Читать книгу Alte Hausmärchen - Humorvoll, spannend und zeitgemäß für Erwachsene neu erzählt, Band 1 - Jörn Kolder - Страница 10

Zuviel Fernsehen und Ablenkung versaut die Jugend

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 Junger Mann verfügt über zu wenig Phantasie, um Angst zu empfinden

 Schädigt einen Vertreter der katholischen Kirche durch körperliche Gewalt

 Gewinnt Geld durch Teilnahme an einem sportlichen Wettbewerb mit ruppigen Typen

 Wird Zeuge eines versuchten Totschlags, zeigt aber medizinische Grundkenntnisse

 Erhält die Quittung für sein Verhalten durch den Schwiegervater

Der Fluch der Reizüberflutung

Ein Vater hatte zwei Söhne, davon war der älteste klug und gescheit, und wußte sich in alles wohl zu schicken. Der jüngste aber war dumm, konnte nichts begreifen und lernen, und wenn ihn die Leute sahen, sprachen sie: “Mit dem wird der Vater noch seine Last haben!” Wenn nun etwas zu tun war, so mußte es der älteste allzeit ausrichten; hieß ihn aber der Vater noch spät oder gar in der Nacht etwas holen, und der Weg ging dabei über den Kirchhof oder sonst einen schaurigen Ort, so antwortete er wohl: “Ach nein, Vater, ich gehe nicht dahin, es gruselt mir!” Denn er fürchtete sich. Oder wenn abends beim Feuer Geschichten erzählt wurden, wobei einem die Haut schaudert, so sprachen die Zuhörer manchmal: “Ach, es gruselt mir!” Der jüngste saß in einer Ecke und hörte das mit an und konnte nicht begreifen, was es heißen sollte. (10)

Heino Furcht schüttelte den Kopf, sein Sohn Olaf machte ihm große Sorgen. Wahrscheinlich würde er die neunte Klasse wiederholen müssen, weil er in fast allen Fächern jämmerliche Ergebnisse hatte. Ralf, der Ältere der Brüder, hingegen war sehr intelligent und es stand fest, dass er nach dem Abitur Physik studieren würde. Dieser junge Mann war mit einer so überbordenden Phantasie ausgestattet, dass er an jeder Ecke Gefährdungen auf sich zukommen sah und nicht einmal in der Lage war sich einen Krimi anzuschauen, oder im Dunkeln den Müll weg zu bringen, weil er sich furchtbar fürchtete und dies ihm Schlafstörungen bescherte. Olaf war in dieser Hinsicht aus ganz anderem Holz geschnitzt: mit Vorliebe sah er sich Horrorfilme an aber kein einziges Mal erschrak er, wenn Monster oder Zombies über den Bildschirm zogen und Mengen von Blut spritzten, Schädel abgetrennt wurden oder sonst irgendetwas Ekliges passierte.

„Du bist doch gestört“ sagte ihm Ralf oft „wie kann man sich so was ansehen, das ist doch krank.“

„Das Problem dabei ist, dass mir das alles viel zu uncool ist“ antwortete Olaf ihm „da ist doch der Sandmann noch aufregender.“

„Du spinnst“ schaltete sich sein Vater ein „mach’ dir lieber mal Gedanken, was aus dir später werden soll. Auch diesen Monat gibt’s wegen der vielen Fünfen in der Schule kein Taschengeld.“

„Aber da kann ich mir doch kein neues Video mit einem Horrorfilm kaufen, was soll ich denn tun?“

„Das kann ich dir sagen“ antwortete sein Vater, denn er hatte in der vorigen Woche mit Pfarrer Berger gesprochen der jemand brauchte, der am Wochenende die Glocken läutete, denn die Kirchgemeinde war arm und hatte keine Möglichkeit etwas Technisches zu tun oder etwa eine Person einzustellen, die diese Aufgabe übernehmen könnte.

„Du kannst dir ein paar Euro dazuverdienen, geh’ zu Pfarrer Berger, der sagt dir worum es geht“ teilte er ihm mit.

Er hatte dem Kirchenmann auch davon berichtet, dass er es gar nicht gern sah, dass sich sein Sohn fortlaufend diese Horrorfilme anschaute, die ihn aber scheinbar überhaupt nicht erregten.

„Dem jag’ ich so einen Schrecken ein, danach ist er von dieser Sache kuriert, verlassen Sie sich drauf“ sagte der Pfarrer verschwörerisch zu Heino Furcht und dieser war gespannt, wie das Ergebnis ausfallen würde.

