Читать книгу Der tolle Halberstädter. Geschichten des Dreißigjährigen Krieges - Jörg Olbrich - Страница 9
ОглавлениеHessen, 12. Juli 1621
August Demmer lief der Schweiß aus allen Poren und es fiel ihm immer schwerer, einen Fuß vor den anderen zu setzen. »Du elendiger Narr«, schalt er sich selbst und spürte die Wut, die ihm in den letzten Monaten so vertraut geworden war, wieder in sich wachsen. »Wie konntest du dich selbst nur so leichtfertig um alles bringen, was du dir erarbeitet hast?!« August trat gegen ein kleines Stück Holz, das vor ihm auf dem Weg lag und nun im hohen Bogen wegflog.
Nach seiner Flucht aus Wetzlar war der ehemalige Türmer auf einem Hof in der Nähe von Friedberg untergekommen. Weil dort das Dach einer Scheune durch die hohen Schneemassen stark beschädigt worden war, kam dem Bauern die Hilfe gerade recht und er hatte keine Frage gestellt, warum August alleine in der Kälte unterwegs war. Auch wenn er die harte Arbeit nicht gewohnt war, hatte sich August sehr geschickt angestellt. Schnell hatte er so das Vertrauen des Bauern gewonnen, der den Hof mit seinem Weib und der Tochter gemeinsam bewirtschaften musste, nachdem seine beiden Söhne sich dem Heer der Protestanten angeschlossen hatten. Als Knecht hatte August neben Unterkunft und Essen auch ein geringes Entgelt für seine Arbeit bekommen. Schließlich war ihm dann die schöne Bauerstochter Helga zum Verhängnis geworden.
Bereits in den ersten Tagen hatte sie dem Knecht schöne Augen gemacht. Gestern hatte er sich den Verführungen dann nicht mehr erwehren können und es auch nicht gewollt. In den Stallungen war es zu einem heißen Liebesspiel gekommen, bei dem sie vom Bauern erwischt worden waren. August war mit Schimpf und Schande vom Hof gejagt worden und hatte nicht einmal mehr die Zeit gefunden, seine Sachen zu packen. Der ehemalige Türmer musste ohne eine Münze in der Tasche fliehen und konnte froh sein, mit dem Leben davongekommen zu sein. Zum zweiten Mal in kurzer Zeit war es ihm zum Verhängnis geworden, dass er sich den Verführungskünsten eines sündigen Weibes nicht entziehen konnte.
Am meisten schmerzten August die entgangenen Münzen. Jetzt musste er erneut Arbeit auf einem Hof finden und wäre dort zunächst auf die Almosen des Bauern angewiesen. Mit diesen Gedanken ging er den Handelsweg in Richtung Frankfurt. Er entschloss sich dazu, diesem zu folgen. In der Stadt wäre es sicher einfacher, Arbeit zu finden.
Die zunehmende Hitze setzte August zu. Er hatte vor einer halben Stunde erst aus einem Bach getrunken, bekam aber bereits wieder das Gefühl zu vertrocknen. Unvermittelt sah er vor sich einen Mann unter einem Baum liegen. Er schien zu schlafen, und August war sich sicher, noch nicht gesehen worden zu sein. Vielleicht konnte ihm der Besitz des Fremden einen Teil seiner Sorgen nehmen …
***
Heinrich war sofort hellwach. Er spürte die Hand an seinem Hals und warf sich mit aller Gewalt nach vorne. Der Angreifer stieß einen wütenden und zugleich überraschten Schrei aus. Offensichtlich hatte er in dem Zimmermann ein leichtes Opfer gesehen und nicht damit gerechnet, dass er sich wehren würde.
Bevor Heinrich aufspringen konnte, warf sich der hinterhältige Kerl auf seinen Rücken und versuchte ihn mit beiden Händen zu würgen. Heinrich trat mit der Hacke nach oben aus. Ein weiterer Schrei bewies ihm, dass er den Angreifer schmerzlich getroffen hatte. Der Zimmermann kämpfte die aufkommende Panik nieder. Der Fremde schien keine Waffe zu haben. Ansonsten hätte er sich sicher nicht auf einen Zweikampf eingelassen.
Mit aller Kraft stemmte sich Heinrich hoch und ließ sich dann sofort wieder fallen. Die Umklammerung löste sich für einen kleinen Moment. Sofort nutzte er die Bewegungsfreiheit, dreht sich wuchtig auf den Rücken und stieß mit der linken Faust nach oben. Der Fremde stöhnte auf, und Heinrich bekam auch seinen rechten Arm frei. Er schlug dem Kerl von unten gegen das Kinn und zog die Beine an, als er zurücktaumelte. Mit einem kräftigen Tritt befreite er sich endgültig.
Heinrich wusste, dass er jetzt keine Zeit verlieren durfte. Er zog den Zimmermannshammer aus seinem Gürtel und stürzte sich auf seinen Gegner. Bevor der eine Möglichkeit zur Gegenwehr bekam, sprang Heinrich auf dessen Bauch, legte die Knie auf seine Arme und holte mit der rechten, in der er den Hammer hielt, weit aus.
»Töte mich nicht«, flehte der Fremde außer Atem.
