Читать книгу Der tolle Halberstädter. Geschichten des Dreißigjährigen Krieges - Jörg Olbrich - Страница 8

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Ungarn, 10. Juli 1621

Hermann Scheidt hatte genug vom Krieg. Das Elend, welches er tagtäglich mit ansehen musste, konnte er kaum noch ertragen. Er selbst war abgemagert bis auf die Knochen. Hunger und Krankheiten hatten seinen Körper ausgemergelt. Der Reichtum, den er sich beim Eintritt in die Armee erhofft hatte, war ausgeblieben. Außer seinem Pferd, den Waffen und der Kleidung, die er am Leib trug, besaß er lediglich noch drei silberne Reichstaler, die er in den Saum seines löchrigen und verschmutzen Wamses eingenäht hatte. Zu wenig, um sein Dasein als Söldner beenden zu können, ohne zu verhungern.

Als Graf von Buquoy den Kaiser nach der Schlacht am Weißen Berg um seine Entlassung gebeten hatte, war auch in Hermann die Hoffnung entstanden, bald nach Wien zurückkehren zu können. Ferdinand II. konnte seinen Feldherrn aber überreden, seinen Dienst fortzusetzen, indem er ihm unter anderem die Herrschaften Gratzen, Rosenberg und Sonnberg verlieh und von Buquoy so zu einem reichen Mann machte.

Zu Beginn des Jahres waren die Kaiserlichen daraufhin in Richtung Ungarn gezogen, um Bethlen Gábor in Mähren aufzuhalten. Sie hatten Pressburg eingenommen und dort einen habsburgischen Statthalter eingesetzt. Für Hermann war Wien, und damit auch seine große Liebe Anna Winter, in weite Ferne gerückt. Der ehemalige Schmied hatte die Hoffnung inzwischen aufgegeben, dass er die junge Frau jemals wiedersehen und ehelichen konnte. Sicher hatte sie sich schon längst über den Verlust des einfachen Söldners hinweggetröstet. Die beiden hatten sich nach der Belagerung Wiens kennengelernt und waren sich in der kurzen gemeinsamen Zeit nähergekommen.

Hermann, der mittlerweile zum Feldwebel befördert worden war, lag auf seinem Schlafplatz in der Nähe eines Lagerfeuers und versuchte vergeblich einzuschlafen. In dieser Nacht hatte er keine Wache und wollte die Möglichkeiten nutzen, einmal nicht nach wenigen Stunden wieder geweckt zu werden. Seine düsteren Gedanken ließen ihm aber keine Ruhe und hielten ihn wach.

Die Kaiserlichen unter von Buquoy belagerten bereits seit fast einer Woche die Burg Neuhäusel in Ungarn. Die feindlichen Soldaten verschanzten sich in zwei Festungsanlagen. Diese lagen in einem sumpfigen Gebiet an der rechten Seite des Flusses Nitra und waren mit breiten Wassergräben umzogen, die es den Angreifern unmöglich machten, schnell an die mächtigen Wände des Bollwerkes zu gelangen. Als das kaiserliche Heer eingetroffen war, hatten die Ungarn sie mit massiven Kanonen unter Beschuss genommen. Weil sie die Burg nicht mit Gewalt einnehmen konnten, hatte von Buquoy befohlen, die Feinde so lange zu belagern, bis sie die Festung freiwillig verließen.

Das Alarmsignal eines Trompeters zerschnitt die nächtliche Ruhe und trieb Hermann und seine Männer auf die Beine.

»Zu den Waffen«, schrie Hermann, noch bevor er überhaupt wusste, was geschehen war. Zunächst konnte der Feldwebel in der düsteren Nacht nichts erkennen. Dann nahm er in der Nähe der Wassergraben schemenhafte Gestalten wahr.

Auch im Zelt des Feldherrn von Buquoy hatte man mitbekommen, dass sich bei den Ungarn etwas tat. Der Graf und seine rechte Hand Rudolf von Tiefenbach stürmten ins Freie und sahen sich nach dem Grund des Alarms um.

»Die Ungarn versuchen einen Ausfall«, sagte Hermann und befahl seinen Männern ihm zu folgen. »Wir müssen sie aufhalten!«

Die Befehle von Buquoys hallten über den Platz und mischten sich unter die Schreie der ersten Nahkämpfe. Dann krachten auch die ersten Musketen los. Im durch das Schießpulver verursachten Nebel konnte Hermann immer weniger erkennen. Der beißende Schwefelgestank schmerzte in seinem Rachen. Er wagte es nicht, seine Waffe auf die Schemen in der Dunkelheit zu richten, weil er Angst davor hatte, seine eigenen Kameraden zu treffen. Während er noch zögerte, tauchte ein Ungar direkt neben ihm auf.