„Du kannst hier übernachten, schließlich musst du Mitternacht die Glocken läuten“ erklärte Pfarrer Berger Olaf Furcht, nachdem er ihn in die Bedienung des Glockenspiels eingewiesen hatte.

„Okay, dann kuck’ ich noch ´n bisschen fern und fünf vor Mitternacht geh’ ich auf den Glockenturm hoch“ sagte der junge Mann.

“Wer da?” rief er, aber die Gestalt gab keine Antwort, regte und bewegte sich nicht. “Gib Antwort,” rief der Junge, “oder mache, daß du fortkommst, du hast hier in der Nacht nichts zu schaffen!” Der Küster aber blieb unbeweglich stehen, damit der Junge glauben sollte, es wäre ein Gespenst. Der Junge rief zum zweitenmal: “Was willst du hier? Sprich, wenn du ein ehrlicher Kerl bist, oder ich werfe dich die Treppe hinab.” Der Küster dachte: Das wird so schlimm nicht gemeint sein, gab keinen Laut von sich und stand, als wenn er von Stein wäre. Da rief ihn der Junge zum drittenmal an, und als das auch vergeblich war, nahm er einen Anlauf und stieß das Gespenst die Treppe hinab, daß es zehn Stufen hinabfiel und in einer Ecke liegenblieb. (11)

Zehn vor zwölf stieg Pfarrer Mathias Berger den Turm empor. Er hatte sich in einen weißen Umhang gehüllt und diesen noch mit Lebensmittelfarbe an einigen Stellen blutrot gefärbt, über dem Gesicht trug er eine schaurige Maske, die eine grässliche Fratze darstellte. Als er sich, bevor er aufstieg, selbst im Spiegel betrachtete zuckte er vor Angst zusammen, sein Anblick war furchterregend.

Olaf erklomm die Stufen und als er am Glockenspiel ankam sah er eine blutverschmierte Gestalt, die wild mit den Gliedern zappelte und unheimliche Geräusche von sich gab.

„Wer bist du“ fragte er ungerührt, aber die Gestalt antwortete nicht und kam verstörende Laute ausstoßend näher.

„Noch einmal“ fuhr ihn Olaf an „sag’ endlich wer du bist, ansonsten fliegst du gleich die Treppe runter!“

Er bekam keine Antwort.

Pfarrer Berger rechnete nicht damit, dass der junge Mann dies tun würde und verstärkte seine Bemühungen ihn einzuschüchtern, so dass er vielleicht doch noch die Flucht ergreifen würde. Unmenschliche Geräusche produzierend kam er noch näher an Olaf heran und spürte plötzlich einen mächtigen Tritt in seinen Unterleib der ihn die Treppe abwärts beförderte, etwas knackte laut und er schrie vor Schmerz auf, dann wurde es dunkel um ihn.

„Du hast es so gewollt“ rief ihm Olaf noch hinterher, dann läutete er die Glocken, stieg herab, ignorierte den bewusstlos daliegenden Pfarrer (der wegen seiner Verkleidung nicht als solcher zu erkennen war) und ging seelenruhig ins Bett.

Gerda Berger stellte verwundert fest, dass der Platz im Bett neben ihr leer war und fragte sich, wo ihr Mann abgeblieben sei. In der Wohnung fand sie ihn nicht, auf dem Hof war er auch nicht, als sie den Kirchturm betrat hörte sie ein leises Jammern und sah eine blutbeschmierte Gestalt in der Ecke am Treppenaufgang liegen, die eine grässliche Maske trug. Sie erschrak sich fürchterlich aber dann hörte sie unter der Maske ein Murmeln.

„Hilf mir Gerda, ich glaube, ich hab mir ein Bein gebrochen.“

Sie erkannte die schwache Stimme ihres Mannes.

„Der Junge hat mich die Treppe runter geschmissen“ erklärte Pfarrer Berger jammernd.

Sie waren jetzt mehr als zwanzig Jahre miteinander verheiratet und Gerda Berger trug in den letzten Jahren immer einen unbestimmten Verdacht mit sich herum, dass er sie betrügen könnte. Dabei hatte sie Frau Schneider, eine in ihren Augen aufgedonnerte alte Fregatte im Blick, die Pfarrer Berger während seiner Predigten schmachtende Blicke zuwarf.

So wie es aussah, hatte er wohl irgendein Fetisch Problem, warum sollte er sonst diese eigenartige Kleidung tragen und sie erinnerte sich daran, dass die Schneider meist in rote Kostüme gehüllt war. Sie würde die Sache unter Beobachtung halten aber rief jetzt erst einmal den Rettungsdienst, dann klingelte sie bei Olafs Vater an.

