Читать книгу Der tolle Halberstädter. Geschichten des Dreißigjährigen Krieges - Jörg Olbrich - Страница 10

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Böhmen, 15. Juli 1621

Der in einem Gurgeln endende Schrei seines Begleiters riss Hermann Scheidt aus seiner Lethargie. Blitzschnell drehte er sich um und sah, wie Richard Schwarz mit einem Pfeil im Hals von seinem Pferd fiel. Sofort duckte er sich flach auf sein eigenes Tier und entging so einem weiteren Geschoss.

»Runter vom Pferd!«, schrie er seinem zweiten Gefährten zu.

Jakob Stern hatte genauso schnell reagiert wie sein Feldwebel. Beide Männer sprangen auf den Boden und schauten sich nach dem hinterhältigen Angreifer um. Dann brach ein rundes Dutzend Bauern aus dem Wald und wie eine große, alles verschlingende Welle über sie herein.

Fünf Tage war der Feldwebel mit seinen Begleitern nun unterwegs. Sie hatten sich beeilt und waren schnell an die böhmische Grenze gelangt. Unterwegs waren sie an zahlreichen leergefegten Dörfern vorbeigekommen, in denen es teilweise nur noch verkohlte Trümmer gab. Eine Nacht hatten sie in einem Gasthaus verbracht und ansonsten im Freien geschlafen. So weit von den Kampfgebieten entfernt hatten sie nicht mehr mit einem Angriff gerechnet und wurden jetzt eines Besseren belehrt.

Hermann gelang es nicht mehr, an seine Waffen zu kommen und er brauchte ein paar Sekunden zu lange, um sich auf die drohende Gefahr einzustellen. Dann war es zu spät.

Die Angreifer prügelten brutal auf die beiden Kaiserlichen ein und ließen ihnen keine Möglichkeit zur Gegenwehr. Der Feldwebel versuchte noch, die Arme schützend vor seinem Kopf zu halten, trotzdem traf etwas Hartes seine Schläfe. Alles um ihn herum wurde schwarz.

***

Als Hermann erwachte, hatte er einen fauligen Geschmack auf der Zunge und die Schmerzen in seinem Kopf drohten, ihn um den Verstand zu bringen. Er brauchte einen Moment, um sich daran zu erinnern, was geschehen war. Er lag auf dem Bauch und mit dem halben Gesicht in einer brackigen Pfütze. Den ersten Versuch sich aufzurichten, brach er sofort mit einem gequälten Aufschrei ab.

Hermann zwang sich zur Ruhe. Er wusste, dass er großes Glück gehabt hatte, überhaupt noch am Leben zu sein. Sicher hatten ihn die Bauern für tot gehalten. Um ihn herum war es still. Dennoch war diese Ruhe trügerisch. Die Angreifer konnten noch in der Nähe sein und zurückkehren.

Der Durst zwang den Feldwebel schließlich auf die Beine. Sein rechtes Bein fühlte sich taub an, so dass er beinahe wieder stürzte. Mehrere Stellen an seinem Rücken und in den Schultern brannten wie Feuer. Die Schmerzen in seinem Kopf hatten ein wenig nachgelassen, erschwerten es ihm aber, wieder einen klaren Gedanken zu fassen.

Erst jetzt konnte sich Hermann einen Überblick verschaffen. Seine beiden Gefährten lagen regungslos auf dem Boden. Die Pferde waren genauso verschwunden, wie die Waffen der drei Soldaten. Er taumelte einen Schritt zur Seite und spürte, wie sich ein Stein schmerzhaft in seinen Fuß drückte. Selbst seine Stiefel hatten die Bauern ihm geraubt. Lediglich seine zerrissene Kleidung trug er noch am Körper. Hastig griff Hermann an die Innenseite seiner Weste. Die Briefe an von Buquoys Witwe und General von Tilly, die er in das Futter eingenäht hatte, waren noch da. Auch die drei Münzen hatten die Bauern nicht gefunden.

Es tat Hermann in der Seele weh, Richard und Jakob auf dem Weg liegen lassen zu müssen. Sie zu begraben, hatte er aber einfach nicht die Kraft. Wenn er sein eigenes Leben behalten und seinen Auftrag ausführen wollte, musste er so schnell wie möglich aus dieser Gegend verschwinden.

Bis nach Prag war es noch weit. Zu Fuß würde er dieses Ziel erst in einigen Wochen erreichen können, wenn er überhaupt jemals dort ankam. Er brauchte neue Stiefel und ein Pferd. Zunächst war es aber das Wichtigste, Wasser zu finden.

Aus Angst, erneut auf eine Gruppe Bauern oder Räuber zu treffen, verließ Hermann den Weg und ging langsam über eine Wiese. Trotz der Schmerzen im gesamten Körper kam der Feldwebel mit jedem Schritt besser voran. Das Gras reichte ihm bis zu den Hüften. Längst hätte die Wiese gemäht werden müssen. Offensichtlich gab es aber niemanden mehr in der Gegend, der die Felder bestellen konnte. Damit sank auch Hermanns Hoffnung, Hilfe zu finden.

Mittlerweile begann es zu dämmern. Hermann musste also deutlich länger ohne Bewusstsein gewesen sein, als er bisher angenommen hatte. Das Bild vor ihm änderte sich nicht. Weit und breit war weder ein Dorf noch ein alleinstehendes Gehöft zu sehen. Die Hoffnung, einen geschützten Schlafplatz zu finden, musste Hermann aufgeben. Dennoch zwang er sich, seinen Weg fortzusetzen. Er brauchte Wasser.

