Trägern ein, und ob sich die bei der Maßnahmeplanung gewünschten Effekte tatsächlich und in angemessenem Umfang einstellen, muss ebenfalls als ein Bewertungsvorgang verstanden werden. Jugendhilfeplanung ist also nicht nur eine diskursive Form der Steuerung, sondern angesichts der Bewertungsintensität auch als »ein reflexiv zu gestaltender Steuerungsvorgang« zu konzipieren.

• Jugendhilfeplanung ist zu gestalten als ein kontinuierliches Prozessgeschehen. Ein Planungsbericht mit Vorschlägen zu Entscheidungen ist kein ›Endergebnis‹ von Planung, sondern zu betrachten als ein Zwischenergebnis, dessen Umsetzung evaluativ begleitet werden muss und das durch neue Entwicklungen immer wieder der weiteren Diskurse (»Fortschreibung«) bedarf.

• Die Jugendhilfeplanung vollzieht sich in zwei methodischen Grundmustern, die sich wechselseitig nicht ausschließen, sondern in Ankoppelung zueinander praktiziert werden: ein bereichsorientierter Zugang zum Planungsfeld, bei dem die verschiedenen Handlungsfelder der Kinder- und Jugendhilfe arbeitsteilig und sukzessive (als verschiedene ›Bausteine‹ der Gesamtplanung) unter Planungsgesichtspunkten bearbeitet werden, sowie eine sozialraumorientierte Zugangsweise, bei der über eine sozialräumliche Analyse der Lebensverhältnisse und der Infrastruktur der sozialräumlich sichtbar gemachte Bedarf an Hilfe und Förderung erkundet und in eine sozialräumliche Form der Bearbeitung (mit kooperierenden unterschiedlichen Institutionen im Sozialraum) eingebettet werden soll. Ergänzend zu diesen beiden wird bisweilen ein zielgruppenorientiertes Vorgehen als dritter methodischer Zugang praktiziert, bei dem die Lebenssituation und der Hilfebedarf umgrenzter Zielgruppen analysiert und im Hinblick auf einen Handlungsbedarf der Kinder- und Jugendhilfe bewertet werden soll.

Zu erwähnen ist noch, dass selbstverständlich die Jugendhilfeplanung eine angemessene personelle, konzeptionelle und organisationale Struktur benötigt, damit der elementare Planungsauftrag (§§ 79/80 SGB VIII) qualifiziert und kontinuierlich realisiert werden kann: qualifiziertes Personal in dem der Komplexität des Planungsauftrags entsprechenden Umfang, transparente Aufgabenbeschreibung (»Profil«), geregelte Kooperationsmodalitäten und Orte für Planungsdiskurse (zwischen Planungssachgebiet und freien Trägern, innerhalb des Jugendamts, zwischen den Planungssachgebieten unterschiedlicher Ämter/Fachbereiche/Dezernate), angemessene organisationale Anbindung im Jugendamt etc., und nicht zuletzt eine planungsförderliche Reflexion ermöglichende und herausfordernde Organisationskultur im Jugendamt.

Kinder- und Jugendhilfe

Подняться наверх