Читать книгу Alte Hausmärchen - Humorvoll, spannend und zeitgemäß für Erwachsene neu erzählt, Band 1 - Jörn Kolder - Страница 15
Ein ganz gewöhnlicher Tag im Altersheim
ОглавлениеSeltsamer weise waren die Klagen der Bewohner über fehlendes Bargeld vollständig verstummt und die Wachsamkeit des Personals ließ deutlich nach, es ging also alles wieder seinen geregelten Gang. Frieda Wackerstein, die Großmutter von Britta Friedrich, schob sich auf ihren Rollator gestützt über den Gang Richtung Fernsehraum, wo einige ihrer Mitbewohner saßen und mehr oder weniger aufmerksam eine Sendung über Probleme der Quantenphysik verfolgten. Sie machte auf dem Fuße kehrt und sich auf den Weg zum Speisesaal, denn es war Mittagszeit. Mit Else Baumann, die mit an ihrem Tisch saß, verband sie eine Art Hassliebe. Die andere Frau verfügte über ein loses Mundwerk und zog fortlaufend über andere Heimbewohner her, aber Frieda Wackerstein wusste, dass sich unter dieser rauen Schale ein sehr unsicherer Mensch verbarg. Else Baumann war nicht einmal in der Lage, ihre Einkäufe in der hauseigenen Verkaufsstelle selbst vorzunehmen so dass sie Frieda Wackerstein stets um Begleitung dabei bat. Selbst das Taschengeld der Frau musste Frieda Wackerstein (mit Zustimmung des Heimleiters) für sie verwalten und grübelte fortlaufend darüber, welches dunkle Geheimnis sie dazu veranlasste, vielleicht konnte sie mit Geld nicht umgehen.
Damit lag sie nicht ganz falsch, denn Else Baumann war in ihrem Berufsleben Hauptbuchhalterin gewesen, allerdings auf einen Heiratsschwindler hereingefallen, der sie nach Strich und Faden ausnahm, so dass sie schließlich in Größenordnungen in die Kasse griff, bei einer Revision aufflog und für drei Jahre im Knast Quartier nehmen musste. Jetzt hatten sich die Rollen geändert: die ehemalige Fleischerin schlüpfte in die Funktion des Buchhalters und legte Else Baumann monatlich ihre penible Abrechnung vor.
„Kuck mal, der Rappmann, der macht der Naumann schon wieder schöne Augen, dabei ist seine Frau grade mal zwei Monate unter der Erde“ sagte Else Baumann giftig.
„Lass ihn doch“ erwiderte Frieda Wackerstein „man kann auch noch in unserem Alter sein Glück finden, mich stört das nicht.“
Else Baumann wollte weiter diskutieren aber das Essen kam, es gab Makkaroni und Gulasch. Die beiden Frauen aßen und Frieda Wackerstein nickte anerkennend.
„Schmeckt gut seit der neue Koch da ist und „ImmerLecker“ die Zutaten liefert ist das viel besser geworden, bloß bisschen knapp manchmal“ sagte sie.
„Hast du übrigens gehört“ fragte Else Baumann kauend „dass die Habermaus den jungen Mann von „ImmerLecker“ verdächtig hatte, ein Dieb zu sein?“
„Wirklich“, Frieda Wackerstein schaute sie erstaunt an, „diesen zuvorkommenden, netten und lustigen Mann, das kann nicht sein! Und ich glaube der ist sogar ein Doktor, solche Leute klauen doch nicht!“
„Hast du eine Ahnung“ erwiderte Else Baumann griesgrämig, denn der Heiratsschwindler auf den sie damals reingefallen war hatte sie mit seinem gefälschten Professorentitel so beeindruckt, dass sie vollkommen die Beherrschung verlor und für ihn das Geld veruntreute.
