Читать книгу Der tolle Halberstädter. Geschichten des Dreißigjährigen Krieges - Jörg Olbrich - Страница 19
ОглавлениеFrankfurt, 10. Dezember 1621
»Heinrich? Bist du hier irgendwo?«
Der Ruf des Jungen erreichte den Zimmermann, als der gerade dabei war, einen Dachbalken in die Verankerung einzufassen. »Ich bin hier oben«, gab er verärgert über die Störung zurück. Kurze Zeit später tauchte der Kopf von Hans zwischen zwei Balken auf. Der zehnjährige Sohn seines Meisters schaute Heinrich mit hochrotem Gesicht an. Trotz der Kälte schien er zu schwitzen. Hans musste gerannt sein, um den Gesellen zu erreichen.
»Was ist passiert?«, fragte Heinrich alarmiert.
»Es geht um August«, sagte Hans hastig. »Er ist in großen Schwierigkeiten. Du musst sofort mitkommen.«
»Was hat der Kerl jetzt wieder angerichtet?« Heinrich stöhnte auf. Er hatte gehofft, seine Arbeit bis zum Einbruch der Dunkelheit abschließen zu können, daraus würde jetzt nichts werden. Dadurch würde er sich die Schelte seines Meisters einhandeln. Der hatte seinem Auftraggeber versprochen, dass das Haus noch vor Weihnachten fertig werden würde, und dem Einzug des jungen Paares, was sich nach den Festtagen vermählen wollte, nichts im Wege stand. Gelang dies nicht, musste Meister Weinlein um seinen Ruf fürchten, und Heinrich würde seinen Arbeitsplatz verlieren. Im Winter würde er in Frankfurt keinen neuen finden, auch wenn sich mittlerweile in der Zunft herumgesprochen hatte, wie geschickt der junge Geselle seine Arbeit verrichtete.
»Es gab eine Schlägerei in der Schenke. Die Stadtwache hat August verhaftet. Du musst mit dem Wirt sprechen, dass er die Anzeige zurückzieht. August wird sonst im Kerker landen.«
»Da gehört er auch hin!«, antwortete Heinrich wütend. Es war nicht das erste Mal, dass er seinem Freund, der sich immer wieder selbst in Schwierigkeiten brachte, aus dem Schlamassel helfen musste. Meistens ging es darum, dass er im Suff eine Schlägerei begonnen hatte, oder mit einer der jungen Damen der Stadt erwischt worden war. Heinrich hatte bereits rund ein Dutzend Silbermünzen aufwenden müssen, um seinen Freund aus dem Kerker zu holen. Er hatte große Lust, ihn dieses Mal darin verrotten zu lassen.
»Dann wirst du ihm nicht helfen?«, fragte Hans erschrocken.
»Doch das werde ich«, antwortete Heinrich, um den Jungen zu beruhigen. »Verdient hat er es aber dennoch nicht.« Der Zimmermann konnte selbst nicht mehr sagen, wie oft er seinen Freund ermahnt hatte, er möge sich eine dauerhafte Arbeit suchen und jedem Ärger aus dem Weg gehen. Das schien für August allerdings eine nicht lösbare Aufgabe zu sein.
Nachdem ihn August damals überfallen hatte, waren die beiden gemeinsam nach Frankfurt gezogen. Während es Heinrich, dank des Empfehlungsschreibens von Meister Baumgartens, schnell gelungen war, eine Arbeit zu finden, hatte sich August bei einem der Händler verdingt, war aber sehr schnell wieder von diesem verjagt worden. So war es weitergegangen. Der ehemalige Türmer war einfach nicht in der Lage, sich längere Zeit mit seinen Arbeitgebern zu vertragen. Dennoch war August Heinrich mittlerweile zum Freund geworden, auch wenn er selbst nicht sagen konnte, was er an dem Tunichtgut fand.
***
»Schau dir das Durcheinander an«, schrie der Wirt, als Heinrich die Spelunke betrat, und ging zornig auf den Zimmermann zu. »Wer wird mir den Schaden ersetzten? Ich bin ruiniert.«
»Du übertreibst«, entgegnete Heinrich, der den Wirt kannte und wusste, dass er in jeder Lage auf seinen Vorteil bedacht war.
»Dein Freund hat meinen Schankraum in ein Schlachtfeld verwandelt«, jammerte der Wirt und raufte sich die wenigen ergrauten Haare.
»Ich sehe keine großen Schäden«, blieb Heinrich bei seiner Meinung. Sicher. Stühle und Tische lagen kreuz und quer auf dem staubigen Boden herum. Mit Ausnahme von ein paar Bierkrügen war allerdings nichts zu Bruch gegangen.
»Ich hätte den Kerl erschlagen sollen, als er den Streit mit den beiden Wachmännern begonnen hat!«
»Dann wärst du es jetzt, der im Kerker schmoren und auf seine Verurteilung warten würde.« Heinrich wollte den Wirt nicht zu sehr reizen. Wenn er stur blieb, würde es ihm nicht gelingen August freizubekommen. Der Zimmermann würde dem Kerl Geld geben müssen, wenn er seinem Freund helfen wollte.
»Was denkst du?«, fragte Heinrich daher in freundlichem Ton. »Wie viele Silberstücke werden erforderlich sein, um den Schaden zu beheben?«
»Mindestens fünf«, antwortete der Wirt, der wohl genau auf diese Frage gewartet hatte, sofort. Die Gier war aus seinen trüben Augen herauszulesen.
