Читать книгу Handbuch des Strafrechts - Andreas Popp, Jörg Eisele - Страница 146

I. Menschenwürde und Recht auf Leben

Оглавление

62

Ebenso wie Art. 2 Abs. 2 GG schützt auch Art. 10 Abs. 1 der Schweizerischen Bundesverfassung (BV)[368] das Recht auf Leben. Anders als in der deutschen Lehre und Rechtsprechung kommt nach herrschender Meinung in der Schweiz dem Ungeborenen kein „individuell-anspruchsbegründendes Grundrecht auf Leben“ zu.[369] Dennoch besteht auch in der Schweiz eine verfassungsrechtliche Pflicht, die Leibesfrucht zu schützen, wenngleich auch nicht von einem absoluten Lebensschutz, sondern von einer mit fortschreitender Entwicklung anwachsenden Schutzpflicht, d.h. einem abgestuften Lebensschutz, ausgegangen wird (siehe Ausführungen in Rn. 8).[370] Auch die Frage, ob die Leibesfrucht Grundrechtsträgerin der verfassungsrechtlich normierten Menschenwürde im Sinne von Art. 7 BV sei, kann nicht abschließend beantwortet werden, da sich die oberste Gerichtsinstanz der Schweiz, das Schweizerische Bundesgericht, bisher zu dieser Frage nicht eindeutig geäußert hat.[371] Allerdings ließ das Bundesgericht im Sinne eines obiter dictums im Zusammenhang mit der Beurteilung der beobachtenden Forschung an Embryonen in vitro verlauten, dass diese „mit der Würde des Menschen, welche schon dem Embryo in vitro zukommt“, durchaus vereinbar sei.[372] Die Menschenwürdegarantie wurde in der Bundesverfassung systematisch an den Anfang des Grundrechtskatalogs gestellt, was darauf schließen lässt, dass die Menschenwürde ein „grundlegendes Konstitutionsprinzip und [ein] Leitgrundsatz für jegliche Staatstätigkeit“ darstellt.[373] Diese Formulierung lässt jedoch noch keinen Aufschluss über die Rechtsnatur von Art. 7 BV zu, d.h. stellt sich die Frage, ob die Menschenwürde ein Grundrecht oder lediglich ein Verfassungsgrundsatz darstellt. Das Schweizerische Bundesgericht hat diese Frage dahingehend beantwortet, dass die Garantie der Menschenwürde sowohl einen Leitgrundsatz als auch ein Auffanggrundrecht verkörpert, diesbezüglich also beides zutreffen kann.[374] In der schweizerischen Lehre wird der Grundrechtscharakter von Art. 7 BV mehrheitlich bejaht.[375] Da auch in der Schweizerischen Bundesverfassung gleichsam wie im Deutschen Grundgesetz die Menschenwürdegarantie unantastbar ist, müsste mit einem Zugeständnis der Menschenwürde als individuell-anspruchsbegründendes Grundrecht eines jeden Ungeborenen jegliche Güterrechtsabwägung und somit auch jeder Schwangerschaftsabbruch gleichgültig welchen Beweggrundes verunmöglicht bzw. verboten werden.[376] Deshalb kommt nach herrschender Meinung dem Embryo bzw. Fötus eine Menschenwürdegarantie nicht als individuell-anspruchsbegründendes Grundrecht, sondern lediglich als objektives Verfassungsprinzip zu.[377] Zumindest ist ein gewisser verfassungsrechtlicher Schutz im Sinne von Art. 7 und Art. 10 Abs. 1 BV nach herrschender Meinung in der Schweiz auch dem ungeborenen Leben zuzugestehen, wobei aber eine Konkretisierung dieses Schutzbereichs bis anhin weder durch die Rechtsprechung noch durch einen Konsens in der Lehre erfolgte.[378] Allgemeine Übereinstimmung besteht allerdings darin, dass mit Beginn des Geburtsvorgangs, d.h. mit Einsetzen der Eröffnungswehen, dem nunmehr als Mensch geltenden Leben sowohl die Menschenwürde als auch ein Lebensrecht im Sinne eines individuell-anspruchsbegründenden Grundrechts zugestanden wird.[379]

Handbuch des Strafrechts

Подняться наверх