Es war fast völlig dunkel, als Hermann vor sich ein leichtes Plätschern hörte. Er zwang sich, die letzten Kraftreserven aus seinem Körper herauszuholen und setzte entschlossen einen Fuß vor den anderen. Endlich sah er vor sich einen schmalen Bach. Es war kaum mehr als ein Rinnsal. Er ging auf die Knie und schöpfte die kostbare Flüssigkeit mit beiden Händen.

Nachdem er getrunken hatte, wusch er sich den gröbsten Dreck aus dem Gesicht und legte sich erschöpft auf den Rücken. Ihm fehlte die Kraft, ein Feuer zu machen, um sich zu wärmen. Er schloss die Augen und fiel in einen ohnmachtsähnlichen Schlaf.

***

Etwa eine Stunde nach Einbruch der Dämmerung sah Hermann am nächsten Abend den Schein eines Feuers vor sich. Seine Hoffnung, die zwei fremden Söldner, die er am Nachmittag in der Ferne hatte vorbeireiten sehen, belauschen zu können, schien sich zu erfüllen.

Er beeilte sich, näher an die Männer heranzukommen, achtete dabei aber darauf, möglichst keine Geräusche zu verursachen. Auch wenn seine Füße mittlerweile aus mehreren, kleinen Wunden bluteten, war es jetzt ein Vorteil, keine Stiefel zu tragen, weil er so noch leiser laufen konnte.

»Wir hätten in Pilsen bleiben sollen«, sagte einer der beiden Männer, als Hermann in Hörweite war.

»Dort gibt es nichts mehr zu holen. Die Stadt ist am Verhungern. Wir wären irgendwann an der Pest gestorben.«

»Hier ist es auch nicht besser.«

»Hör auf dich zu beschweren. Morgen werden wir sicher auf Menschen treffen, die wir ausrauben können. Leg dich hin und schlaf. Ich übernehme die erste Wache.«

Was der zweite Soldat antwortete, konnte Hermann nicht verstehen. Er wusste jetzt aber, dass er von den beiden Söldnern nichts Gutes zu erwarten hatte. Dass die Männer aus seiner Heimatstadt kamen, die von General von Tillys Heer besetzt wurde, zeigte ihm, dass sie einmal auf seiner Seite gestanden hatten. Jetzt waren sie aber nur noch auf ihren eigenen Vorteil bedacht und würden Hermann als Feind ansehen. Sich ihnen zu zeigen war also keine Option.

Der Geruch von gegrilltem Fleisch kroch Hermann in die Nase und ließ ihm trotz seiner ausgetrockneten Kehle das Wasser im Munde zusammenlaufen. Dennoch zwang sich der Feldwebel zur Ruhe. Er musste abwarten, bis mindestens einer der Söldner eingeschlafen war. Auf seinem heutigen Wegstück hatte er sich auf einem niedergebrannten Hof mit einer zurückgelassenen Mistgabel bewaffnen können. Im offenen Kampf gegen zwei Gegner würde diese ihm jedoch nichts nützen.

Etwa eine halbe Stunde später stand Hermann auf und schlich sich leise an den Wachhabenden heran, der mit dem Rücken zu ihm am Feuer saß. Mitleid hatte er nicht mit dem Mann, als er ihm die Mistgabel mit aller Kraft durch den Rücken ins Herz stieß und sie dann blitzschnell wieder zurückzog. Bevor sein Kumpan erwachte, tötete Hermann auch in. Seine Waffe ließ er in der Brust des Söldners stecken.

Es war ihm tatsächlich gelungen beide Männer auszuschalten, bevor sie sich ihm entgegenstellen konnten. Jetzt atmete er erleichtert auf. Sein schlechtes Gewissen, das ihn wegen seiner unrühmlichen Tat überkam, verschwand in dem Moment, als ihm der köstliche Geruch des Fleisches in die Nase stieg. Er ging zum Feuer und nahm den Spieß herunter. Viel hatten die beiden nicht zurückgelassen. Es reichte aber aus, um den ärgsten Hunger zu bekämpfen. Als nichts mehr übrig war, stand Hermann auf und zog die beiden Leichen vom Feuer weg. Dann wartete er darauf, dass es hell wurde. Auch wenn die Müdigkeit ihn zu übermannen drohte, zwang sich Hermann wach zu bleiben. Die Gefahr, selbst Opfer eines Überfalls zu werden, war einfach zu groß.

Als es langsam hell wurde, machte er sich daran, die Sachen der beiden Söldner zu untersuchen. Die Stiefel beider Männer waren ihm etwas zu groß. Dennoch suchte er sich das bessere Paar davon aus und zog es über seine schmerzenden Füße. Auch sein schlammverkrustetes Wams hätte Hermann gerne gewechselt, doch die Kleidung der Söldner war ebenso verschlissen wie seine. Viel Geld hatten die Toten auch nicht besessen. Ihre Waffen und vor allem die Pferde würden Hermann allerdings gute Dienste erweisen. Er hatte vor, eines der Tiere im nächsten Dorf zu verkaufen und wollte dann so schnell wie möglich nach Prag. Er hatte einen Auftrag und war fest entschlossen, diesen auch auszuführen.

Der tolle Halberstädter. Geschichten des Dreißigjährigen Krieges

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