Sie schwatzten noch eine Weile miteinander, dann machten sie sich auf dem Weg in ihre Zimmer und Frieda Wackerstein meinte einen Mann in einem Anzug in einem der Zimmer verschwinden zu sehen. In der Eile bekam sie die Brille nicht schnell genug auf die Nase, blieb noch einige Zeit auf dem Gang stehen aber dann sagte sie sich, dass es wohl an ihren schlechten Augen liegen musste und sie sich einfach geirrt hatte. Sicherheitshalber kontrollierte sie ihren Safe, aber nichts fehlte. Dann legte sie sich zum Mittagsschlaf.
Britta Friedrich war sauer auf die Wollmann Brüder, denn der Umweg den sie wegen ihnen nehmen musste, kostete sie schon Zeit und zusätzlichen Weg. Da der Tag aber schön war verflog ihr Ärger bald und sie lief mit offenen Augen durch den Wald, hier fand sie während des Marsches auch Entspannung von ihrer Arbeit als Krankenschwester. Wenn sie Dienst hatte versuchte sie immer etwas vom Kauderwelsch der Ärzte aufzuschnappen, und da sie ihren letzten Freund vor gut drei Wochen rausgeschmissen hatte, weil er nach ihrer Ansicht zu träge war, nur vor dem Fernseher herum hing und sie ständig ins Bett zerren wollte (sie war Sex keineswegs abgeneigt, aber bitte nicht täglich!) fand sie wieder Zeit, im Pschyrembel, dem klinischen Wörterbuch zu lesen. Es war eigenartig, obwohl sie nie Latein gelernt hatte gingen ihr Begriffe wie Skrotalhernie, Myasthenia gravis, Chorea Huntington, Nucleus-Pulposus-Prolaps, Trochanter major und minor und Hallux valgus locker von den Lippen und da sie über ein ausgesprochen gutes Gedächtnis verfügte konnte sie schon ganz gut verstehen, was die Ärzte meinten. Auch ihre Großmutter Frieda Wackerstein kam in den Genuss dieses Wissens.
„Oma“ sagte sie beim letzten Besuch „das Katarakt (der graue Star) scheint schlimmer zu werden. Ich sehe doch, dass die Dioptrien deiner Brille bald nicht mehr ausreichen werden. Auch die Juvenile idiopathische Arthritis (eine Gelenkerkrankung) behindert deine Bewegungsfähigkeit deutlich, du schleichst ja regelrecht über den Gang und die arterielle Hypertonie (Bluthochdruck) kann man gut erkennen, wenn du mit rotem Gesicht etwas aufheben willst und deine Hypakusis (die Schwerhörigkeit) zwingt mich, immer lauter mit dir zu reden. Merkt denn das der Arzt nicht?“
„Aber Kind“ hatte Frieda Wackerstein erwidert „ich bin 82 und unsere Ärztin, die Frau Dr. Bartmann, die ist schon in Ordnung. Sie hat das genauso gesagt wie du jetzt und mir ein paar Medikamente verschrieben. Die müsstest du übrigens mal sehen, die wird so Anfang fünfzig sein, fährt mit einem schweren Motorrad vor und ist manchmal total flippig angezogen und außerdem noch lustig, die lacht gerne.“
Britta Friedrich erinnerte sich an dieses Gespräch als sie weiter durch den Wald lief. Na bitte, meine Diagnosen hatten sich doch genau mit denen der Ärztin gedeckt und diese Erkenntnis beflügelte sie, beim Lernen nicht locker zu lassen, denn insgeheim träumte sie davon, eines Tages selbst Ärztin zu sein. Sie hatte sich schon kundig gemacht, als sie nach dem Abitur in die Krankenpflegeausbildung ging (ihre Noten reichten damals nicht für das Medizinstudium aus) wollte sie erst eine abgeschlossene Ausbildung haben und Praxis Erfahrungen sammeln, jetzt war sie staatlich examinierte Krankenschwester und ein Jahr mit diesem Abschluss tätig. Nächstes Jahr bewerbe ich mich dachte sie gut gelaunt und war überzeugt, dass so ein Spaziergang durch den Wald immer den Kopf frei machte. Es lagen noch vier Kilometer vor ihr, in einer guten Stunde sollte sie da sein.