Читать книгу Der tolle Halberstädter. Geschichten des Dreißigjährigen Krieges - Jörg Olbrich - Страница 5
ОглавлениеWetzlar, 09. Januar 1621
»Wir werden angegriffen!«
Die wilden Rufe aus der Stadt, die dieser alarmierende Schrei eines Wachen nach sich zog, ließen August Demmer hochschrecken. Der Türmer, dessen Aufgabe es war, am höchsten Punkt der Stadt nach Gefahren Ausschau zu halten und die Bevölkerung zu warnen, zog den Kopf zwischen den blanken und prallen Brüsten hervor, die er eben noch liebkost hatte, und warf ihnen einen letzten, sehnsüchtigen Blick zu. Dann sprang er zum Turmfenster.
»Um Gottes willen«, entfuhr es August, als er die etwa fünfzig Reiter und die mehr als zweihundert Fußsoldaten erblickte, die sich dem Stadttor bereits bis auf weniger als einen Kilometer genähert hatten.
»Was ist los?«, fragte Grete und sah August schmollend an. »Warum machst du nicht weiter?«
»Weil sich gerade eine kleine Armee auf die Tore der Stadt zubewegt.« August schaute das sündige Weib mit schreckensweiten Augen an.
Grete merkte jetzt ebenfalls, dass etwas nicht stimmte. Sie ließ ihren Busen unter ihrer Bluse verschwinden und rückte ihr Gewand zurecht. Dann trat sie neben August und drückte sich dicht an ihn, um ebenfalls aus dem Fenster zu schauen.
»Du Dummkopf! Erkennst du nicht das Banner von Graf Johann, dem Jüngeren, von Nassau-Siegen?«
August spürte den heißen Atem der Frau in seinem Nacken, die jetzt direkt in sein Ohr sprach.
»Es sind kaiserliche Soldaten. Sie werden die Stadt nicht überfallen. Mein Vater wird mit dem Obersten verhandeln. Du wirst sehen. Niemandem wird etwas zu Leide getan.«
Gretes Worte beruhigten August kaum. Er schob sie ein Stück von sich weg und sah das Weib zornig an.
»Das mag für den Stadtrat und die Bürgermeister gelten«, entgegnete er ungehalten. »Für die Bürger bedeutet es aber, dass sie von dem Wenigen, was sie haben, noch den Großteil abgeben müssen.«
»Was kümmert mich der Pöbel?« Grete sah den Türmer verächtlich an.
»Vor wenigen Minuten hast du dich noch von ihm begrabschen lassen.« Augusts Wut wuchs weiter an. Für den Moment vergaß er die Soldaten, welche die Stadttore mittlerweile sicher erreicht hatten. Er wusste nur zu gut, dass Grete als Tochter eines der beiden Bürgermeister von Wetzlar nichts zu befürchten hatte. Für ihn selbst und die meisten anderen Menschen in der Stadt galt das aber nicht.
»Tu nicht so, als hätte es dir nicht gefallen«, gab Grete beleidigt zurück und strich sich eine Strähne ihres dunklen Haares aus dem Gesicht.
August wollte zu einer scharfen Erwiderung ansetzen, schwieg dann aber. Er sah ein, dass ihn ein Streit mit dem Weib jetzt nicht weiterbringen würde. Für sie würde sich nicht viel ändern, er selbst steckte allerdings in größten Schwierigkeiten. Als Türmer von Wetzlar war es nicht nur seine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Brände in der Stadt schneller bemerkt wurden, er hätte auch melden müssen, wenn feindlichen Soldaten auf die Stadt zumarschierten. August hatte versagt, und man würde ihn dafür zur Rechenschaft ziehen. Ganz egal, ob sich die Soldaten als Feinde der Stadt erwiesen oder nicht.
»Was glaubst du wohl, wird geschehen, wenn man uns hier oben erwischt?«, stieß er aus. August raufte sich die blonden Haare.
»Es kommt doch niemals jemand die Turmstufen hinauf«, entgegnete Grete von oben herab.
»An normalen Tagen nicht«, gab der Türmer zu. Tatsächlich ging sogar er selbst die 166 Treppenstufen in die Spitze des Kirchturms nur dann nach oben oder unten, wenn er von einem Kameraden abgelöst wurde, oder seinen eigenen Dienst antrat. Verpflegt wurden die Türmer über einen Eimer, der an einer Winde heruntergelassen werden konnte. Auf dem gleichen Weg wurden auch seine Ausscheidungen entsorgt. »Heute ist aber kein normaler Tag! Du wirst den Turm nicht ungesehen verlassen können. Man wird dich fragen, woher du kommst. Wenn jemand erfährt, dass du hier oben bei mir warst, ist es nicht schwer zu erraten, was wir getan haben.« Wollte dieses Weib ihn nicht verstehen?
