Читать книгу Alte Hausmärchen - Humorvoll, spannend und zeitgemäß für Erwachsene neu erzählt, Band 1 - Jörn Kolder - Страница 16

Der Arbeitsunfall und die Zustände im Krankenhaus

Оглавление

Den Eltern ging es erst gar übel, denn Korbmachen und Strohflechten ist keine so nahrhafte Profession wie Semmelbacken und Kälberschlachten, und als vollends eine teure Zeit kam, wurde dem armen Korbmacher und seiner Frau himmelangst, wie sie ihre sieben Würmer satt machen sollten, die alle mit äußerst gutem Appetit gesegnet waren. Da beratschlagten eines Abends, als die Kinder zu Bette waren, die beiden Eltern miteinander, was sie anfangen wollten. (20)

Paul Wollmann hatte Pech gehabt, nach dem dritten Bier war er nicht mehr standsicher genug gewesen und der dauernde Nieselregen hatte die Bohlen des Gerüstes schmierig werden lassen, als er eine weitere Stange anschrauben wollte und den Blick nach oben richtete trat er daneben und stürzte zwei Meter in die Tiefe. Zu seinem Glück landete er knapp neben dem Betonmischer den die Mauerer schon bereit gestellt hatten, allerdings schlug er so hart auf, dass mehrere Rippen, sein rechter Arm und der linke Oberschenkel zu Bruch gingen. Im Rettungswagen bekam er Schmerzmittel, so dass er den Transport leidlich überstand und im Krankenhaus sofort in den OP gebracht wurde. Nach drei Stunden war der Eingriff vorbei und er fand sich sediert in einem schmucken Krankenzimmer wieder. Neben sich erkannte er einen großflächig bandagierten Mann, der ihm unaufgefordert sofort erklärte, dass er von Dach gerutscht wäre und deswegen hier sein Quartier gefunden hatte.

Als ein Arzt an sein Bett trat spitzte Paul Wollmann erwartungsvoll die Ohren (die Schmerzen hielten sich in Grenzen) und war auf die Ausführungen des Mannes gespannt.

„Sie haben da eine feine fractura colli fermoris, ein paar Rippen sind auch kollabiert, aber einen Pneumothorax hat es zum Glück nicht gegeben, allerdings ist der rechte Arm auch mehrfach gesplittert, insgesamt aber noch mal Schwein gehabt, junger Mann“ sagte der Weißkittel, der Mitte der zwanzig war.

„Hör mal zu Bürschen“ erwiderte Paul Wollmann gereizt „entweder du erklärst mir jetzt was los ist, oder es setzt eine Tracht Prügel wenn ich wieder auf den Beinen bin, verstanden?“

„Also gut, der Oberschenkelhals ist zertrümmert, den haben wir verplattet, das gleiche haben wir mit dem rechten Arm getan, die Rippen wachsen selbst wieder zusammen und die Lunge ist nicht gefährdet. Alles wird so um die zwei Wochen hier im Krankenhaus dauern, danach geht es zur Reha und in anderthalb Jahren kommen die Platten wieder raus. Ob Sie jemals wieder als Gerüstbauer arbeiten können bezweifle ich allerdings.“

„Ein Paul Wollmann hat immer wie ein richtiger Mann mit seinen Händen gearbeitet, und so wird es auch bleiben, merke dir das, du Spund!“

„Na ja“ fuhr der Arzt vorsichtig fort „ich will Ihnen ja nicht alle Illusionen nehmen, aber möglicherweise bleiben die Gliedmaßen zum Teil steif, sie werden eventuell schlecht laufen können und Mühe haben, Gegenstände zu greifen.“

„Das einzige was bei mir steif wird geht dich gar nichts an, in zwei Wochen stehe ich wieder auf dem Gerüst“ fuhr Paul Wollmann ihn lauthals an.

„Wenn Sie meinen“ sagte der Arzt gleichgültig und verließ das Zimmer.

„Ja spinnen die denn hier“ wandte sich Paul an seinen Nachbarn „das wächst doch alles von allein zusammen, wo soll das Problem sein?“

„Du kannst dir nicht vorstellen was hier alles abgeht“ sagte der andere leise „einem im Nebenzimmer mussten die den Arm noch dreimal brechen weil er falsch zusammen gewachsen war, der arme Kerl ist vollkommen fertig mit den Nerven. Oder der, bei dem die ein Stück OP-Abdecktuch vergessen haben, die ganze Zeit haben die behauptet dass er simuliert, erst als die Wunde immer wieder aufplatzte sind die auf den Trichter gekommen, dass da was drin sein musste, was nicht hinein gehörte.“

„Hör‘ doch auf mit dem Mist“ sagte Paul schon unruhiger „das sind doch sicher nur Ausnahmen.“

„Täusche dich nicht“ fuhr der andere geheimnisvoll fort „das ist hier an der Tagesordnung, die sind total überlastet, da müssen Fehler passieren. Wer weiß, was bei dir alles schief gelaufen ist.“

Paul Wollmann war immer recht unempfindlich gewesen, bei seinem Beruf ging es nun mal nicht zimperlich zu und nicht ohne die eine oder andere Blessur ab, auf die zwei Fingerkuppen, die er im Verlauf der Jahre eingebüßt hatte, konnte er locker verzichten, solange er die Bierflasche noch zu greifen bekam. Seine letzte und einzige Krankschreibung datierte vor dreiundzwanzig Jahren, nämlich als Bernd geboren wurde und er sich schwor, dass jetzt mit dem Kinderkriegen Schluss sei. An diesem Tag hatte er mit seinen älteren Söhnen mächtig einen draufgemacht und wurde mit einer heftigen Alkoholvergiftung eingeliefert, die er nach zwei Tagen auskuriert hatte. Was ihm jetzt widerfahren war könnte allerdings schwer wiegender sein, die Vorstellung nicht mehr auf dem Gerüst arbeiten zu können erschütterte ihn schon erheblich, denn etwas anderes hatte er nie gelernt.