In letzter Sekunde schaffte es Hermann, seinen Degen zu ziehen, und die Klinge mit der seines Widersachers zu kreuzen. Bevor der Ungar ein weiteres Mal ausholen konnte, drosch Hermann auf ihn ein und brachte ihn so in große Bedrängnis. Jetzt gereichte es dem Feldwebel zum Vorteil, dass er durch die zahlreichen Schlachten und Scharmützel deutlich kampferfahrener war als sein Gegner.

Mit schnell aufeinanderfolgenden Hieben gelang es Hermann schließlich, seinen Widersacher zu entwaffnen. Töten wollte er ihn nicht und trat ihm stattdessen mit dem Stiefel gegen die Schläfe, damit er bewusstlos wurde. Im gleichen Moment krachte direkt neben seinem Kopf die Muskete eines Kameraden los. Der Feldwebel hatte das Gefühl, sein Kopf würde bei dem Lärm zerplatzen. Danach hörte er nur noch ein Pfeifen und nahm die Geräusche um sich herum nicht mehr wahr.

Der Söldner schlug ihm entschuldigend auf die Schulter und stürzte sich dann genau wie sein Feldwebel wieder ins Kampfgetümmel. Zunächst war Hermann von einer kleinen Gruppe ausgegangen, die einen verzweifelten Ausbruch versuchte. Jetzt musste er erkennen, dass immer mehr Männer aus der Burg Neuhäusel herausströmten. Die meisten suchten ihr Heil in der Flucht. Einige der Ungarn stürzten sich allerdings todesmutig auf die Belagerer, um ihren Kameraden die nötige Zeit zu verschaffen.

Hermann lief weiter auf die Festung zu und war entsetzt, in welchem Ausmaß ihr Lager verwüstet worden war. Die Kaiserlichen waren von dem Ausfall völlig überrascht worden. Hermann sah einige seiner Kameraden reglos auf dem Boden liegen. Eine kleine Einheit war sogar an ihrem Schlafplatz am Feuer erwischt worden. Weil die ganze Szenerie für Hermann geräuschlos ablief, kam ihm das Durcheinander um ihn herum unwirklich vor und es fiel ihm umso schwerer sich auf die noch immer vorhandene Gefahr einzustellen.

Gemeinsam mit seinen Männern stellte sich der Feldwebel einer Gruppe Ungarn entgegen, die ihnen zahlenmäßig leicht unterlegen waren. Schnell merkten sie, dass sie gegen die Übermacht nicht bestehen konnten und versuchten, um die Kaiserlichen herumzulaufen. Hermann zog seine Muskete und schoss auf die Flüchtenden, konnte aber, genau wie die Männer, die seinem Beispiel folgten, keinen Erfolg erzielen.

Hermann versammelte seine Leute um sich herum. Standen sie vor wenigen Augenblicken noch mitten im Kampfgetümmel, war es jetzt in ihrer direkten Nähe ruhig geworden. Dennoch fiel es dem Feldwebel schwer, einen Überblick über die Lage zu gewinnen. Der Rauch aus den Musketen war noch dichter geworden, und am Himmel standen kaum Sterne. Der Feuerschein im Lager reichte nicht aus, um mehr als ein paar Meter weit zu sehen. Langsam kehrte zumindest Hermanns Gehör zurück, und er war wieder in der Lage, sich mit den anderen Soldaten zu unterhalten.

»Irgendetwas ist bei Buquoy passiert«, wies einer der Männer Hermann auf den Krach hin, der aus der Nähe des Zeltes ihres Feldherrn zu hören war.

»Ich werde nachsehen«, sagte der Feldwebel. »Ihr bleibt hier und deckt diese Flanke. Ich will nicht noch einmal von einem Angriff der Ungarn überrascht werden!«

Hermann kam zum Zelt der Heeresführung und sah gerade noch, wie zwei Männer Graf von Buquoy ins Innere trugen. »Was ist passiert?«, fragte er einen der Hauptleute.

»Ich weiß nur, dass der Feldherr von einer Kugel in den Bauch getroffen wurde.«

»Wie konnte das passieren?« Der Schock traf Hermann wie ein Schlag.

»Eine Gruppe von Ungarn kam mitten ins Zentrum unseres Lagers. Sie müssen durch die schlechte Sicht von ihrem ursprünglichen Ziel abgekommen sein. Unsere Männer haben sie erschlagen. Leider erst, nachdem sie eine Salve aus ihren Musketen abfeuern konnten.«

»Kann ich etwas tun?« Es kostete Hermann große Mühe, gegenüber seinem Vorgesetzten zu verbergen, wie sehr ihn die Nachricht über von Buquoys Verwundung mitnahm.