Ein Ruf von unten zog plötzlich die Aufmerksamkeit der beiden auf sich.
»Es kommt jemand«, flüsterte Grete entsetzt.
»Ich habe es dir doch gesagt«, gab August genauso leise zurück. »Die werden nachsehen, warum ich keinen Alarm gegeben habe.«
»Und was sollen wir jetzt machen?«
»Sei still und versteckt dich auf der Treppe zu den Glocken.«
Grete wollte die Aufforderung des Türmers in dem Augenblick befolgen, in dem der Kopf des Pfarrers vor der Plattform auftauchte. Der Geistliche brauchte nicht einmal eine Sekunde, um zu erfassen, was vor wenigen Minuten hier oben geschehen war.
»Wie kannst du es wagen, den Namen des Herrn mit deinem sündigen Treiben zu beschmutzen?«, schrie der Pfarrer August an, übersprang die letzten Treppenstufen und stürzte sich auf den Türmer.
August hob die Arme, um sich gegen die Schläge des Pfarrers zu wehren, wurde aber immer wieder gegen den Kopf getroffen. Der Geistliche war derart außer sich, dass er sich völlig vergaß. Plötzlich hielt er inne und schaute August überrascht an. Langsam taumelte er zurück und ging zu Boden, ohne auch nur einen Schrei auszustoßen. Entsetzt schaute August zuerst auf das Blut, das aus dem Hals des Pfarrers quoll und sich langsam über den Holzplanken verteilte, und dann auf die rote Klinge in Gretes Hand.
***
»Was führt Euch in unsere kleine Stadt?«, fragte Bürgermeister Borgkamm bewusst unterwürfig. Er war sofort, als er von der Ankunft des Heeres gehört hatte, zum Stadttor geeilt. Wetzlar hatte nicht viele Wachen und sie würden nichts gegen die Übermacht der Soldaten des Grafen von Nassau-Siegen ausrichten können. Darüber hinaus war Wetzlar, wenn auch protestantisch, dem Kaiser treu ergeben und würde sich nicht an den Kriegshandlungen gegen dessen Armee beteiligen.
»Meine Männer sind müde, durchgefroren und hungrig«, antwortete Graf Johann von Nassau-Siegen mit fester Stimme. »Gewährt ihnen Quartier und Verpflegung, und Eure Stadt wird nichts zu befürchten haben.«
»Euren Männern soll es hier an nichts fehlen«, antwortete Borgkamm wohl wissend, dass die Einquartierung der Soldaten die Not der Wetzlarer Bürger noch vergrößern würde. Er betete zu Gott, dass der Graf mit seinem Heer möglichst schnell wieder abziehen würde.
***
»Bist du von Sinnen?« August starrte Grete mit vor Schrecken geweiteten Augen an. »Was hast du getan?«
»Hast du nicht selbst gesagt, wir würden großen Ärger bekommen, wenn man uns hier oben erwischt? Der Pfarrer hätte uns verraten.«
»Du hast ihn ermordet.« Geschockt von der furchtbaren Tat schaute August auf den reglosen Körper am Boden, um den herum sich inzwischen eine große Blutlache gebildet hatte. »Dafür wirst du in der Hölle schmoren«, keuchte er.
»Das werden wir sehen«, entgegnete Grete spöttisch.
August spürte einen leichten Schwindel aufkommen. Nie hätte er es für möglich gehalten, dass Grete zu so etwas fähig war. Sie hatte sich noch nie sehr gottesfürchtig verhalten und ihrem Vater bisher wenig Grund gegeben, stolz auf sie zu sein. Dennoch war August entsetzt von der Kaltblütigkeit, die sie nun zeigte. Die Tat schien ihr Gewissen nicht im Geringsten zu belasten.
»Wir müssen die Leiche hier herausschaffen«, sagte August mit krächzender Stimme.
»Nein«, entgegnete Grete und schüttelte den Kopf. »Den Mord können wir nicht verheimlichen.«
»Dann müssen wir die Stadt so schnell wie möglich verlassen.«
»Ich werde nichts dergleichen tun«, sagte Grete abermals mit einem Kopfschütteln.
»Wie meinst du das?«
»Ich bin die Tochter von Bürgermeister Borgkamm. Glaubst du wirklich, man wird mich verdächtigen, ich hätte den Pfaffen umgebracht? Nein. Niemand wird auf die Idee kommen, dass ich überhaupt im Kirchturm war. Jeder wird denken, dass du den Mann umgebracht hast.«
»Wovon redest du denn da?«, fragte August verärgert. »Ich habe nichts getan.«
»Das wird dir aber niemand glauben.«
Der Türmer sah in Gretes kalte Augen und bekam es mit der Angst zu tun. Dabei war es noch nicht lange her, dass sie gemeinsam im Liebesspiel gefangen gewesen waren. »Ich dachte, wir gehören zusammen …«
»Hast du das wirklich geglaubt?«, entgegnete Grete selbstgefällig. »Hast du wirklich gedacht, dass ein Türmer die Tochter des Bürgermeisters ehelichen kann? So dumm kannst nicht einmal du sein.«
Die Worte wirkten auf August, als hätte das Weib ihm ihr Messer in die Brust gestoßen. Tatsächlich hatte er vorgehabt, irgendwann, wenn er selbst eine bessere Stellung hatte, bei Gretes Vater vorzusprechen. Jetzt erkannte er, dass das teuflische Weib lediglich mit ihm gespielt hatte.