Seine Zweifel wurden dadurch verstärkt, dass der Chefarzt bei der Visite am nächsten Tag den Kopf schüttelte und ein „tsssss“ durch die Zähne zischen ließ, dann endlos in der Krankenakte blätterte und unverhofft einen der herumstehenden Ärzte anfuhr.

„Noch mal das Röntgenbild vom Oberschenkel her, ich frage mich welcher Idiot hier die Platten eingesetzt hat? Wir sind hier doch nicht in Afrika bei den Negern im Busch, was ist denn das für ein Pfusch, Beckmann, das waren Sie doch, oder, ich hab’s geahnt.“

„Aber Herr Professor, die Platten sitzen perfekt, das sieht man doch mehr als deutlich“ verteidigte sich der Arzt schüchtern.

„Die Platten ja, bloß die Schrauben sind in der falschen Richtung eingeschraubt, das kann nicht halten. Tja mein Lieber„ wandte er sich mürrisch an Paul Wollmann „wir müssen noch mal ran, nichts für ungut, wir haben ja sonst nichts zu tun. Der Kollege Beckmann wird die Sache korrigieren, morgen geht’s noch mal auf den Tisch. Wiedersehen.“

„Halt“ rief Paul Wollmann erschrocken „nicht den Beckmann, der kann’s doch nicht! Ich nehme lieber den Langen (er deutete auf einen Arzt, der sich verstohlen im Hintergrund herumdrückte) mit den zittrigen Händen, der wird doch wohl die paar Schrauben raus und wieder reindrehen können.“

„Haben Sie’s gehört, Beckmann, Sie sind draußen“ sagte der Chefarzt süffisant lächelnd „ihre Chance Werner, bisschen weniger Alkohol und dann geht das seinen Gang, einverstanden Herr Wollmann?“

„Ist in Ordnung, ich hab’ Vertrauen zum Werner“ sagte Paul Wollmann erleichtert.

Auch Werner schlampte unbewusst und verwendete nicht die vorgeschriebenen Schrauben aus Spezialstahl, sondern stinknormale aus dem Baumarkt (die eigentlich für eine Gartenbank in der Außenanlage des Krankenhauses vorgesehen waren), die ein überforderter Mitarbeiter der Sterilisation in die OP-Ausrüstung verpackt hatte, weil es in der Warenannahme wieder einmal drunter und drüber ging.

Der Chefarzt klopfte Paul gönnerhaft auf die Schulter und mit einem „aller guten Dinge sind drei“ intubierte er ihn eigenhändig, dann schnitt er die Naht perfekt auf, so dass die vorherigen Bemühungen von Beckmann und Werner nicht mehr zu erkennen waren und wechselte die Schrauben. Am vierten Tag seiner Einweisung reifte in Paul die Überzeugung, dass nun alles in Ordnung sei.

„So, Herr Wollmann, jetzt wollen wir mal ein bisschen Sport machen“ sprach ihn die Frau freundlich an „ich bin die Physiotherapeutin, Frau Müller.“

„Was für’n Sport“ fragte Paul verwundert.

„Na wir müssen jetzt alles wieder in Gang bringen und vor allem ihre Muskeln trainieren, die bilden sich durch das Liegen ganz schnell zurück.“

„Meine Muskeln“ sagte er giftig und ballte die linke Faust, so dass der Bizeps mächtig anschwoll „brauchen kein Training, hauen Sie wieder ab.“

„Aber Herr Wollmann, es geht um ihren rechten Arm und das linke Bein, die sind geschädigt“ erwiderte die Frau geduldig „ich helfe Ihnen aus dem Bett und dann gehen wir ein Stück.“

„Okay, sehe ich gleich mal was draußen los ist. Ist ja öde hier im Zimmer“ stimmte er zu.

Auf seine Gehhilfen gestützt humpelte Paul Wollmann über den Gang, der rechte Arm schmerzte höllisch und war gefühllos, das linke Bein konnte er nur mühsam bewegen und er war froh, als er wieder im Bett lag und die Frau seine Gliedmaßen bewegte. Jetzt wusste er, dass er nie wieder auf einem Gerüst stehen würde.

„Ich bin Frau Helwig, die Sozialarbeiterin“ stellte sich eine zierliche Frau vor „wie Sie ja vom Chefarzt wissen rechnet er mit einer dauernden Berufsunfähigkeit bei Ihnen. Leider will die Berufsgenossenschaft Ihren Unfall nicht anerkennen, da er unter Einwirkung von Alkohol erfolgte. Pech für Sie.“

„Na und, alle anderen trinken doch auch mal einen auf Arbeit, sogar die Ärzte“ verteidigte er sich.

„Meinen Sie Dr. Werner“ flüsterte ihm die Frau zu.

„Keine Ahnung“ entgegnete er „ich hatte doch Narkose als der operiert hat.“

„Na ja, egal, Sie müssen sich jedenfalls darauf einstellen, dass Sie keine Berufsunfähigkeitsrente erhalten werden sondern sich ans Sozialamt wenden. Die Reha ist leider auch abgelehnt worden, in drei Tagen werden Sie entlassen, alles Gute.“

Als ihn Hilda am Abend besuchte schilderte er ihr die Aussichten, sie weinte ein wenig und beide beschlossen darüber nachzudenken, wie es weitergehen sollte.

Alte Hausmärchen - Humorvoll, spannend und zeitgemäß für Erwachsene neu erzählt, Band 1

Подняться наверх