»Sorgt dafür, dass das Lager abgesichert wird und niemand mehr rein oder raus kommt.«

»Zu Befehl!«

Hermann hatte den Grafen von Buquoy als gerechten Heerführer kennengelernt, der sich um seine Männer kümmerte. Wenn die Kaiserlichen jetzt ihren Anführer verloren, würde das einen großen Vorteil für die Truppen von Bethlen Gábor bedeuten, der sich immer mehr in Richtung Böhmen vorkämpfte.

Als er zurück bei seinen eigenen Männern war, stellte er fest, dass der Ausfall der Belagerten zurückgeschlagen worden war. Sicher war einigen die Flucht gelungen, aber ein großer Teil ihrer Feinde lag tot auf dem Schlachtfeld. Wie Hermann später erfuhr, war ihnen der Rückzug in ihre Festung abgeschnitten worden.

Der Feldwebel ließ die Wachen verdoppeln und setzte sich mit dem Rest seiner Männer ans Feuer. Nachdem sich die erste Aufregung gelegt hatte, spürte er jetzt, wie die Kälte durch die Löcher in seiner Kleidung kroch. Auch die anderen zeigten sich geschockt, als Hermann von der Verwundung des Feldherrn berichtete. An Schlaf war in dieser Nacht nicht mehr zu denken. Sie saßen schweigend zusammen und jeder hing seinen Gedanken nach.

Mit den ersten Sonnenstrahlen setzte auch das Treiben im Lager wieder ein. Erst jetzt erkannte der Feldwebel, wie groß der Schaden des nächtlichen Scharmützels wirklich war. Zelte waren eingefallen, Wagen umgestoßen und überall lagen Tote. Mehrere Gruppen liefen mit Karren über den Platz und sammelten die Leichen ein, um sie dann auf einer Fläche hinter dem Lager zu stapeln. Hermann erkannte voller Entsetzen, dass es sich bei mehr als der Hälfte um Kaiserliche handelte.

»Feldwebel Scheidt?«, hörte Hermann plötzlich eine Stimme.

»Ja!«

»Ihr sollt Euch sofort bei Rudolf von Tiefenbach melden.«

Hermann zögerte nicht, dem Befehl seines Vorgesetzten nachzukommen und folgte dem Boten. Er fürchtete, dass es nichts Gutes zu bedeuten hatten, wenn ihn von Buquoys rechte Hand zu sich rief. Mit einem flauen Gefühl im Magen trat er an der Wache vorbei ins Zelt des Feldherrn. Zu seiner Überraschung war von Buquoy nicht anwesend. Er hatte erwartet, den Spanier auf seinem Lager liegen zu sehen. Offensichtlich waren seine Verletzungen doch ernster und man hatte ihn in ein anderes Zelt gebracht.

»Ihr habt mich rufen lassen«, sagte Herrmann, als sich Rudolf von Tiefenbach zu ihm umdrehte.

»Graf von Buquoy ist heute Nacht einer Schusswunde erlegen«, sagte der Offizier ohne lange Vorrede. »Ich habe bereits Boten nach Wien gesandt, die dem Kaiser diese traurige Nachricht überbringen werden. Ihr reitet mit zwei Eurer Männer nach Prag und überbringt seiner Witwe einen Brief von mir. Eine weitere Nachricht übergebt Ihr an Karl Fürst von und zu Liechtenstein, der derzeit die Geschicke in Prag lenkt. Danach reitet Ihr an die Grenze Böhmens zur Oberpfalz. Dort werdet Ihr ein weiteres Schreiben an General von Tilly übergeben und in dessen Dienste eintreten.«

»Wann sollen wir aufbrechen?«

»Sofort.«

Hermann stellte die Anordnungen seines Vorgesetzten in keinster Weise in Frage. Er bewunderte von Tiefenbach dafür, wie gefasst er agierte. Ihn selbst verunsicherte die Nachricht vom Tod des spanischen Feldherrn sehr. Sicher war auch der Heerführer innerlich bei Weitem nicht so ruhig, wie er Hermann gegenüber tat. Es verwunderte ihn, dass Rudolf von Tiefenbach ausgerechnet ihm diesen Auftrag erteilte, wagte es aber nicht, ihn nach den Gründen zu fragen. Für den Feldwebel sprach, dass er in Böhmen aufgewachsen war und das Reich gut kannte.

»Diese Briefe dürfen auf keinen Fall in falsche Hände geraten«, sagte von Tiefenbach eindringlich. »Gebt gut auf sie acht!«

»Ihr könnt Euch auf mich verlassen«, antwortete Hermann, nahm die Schreiben entgegen und verließ das Zelt. Auf dem Rückweg zu seinen Männern überlegte er, welche beiden er für diese Mission auswählen sollte.

Der tolle Halberstädter. Geschichten des Dreißigjährigen Krieges

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