»Du solltest nicht mehr allzu viel Zeit verlieren«, sagte Grete schließlich.
»Was soll ich denn tun?«, fragte August, der sich in diesem Augenblick wünschte, er wäre der Bürgermeistertochter niemals begegnet. Einen Moment lang dachte er darüber nach, sie mit Gewalt zu zwingen, gegenüber ihrem Vater den Mord an dem Pfarrer zuzugeben. Doch selbst dann würde er genauso am Galgen landen wie das Weib. In einem hatte Grete jedenfalls recht: Es blieb nicht mehr viel Zeit.
»Gib mir wenigstens ein paar Münzen, damit ich in eine andere Stadt gehen kann«, forderte August.
»Ich habe nichts bei mir und es ist nicht genug Zeit, Geld zu holen. Du musst dich alleine durchschlagen.« Mit dieser Aussage zeigte Grete dem Türmer, wie gleichgültig ihr sein weiteres Schicksal war. Der verächtliche Blick, den sie ihm zuwarf, sprach Bände. Er hasste sie dafür.
Während sie die Stufen des Kirchturms gemeinsam herunterstiegen, verspürte August einen inneren Drang, das Weib nach unten zu stoßen, ließ es aber bleiben, weil ihre Schreie sicherlich die Wachen anlocken würden. Er wusste, dass es einen geheimen Fluchttunnel gab, der zur verfallenen Burg Kalsmunt führte. Dort wäre er weit genug von der Stadt entfernt, um die Gegend unbemerkt verlassen zu können. Jetzt gereichte es ihm zum Vorteil, dass er die Kirche als Türmer so gut kannte.
»Ich wünsche dir viel Glück«, sagte Grete zum Abschied, doch August sah sie nicht einmal mehr an. Der spöttische Ton in ihrer Stimme bewies, dass ihre Abschiedsworte nicht mehr als eine Floskel waren.
***
August zog die Steinplatte über sich zurück in die richtige Position, und es wurde dunkel. Jetzt fand er zum ersten Mal die Zeit, tief durchzuatmen. Der Eingang zum Tunnel, der ihn bis zur ehemaligen Burg Kalsmunt führen würde, lag in der Gruft der Kirche. Nur wenige Menschen wussten von diesem Gang, der einmal als Fluchtweg angelegt worden war. Hier würde ihn niemand finden.
Schon zu Beginn des Ganges musste August kriechen. Der Weg führte ihn steil nach unten. Vor sich konnte er nichts erkennen und der Lehmboden unter ihm wurde feuchter. Er wusste nicht genau, wo an der Ruine er herauskommen würde und hoffte einfach darauf, dort von niemandem gesehen zu werden.
Schnell war die dünne Kleidung des Türmers völlig durchnässt. Seine gerade knielange Hose und das ärmellose Wams schützen ihn weder vor der Kälte, noch vor den Steinen, die sich immer wieder schmerzhaft in seine Haut bohrten. Er fror entsetzlich und konnte inzwischen nicht sagen, wie weit er bereits von der Kirche entfernt war. Sein Unbehagen nahm mit jedem Meter zu, den er durch die Dunkelheit kroch.
Plötzlich stieß er mit dem Kopf gegen etwas Hartes. Hektisch versuchte er, den Weg vor sich zu ertasten, konnte ihn aber nicht finden. Bitte Gott, stehe mir bei. Wenn der Gang an dieser Stelle eigestürzt sein sollte, würde er hier sterben. Einen Rückweg gab es für ihn nicht.
Für einen kurzen Moment sammelte August seine Kräfte. Dann begann er oberhalb seines Kopfes in der klammen Erde zu wühlen.
Nach endlosen Minuten spürte er, wie seine Hand die Erde durchstieß. Ein kalter Luftzug an den Finger bewies ihm, dass er den Ausgang gefunden haben musste.
Am liebsten hätte August vor Freude geschrien, als er über sich den Sternenhimmel sah. Er hatte es tatsächlich geschafft. Im leichten Schein des Mondes konnte er erkennen, dass er völlig verdreckt war. Sein ganzer Körper sehnte sich nach Schlaf. Noch war er aber nicht in Sicherheit.