Читать книгу Alte Hausmärchen - Humorvoll, spannend und zeitgemäß für Erwachsene neu erzählt, Band 1 - Jörn Kolder - Страница 12
Ehrlich währt am Längsten
ОглавлениеPeter Henschel bückte sich und zog den Gegenstand aus dem hohlen Baum, er war nicht sonderlich groß aber schwer und der goldene Schein erhellte die Umgebung. Als er ihn näher betrachtete stellte er fest, dass er der Gestalt einer Gans ähnelte, der sieben Federn aus dem Hinterteil sprossen. Irgendwie musste die ganze Sache mit dem Altersheim zu tun haben dachte er sich, möglicherweise gehörte der Gegenstand dem alten Mann dem er im Wald begegnet war und da Peter nicht sonderlich hell aber ehrlich war, machte er sich auf den Weg zu dem Heim, das nicht weit entfernt war. Dort wollte er das Männchen suchen und ihm seinen Fund übergeben, denn er musste dem alten Mann sein Eigentum zurückgeben. An der Rezeption fragte er nach diesem und beschrieb ihn so gut er konnte und erwähnte auch den Knotenstock. Die Frau hinter dem Tresen dachte kurz nach, dann griff sie zum Telefon, sprach kurz mit jemandem und wandte sich an Peter.
„Der Vogel ist mal wieder ausgeflogen“ sagte sie.
„Wie, der Vogel ist ausgeflogen“ echote Henschel.
„Herr Conrad, hier auch Copperfield genannt, hat wieder einmal unerlaubt das Heim verlassen. Das passiert öfter aber er ist unbelehrbar und verweist auf den Heimvertrag. In dem steht, dass er seinen Tag so gestalten kann, wie er es will. Leider hat er da Recht aber wir haben auch eine Aufsichtspflicht und gerade Alzheimerpatienten sind nicht immer einfach. Eigentlich kommt er abends immer wieder, Sie können gern hier auf ihn warten.“
Peter nickte und ließ sich im Foyer nieder. Er sah sich um und das Haus gefiel ihm, warme Farben schmückten die Wände und alles wirkte ordentlich und sauber. Nach zwei Stunden rief er zu Hause an und sagte, dass er spät kommen würde Nach einer weiteren Stunde fragte er die Frau an der Rezeption nach einer Übernachtungsmöglichkeit und sie sah ihn erstaunt an.
„Wollen Sie hier wirklich auf Herrn Conrad warten“ fragte sie ungläubig.
„Ja“ sagte Peter und zog die Gans aus seinem Rucksack „ich glaube das gehört ihm, er muss es im Wald verloren haben.“
Die Frau starrte wie gebannt auf die Gans, die mit ihren goldenen Schein das Foyer erhellte. Sie sagte:
„Ich muss noch mal telefonieren“ und ging mit dem Apparat in eine entfernte Ecke ihres Dienstzimmers, so dass Peter nur Bruchstücke des Gesprächs hörte, unter anderem „Trottel“, „Gold“ und „Gästezimmer“.
Mit dem Trottel war sicher der demenzkranke Herr Conrad gemeint und er fand es nicht so gut, dass die Frau den Bewohner so bezeichnete (eigentlich war die Bezeichnung auf ihn gemünzt).
Sie lächelte ihn fein an als das Gespräch beendet war.
„Sie können ausnahmsweise in einem Gästezimmer übernachten und wir würden Ihnen auch ein Abendbrot spendieren, wenn Sie sich schon solche Mühe machen. Frau Balder wird Sie jetzt in den Speiseraum begleiten und Ihnen später Ihr Zimmer zeigen. Schon gut, wir möchten uns bei Ihnen bedanken, dass Sie sich so liebevoll um Herrn Conrad kümmern, keine Ursache.“
Im Speisesaal saßen nur wenige Bewohner und die Frau die ihn begleitet hatte brachte ihm das Essen, es war eine riesige Portion.
„Extra für Sie hat sich unser Küchenchef ins Zeug gelegt und als Besonderheit einen exotischen Tee zubereitet, der wird Ihnen schmecken. Aber jetzt essen Sie erst einmal, ich bringe Sie dann aufs Zimmer.“
Peter langte zu, die Bewegung an der frischen Luft hatte ihn hungrig gemacht und da er sein weniges Essen mit dem Männchen (Herrn Conrad) geteilt hatte verputzte er alles. Der Tee schmeckte aromatisch mit einem angenehmen Hang zur Fruchtigkeit, er trank noch eine weitere Tasse und plötzlich verspürte er bleierne Müdigkeit. Frau Balder war sofort bei ihm und führte ihn zu seinem Zimmer, dort zog er sich aus, stellte den Rucksack neben das Bett und war innerhalb einer Minute eingeschlafen.