Auch Heinrich keuchte nach den Anstrengungen des kurzen Kampfes. Erst jetzt bekam er die Gelegenheit, den Kerl näher zu betrachten. Blut lief ihm aus der Nase und verteilte sich langsam in der unteren Gesichtshälfte. Die hellen Haare klebten schweißnass auf seinem Kopf. Er trug die Kleidung eines Knechtes und war nicht bewaffnet. Auf keinen Fall handelte es sich bei dem Mann um einen Söldner. Er konnte nicht viel älter sein als Heinrich selbst. Warum hatte er ihn angegriffen?
Heinrich hatte es sich im Schatten des Baumes gemütlich gemacht, um sich dort für ein paar Stunden vor den Sonnenstrahlen zu schützen, die an diesem Tag noch heißer auf die Erde herunterbrannten als in den vergangenen Wochen. Der Zimmermann hatte es nicht eilig gehabt und sich bei der Hitze auch keine Sorgen gemacht, Söldnern oder Räubern in die Hände zu fallen.
»Sag mir, warum ich dich nicht auf der Stelle erschlagen soll«, fuhr Heinrich seinen Angreifer an. Wenn es sich vermeiden ließ, wollte er den Mann nicht töten. Er war kein Mörder. Auch wenn er sich lediglich gewehrt hatte und sich im Recht sah, wollte er dem Fremden eine Möglichkeit geben, sich zu erklären.
»Ich wollte dir nichts tun«, beteuerte der Fremde, wagte es aber nicht, Heinrich in die Augen zu sehen. Noch immer lief Blut aus seiner Nase und der Kerl musste den Kopf zur Seite drehen, damit er es nicht in den Mund bekam.
»Was wolltest du von mir? Du hast mich angegriffen. Warum?«
»Ich schwöre, bei allem, was mir heilig ist, ich wollte dir nichts tun.«
»Was dann?« Heinrich sah zornig auf den Mann unter sich herab und hätte ihm am liebsten ein weiteres Mal ins Gesicht geschlagen. »Du wolltest mich ausrauben.«
»Ja«, gab der Fremde zu. »Ich habe nichts bei mir, als die Sachen, die ich am Leibe trage.«
»Und da dachtest du, in mir ein leichtes Opfer zu finden.«
»Ja.«
Heinrich dachte nach. Er traute dem Kerl nicht über den Weg, war sich aber sicher, mit ihm fertig zu werden, sollte er einen weiteren Angriff wagen. »Ich werde jetzt aufstehen. Greifst du mich an, bekommst du meinen Hammer zu spüren.« Heinrich versuchte, seiner Stimme einen drohenden Klang zu geben, merkte aber, dass ihm dies nicht so recht gelingen wollte. Er fühlte sich überfordert. Noch nie hatte er um sein Leben kämpfen müssen. Der Angriff des Fremden hatte ihm gezeigt, dass es für einen einsamen Wanderer gefährlicher war, als Heinrich vermutet hatte. Gegen bewaffnete Räuber hätte er sich nicht wehren können.
Bereit zuzuschlagen, sollte es denn erforderlich sein, stand Heinrich langsam auf. Auch der Fremde erhob sich und wischte sich notdürftig mit dem Arm das Blut aus dem Gesicht.
»Wie ist dein Name?«
»August Demmer. Ich komme aus Wetzlar.«
»Ich kenne die Stadt«, sagte Heinrich überrascht. »Du bist weit von deiner Heimat entfernt.«
»Ich musste die Stadt im Winter verlassen. Seitdem versuche ich, mich durchzuschlagen, so gut es geht.«
Heinrich wollte gar nicht wissen, warum August aus Wetzlar geflohen war. So wie er den Kerl einschätzte, würde er sich überall Ärger einhandeln, wo er auftauchte. Dennoch hatte er Mitleid mit dem Mann. Er erzählte ihm, woher er kam, von seiner Zeit bei Meister Baumgarten in Gießen und dass er nun in Frankfurt auf die Suche nach einer Anstellung gehen wollte. Mit dem guten Empfehlungsschreiben, das Baumgarten ihm ausgestellt hatte, erhoffte er sich gute Chancen.
»Ich will ebenfalls nach Frankfurt«, sagte August, nachdem Heinrich ihm sein nächstes Ziel genannt hatte. »Wollen wir den Weg gemeinsam fortsetzen?«
»Wie kann ich sicher sein, dass du mich nicht wieder angreifst?«
„Ich schwöre beim Namen meiner Mutter, dass ich dies nicht tun werde.“
Heinrich schaute August skeptisch an. Er traute ihm nicht. Auf der anderen Seite war es sicherer, wenn er wusste, wo sich der Kerl aufhielt. Wenn er ihn jetzt laufen ließ, musste er befürchten, ein weiteres Mal von ihm angegriffen zu werden. Da war es besser, ihn im Auge zu behalten.
»Ich bin einverstanden, warne dich aber ein letztes Mal: Solltest du wieder versuchen, mich zu berauben, werde ich dein Leben nicht schonen.«
»Sei unbesorgt. Zu zweit werden wir uns besser gegen Räuber verteidigen können. Wir können in der Nacht abwechselnd Wache halten.«
Das könnte dir so passen. »Nein. Wir werden ein Gasthaus aufsuchen.«
»Ich habe kein Geld.«
»Aber ich. Du kannst dir in Frankfurt eine Arbeit suchen und es mir zurückzahlen. Zunächst aber solltest du dir das Blut aus dem Gesicht waschen. Ich bin eben an einem Bach vorbeigekommen. Das war nicht weit von hier.«