„Bist du denn verrückt geworden“ brüllte Heino Furcht seinen Sohn an „den Pfarrer einfach die Treppe hinunter zu werfen.“

„Ich habe ihn mehrfach angesprochen, wie sollte ich denn wissen, dass das der Pfarrer ist, in diesem Aufzug“ verteidigte sich Olaf.

„Oh Mann, ich will dich am Wochenende hier nicht sehen. Du übernachtest bei Oma und Opa, da sind 50 Euro, das reicht für den Bus und was zu essen.“

Als nun der Tag anbrach, steckte der Junge seine fünfzig Taler in die Tasche, ging hinaus auf die große Landstraße und sprach immer vor sich hin: “Wenn mir’s nur gruselte! Wenn mir’s nur gruselte!” Da kam ein Mann heran, der hörte das Gespräch, das der Junge mit sich selber führte, und als sie ein Stück weiter waren, daß man den Galgen sehen konnte, sagte der Mann zu ihm: “Siehst du, dort ist der Baum, wo sieben mit des Seilers Tochter Hochzeit gehalten haben und jetzt das Fliegen lernen: setz dich darunter und warte, bis die Nacht kommt, so wirst du schon noch das Gruseln lernen.” “Wenn weiter nichts dazu gehört,” antwortete der Junge, “das ist leicht getan; lerne ich aber so geschwind das Gruseln, so sollst du meine fünfzig Taler haben; komm nur morgen früh wieder zu mir.” Da ging der Junge zu dem Galgen, setzte sich darunter und wartete, bis der Abend kam. Und weil ihn fror, machte er sich ein Feuer an. Aber um Mitternacht ging der Wind so kalt, daß er trotz des Feuers nicht warm werden wollte. Und als der Wind die Gehenkten gegeneinanderstieß, daß sie sich hin und her bewegten, so dachte er: Du frierst unten bei dem Feuer, was mögen die da oben erst frieren und zappeln. Und weil er mitleidig war, legte er die Leiter an, stieg hinauf, knüpfte einen nach dem andern los und holte sie alle sieben herab. Darauf schürte er das Feuer, blies es an und setzte sie ringsherum, daß sie sich wärmen sollten. Aber sie saßen da und regten sich nicht, und das Feuer ergriff ihre Kleider. Da sprach er: “Nehmt euch in acht, sonst häng ich euch wieder hinauf.” Die Toten aber hörten nicht, schwiegen und ließen ihre Lumpen fortbrennen.

Da ward er bös und sprach: “Wenn ihr nicht achtgeben wollt, so kann ich euch nicht helfen, ich will nicht mit euch verbrennen” und hing sie nach der Reihe wieder hinauf. (12)

Olaf fuhr nur bis zum Freizeitpark, dort stieg er aus und löste eine Eintrittskarte, denn er wollte die Gespensterbahn besuchen. Die kannte er zwar schon, aber eine knallbunte Werbung verwies auf „Grusel in neuer Dimension, gewinnen Sie 50 Euro!“ und genau das wollte er tun.

„Wie läuft die Sache ab“ fragte er den Mann am Eingang.

„Ganz einfach“ antwortete dieser „wer es am längsten drin aushält und es bis zum Ausgang schafft bekommt die 50 Euro, es müssen aber mindestens 45 Minuten vergehen. Bislang hat das allerdings noch niemand geschafft, es ist zu schlimm, überlegen Sie es sich noch einmal, das ist nichts für schwache Nerven! Allein gestern mussten wir dreimal den Notarzt rufen, Kreislaufzusammenbrüche, Sie verstehen sicher. Für den Fall der Fälle kann man aber immer wieder zum Eingang zurück.“

Mit Olaf gingen noch vier Männer in die Gespensterbahn herein die allesamt recht robust aussahen und sich locker gaben. Die Gespensterbahn hatte sieben Räume die von Gleisen durchzogen wurden, die Bahn fuhr jetzt allerdings nicht und an den Wänden wiesen Pfeile den Weg zum Ausgang.