»Ich biete dir zwei.«
»Damit bin ich ruiniert«, jammerte der Wirt und deutete auf den Boden vor sich, wo ein paar wenige Scherben lagen. »Der Schaden ist deutlich größer.«
»Nein. Das ist er nicht.«
»Wenn du mir meinen Verlust nicht angemessen ersetzen willst, wird August im Kerker verrotten.« Der Wirt sah Heinrich herausfordernd an und hoffte, dass dieser seine Ansprüche nun begleichen würde.
»Für fünf Silberstücke kannst du eine neue Einrichtung für den Schankraum kaufen. Es sind aber lediglich ein paar Krüge kaputt. Der Preis ist zu hoch.«
»Vielleicht habe ich etwas zu hoch gegriffen«, lenkte der Wirt nun in immer noch klagendem Tonfall ein. »Vier Münzen brauche ich aber wirklich!«
»Ich bleibe bei zwei.« Heinrich wusste, dass er es nicht auf die Spitze treiben durfte, sah aber auf der anderen Seite nicht ein, dem Wirt seine durch harte Arbeit verdienten Münzen in den Rachen zu werfen. Er griff an die Seite seines Wamses, in den er inzwischen sechs Silbermünzen eingenäht hatte. Es wären deutlich mehr, müsste er nicht ständig für die Taten seines Freundes aufkommen. »Wenn wir uns nicht einigen, bekommst du keinen Taler, um deinen Schaden zu beheben.«
»Dann wird August nie mehr aus dem Kerker herauskommen.«
»Das mag sein.« Heinrich spürte, dass er dem Wirt nun ein neues Angebot machen musste. Sein Zorn auf August schien so groß zu sein, dass er sogar auf zwei Silbermünzen verzichten würde, nur damit der Übeltäter eine angemessene Strafe erhielt. »Ich gebe dir drei Silbermünzen, wenn du mich zu den Wachen begleitest und die Anklage gegen August zurücknimmst.«
»Einverstanden.«
Heinrich sah den Wirt erleichtert an und reichte ihm die Hand, um den Pakt zu besiegeln. Der Mann schien nun ebenfalls zufrieden. Immerhin hatte er durch den Handel mindestens zwei volle Münzen gewonnen. Die beiden machten sich gemeinsam auf den Weg zum Kerker und trugen dem Wachhabenden ihr Anliegen vor.
»Ich muss zunächst mit dem Richter sprechen«, sagte der Landsknecht. »Dieser August ist in den vergangenen Monaten mehrfach auffällig geworden. Er hat eine Strafe verdient.«
Es dauerte einige Minuten, bis der Mann in Begleitung eines Richters zu Heinrich und dem Wirt zurückkehrte. Seiner finsteren Miene war anzusehen, dass er den Gefangenen dieses Mal nicht so leicht wieder entlassen wollte.
»Es wird dem Halunken nicht schaden, wenn er eine Woche im Kerker bleibt«, sagte der Richter. »Diese Zeit sollte er besser nutzen, um über seine Sünden nachzudenken. Noch einmal werde ich mich nicht so gnädig zeigen.«
Heinrich wagte es nicht, dem Richter zu widersprechen. Daher bedankte er sich bei ihm und bat darum, kurz mit seinem Freund sprechen zu dürfen. Bevor er sich auf den Weg zu den Verliesen machte, gab er dem Wirt die versprochenen Silberstücke. Dadurch besaß er jetzt weniger, als an dem Tag, an dem er gemeinsam mit August in Frankfurt angekommen war.
***
»Du musst mir versprechen, dich in Zukunft zurückzuhalten«, sagte Heinrich nachdrücklich, als er an der Tür zu August Zelle stand und durch das kleine Gitterfenster zu seinem Freund schauen konnte.
»Es war nicht meine Schuld«, versuchte sich August zu verteidigen, doch Heinrich fuhr ihm dazwischen.
»Das war es nie.«
»Ich schwöre, die Wachleute haben angefangen.«
»Selbst wenn«, entgegnete der Zimmermann vorwurfsvoll. »Sie haben die bessere Stellung. Manchmal ist es besser, einem Streit aus dem Weg zu gehen. Auch dann, wenn man ihn nicht begonnen hat.«
»Ich weiß.« Der Blick, mit dem August Heinrich aus der Zelle heraus anschaue, weckte dessen Mitleid. Von der Rauferei hatte er nur wenige Blessuren davongetragen, war dafür aber mit Schmutz besudelt und die Haare standen ihm in alle Richtungen ab. Dennoch. So konnte es nicht weiter gehen! »Ich kann nicht immer für deine Schuld einstehen. Auch meine Mittel sind begrenzt.«
»Ich werde dir jede Silbermünze zurückzahlen«, versprach August. Beide Männer wussten, dass es dazu nie kommen würde.
»Hör mit deinen Versprechungen auf!«, sagte Heinrich verärgert. »Heute habe ich dich zum letzten Mal ausgelöst.«
»Bedeutet das, ich bin frei?«
»Nein. Der Richter hält es für sinnvoll, dich eine Woche im Kerker zu behalten. Ich muss zugeben, dass ich seine Meinung teile.«
»Das könnt ihr doch nicht machen!«
»Du weißt selbst, wie mild diese Strafe ist.« Als er den jämmerlichen Blick seines Freundes sah, blickte der Zimmermann zur Seite. Er betete zu Gott, dass er nun endlich die richtige Lehre zog. Heinrich wollte August nicht irgendwann am Galgen hängen sehen und seinen Tod betrauern.