Im ersten Raum empfing sie gespenstische Stille und im Dämmerlicht war wenig zu erkennen, leise Geräusche schufen eine unheilvolle Atmosphäre, und als sich plötzlich eine Klappe im Boden öffnete und ein Skelett durch die Luft geschleudert wurde schrien die ersten auf, Olaf ging unbeeindruckt in den zweiten Raum. Dieser war in Nebel getaucht und als sich plötzlich eine Hand auf seine Schulter legte sagte er nur: „Lassen Sie das bitte.“ Die Gestalt, die ihn mit glühenden Augen ansah und der Schleim vom Körper tropfte dachte allerdings nicht daran, so dass Olaf ihr einen Tritt gab und sie verschwand.

Röcheln drang aus dem dritten Raum und dieser war diesmal stockfinster, die anderen zögerten ihn zu betreten, aber Olaf ging zielstrebig hinein. Als etwas von der Decke auf seine Sachen tropfte wischte er es mit der Hand ab und schnüffelte daran. Da das Licht langsam anging konnte er sehen, dass es von roter Farbe war. Sirup, wie peinlich dachte er sich. Auch als plötzlich ringsum Monster erschienen und die fünf Männer umtanzten und immer wieder berührten war er nicht beeindruckt. Im vierten Raum gab der erste auf, die vorher nicht sichtbaren riesigen Fernseher zeigten in blitzschneller Reihenfolge Bilder von Gestalten, die so schrecklich waren, wie sie ein Horrorfilm nicht schlimmer zeigen konnte. Der zweite Mann drehte im fünften Raum sofort um, als ihnen eine Frau, deren Gesicht eine einzige blutige Masse war, abgerissene Körperteile entgegen schleuderte und dazu noch wie ein Wolf heulte.

Der dritte und vierte Mann schafften diesen Raum noch aber der sechste war heftig (und in diesem gaben sie auf). Ein am Boden liegender Mann riss sich die Eingeweide aus dem Bauch und verspeiste sie schmatzend, dazu zitterte der Boden, als sich ein Hüne, der wie eine Mischung aus einer riesigen Ratte und einem Huhn aussah sich ihnen brüllend näherte. Aus seinem Mund stieg gelblich scheinender Atem auf, der nach faulen Eiern roch. Olaf betrat den siebenten Raum und als er diesen durchqueren wollte baumelten ihm Füße ins Gesicht und streiften seine Schultern.

Nach oben schauend stellte er fest, dass sieben Männer nebeneinander an einem Galgen hingen und sich manchmal leicht bewegten, so, als ob der Wind ihre Körper in Schwingungen versetzen würde. Diese armen Schweine dachte er sich, als einer jammernde Laute von sich gab und ein anderer die Füße im Takt zusammenschlug. Die ganze Zeit dort in einem Gestell zu hängen ist sicher ziemlich anstrengend dachte Olaf Furcht mitleidig. Es musste auch ein Einbeiniger dabei sein, denn plötzlich löste sich dessen rechtes Bein und fiel zu Boden, aus dem Stumpf ragte ein weißlicher Knochen und Kunstblut ergoss sich breitflächig im Raum. Jetzt stimmten alle irgendwelche aus ihrer Sicht sicher grässlich gemeinte Schreie an. Olaf sah nur gelangweilt auf die Uhr, er musste noch 10 Minuten warten und betrachtete interessiert, dass der ganz rechts hängende plötzlich zu Boden stürzte und aufschrie. Diesmal war es echt, denn die Aufhängung war gerissen. Den anderen sechs tropften jetzt regelrechte Blutbäche über die Gesichter und Körper aber auch das hob den jungen Mann nicht an, der gelangweilt auf den Höhepunkt der Veranstaltung wartete.

Ein Mann mit einem Pferdefuß und einem von Säbelhieben entstelltem Gesicht kam herein, schwang einen Dreizack in der Hand, ging Richtung Galgen und riss sich mit einer einzigen Bewegung den Kopf ab, eine Blutfontäne schoss aus seinem Hals. Das geht nur mit irgendwelchen Spiegeln sagte sich Olaf und fand einen an der Wand versteckt, als er ihn herunter riss schaute ihn der Darsteller verblüfft an, jetzt hatte er seinen Kopf wieder. Nach genau 45 Minuten verließ Olaf Furcht die Gespensterbahn durch den Ausgang und ging zum Mann am Eingang.

„War nich’ besonders spannend“ sagte er nur und hielt die Hand auf, der andere drückte ihm staunend 50 Euro hinein und im Abgehen teilte ihm Olaf noch mit:

„Also gruslig war es überhaupt nicht, ich werde wohl nie was finden, was mir richtig einen Schreck einjagt, Wiedersehen.“

Alte Hausmärchen - Humorvoll, spannend und zeitgemäß für Erwachsene neu erzählt, Band 1

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