Читать книгу Alte Hausmärchen - Humorvoll, spannend und zeitgemäß für Erwachsene neu erzählt, Band 1 - Jörn Kolder - Страница 5
Wer angibt, hat mehr vom Leben
ОглавлениеGeschickter Gewerbetreibender prahlt gern
Legt sich mit Stärkeren an und trickst diese aus
Entgeht einem Mordanschlag und beeindruckt damit Rüpel
Liquidiert zwei riesige stadtbekannte Kriminelle ohne aufzufliegen
Muss tierische Aufträge erledigen
Soll von seiner Frau getrennt werden aber die Sache steigt doch nicht, weil er Hilfe bekommt
Der Fliegentöter vor dem „Rudi’s“
An einem Sommermorgen sass ein Gewerbetreibender auf seinem Tisch am Fenster, war guter Dinge und arbeitete aus Leibeskräften. Da kam eine Bauersfrau die Strasse herab und rief: “Gut Mus feil! Gut Mus feil!” Das klang dem Gewerbetreibender lieblich in die Ohren, er steckte sein zartes Haupt zum Fenster hinaus und rief: “Hier herauf, liebe Frau, hier wird sie ihre Ware los.” “Nun, das Mus soll mir Gott gesegnen,” rief der Gewerbetreibender, “und soll mir Kraft und Stärke geben,” holte das Brot aus dem Schrank, schnitt sich ein Stück über den ganzen Laib und strich das Mus darüber. “Das wird nicht bitter schmecken,” sprach er, “aber erst will ich den Wams fertig machen, eh ich anbeisse.” Er legte das Brot neben sich, arbeitete weiter und machte vor Freude immer grössere Stiche. Indes stieg der Geruch von dem süssen Mus hinauf an die Wand, wo die Fliegen in grosser Menge sassen, so dass sie herangelockt wurden und sich scharenweis darauf niederliessen. “Ei, wer hat euch eingeladen?” sprach der Gewerbetreibende und jagte die ungebetenen Gäste fort. Die Fliegen aber, die kein Deutsch verstanden, liessen sich nicht abweisen, sondern kamen in immer grösserer Gesellschaft wieder. Da lief dem Gewerbetreibenden endlich, wie man sagt, die Laus über die Leber, es langte aus seiner Hölle nach einem Tuchlappen, und “wart, ich will es euch geben!” schlug es unbarmherzig drauf. (3)
Richard Franke saß mürrisch an seinem Arbeitsplatz, denn er hatte einen Terminauftrag und lag weit hinter seinem Zeitplan zurück, weil er wie üblich, zu spät aus den Federn gekommen war. Scheiß Sauferei sagte er sich, gestern war er mit ein paar Kumpels wieder einmal um die Häuser gezogen und die bohrenden Kopfschmerzen signalisierten ihm, dass er wohl den einen oder anderen Schnaps besser weggelassen hätte. Seine Entscheidung, die „Schneider Manufactur“ zu gründen, bereute er dagegen allerdings überhaupt nicht. Als Selbstständiger war er schließlich sein eigener Herr und da er geschickt war entstanden unter seinen Händen wahre Meisterstücke, die reißenden Absatz fanden. Seine Auftraggeber kamen sogar aus dem Ausland. Leider war er manchmal (wie am Vorabend) zu undiszipliniert und die gestrige Zechtour war nicht der erste Ausrutscher. Den schlimmen Kater bekam er erfahrungsgemäß am besten in den Griff, wenn er Schwarzbrot mit Pflaumenmus zu sich nahm. Da er öfter nach seinen Kneipenbesuchen daran litt hatte er lange herumexperimentiert: mit Rollmops, mit Tabletten, mit kalten Umschlägen, nichts half, bis er zufällig auf das Pflaumenmus stieß.
Der Tag würde warm werden und er hatte das auf den Hof weisende Fenster geöffnet um frische Luft zu bekommen und kaute gedankenverloren auf der Schnitte herum, als das Telefon klingelte. Er stellte den Teller mit dem Brot ab und meldete sich, ein Kunde wollte einen Termin vereinbaren und man war sich schnell einig. Immer noch missmutig wollte er die Schnitte wieder nehmen stellte aber fest, dass sich darauf etliche Fliegen niedergelassen hatten. Er versuchte sie mit der Hand zu verscheuchen, aber die die Insekten ließen sich nicht davon beeindrucken, sondern saßen wie festgeklebt auf dem Brot. Da er, was Lebensmittel anging, ausgesprochen pingelig war würde er die Schnitte sowie so nicht mehr anrühren. Wütend griff er nach einem herumliegenden Stoffstück und schlug es über den Teller. Als er es wegzog sah er, dass er einige der Fliegen erwischt hatte, insgesamt waren es sieben.
„Das habt ihr davon, ihr blöden Viecher“ grummelte er zufrieden und beschloss diese Tat beim nächsten Kneipengang mit seinen Kumpels ordentlich auszuschmücken, denn er neigte zur Prahlerei und aus den sieben Fliegen würde er sieben Typen machen, die ihn belästigt und die er mit Karateschlägen außer Gefecht gesetzt hätte. Diese Sportart betrieb er zwar wirklich zum Ausgleich, war allerdings noch nicht über das Niveau eines Anfängers hinausgekommen, da er bekannter Weise Probleme mit der Disziplin hatte und so auch das Training schleifen ließ.
Als er sich für die Kneipentour vorbereitete zog er ein Shirt an, auf dem ein stilisierter Karatekämpfer abgebildet war, dem sieben Gegner in verrenkten Stellungen zu Füßen lagen (das hatte er selbst angefertigt, eine leichte Übung für ihn als Schneider). Es sollte ihm später unerklärlich bleiben wie der Käse in seine Jackentasche geraten war (möglicherweise hatte er ihn im Zustand der Trunkenheit auf der letzten Tour in einer Gaststätte mitgehen lassen aber daran fehlte ihm aufgrund der großen Trinkmenge jegliche Erinnerung). Dass er aber den kleinen Vogel, der sich in einem Busch vor dem Haus in den Zweigen verfangen hatte befreite und leicht abwesend in die andere Tasche steckte, war ihm im Gedächtnis geblieben.
Das „Rudi’s“ war eine angesagte Kneipe, in der ein kleiner, spitzbärtiger und redseliger Mann (der gern irgendeine Kappe auf dem Kopf trug) alle kulinarischen Wünsche erfüllte und dem ihm insbesondere seine Fischgerichte bereits einen dritten Michelin Stern eingebracht hatten. Rudi Rulofs war ein gewiefter Geschäftsmann und bediente auch die Bedürfnisse nicht so sehr anspruchsvoller Gäste, in dem er im Keller des Gebäudes eine Tabledance Bar etabliert hatte. In dieser verdiente er vor allem an den Mixgetränken, aber seiner Philosophie folgend (dem Gast immer etwas Besonderes zu bieten), experimentierte er mit Molekularküche und hatte es im Verlauf der Zeit zu von anderen Vertretern seiner Zunft nie zu erreichender Perfektion brachte. Die Portionen hielt er knapp, aber die Preise hoch, so dass sich das „Rudi’s Dancefloor“ als wahre Goldgrube herausstellte. Das war für ihn nicht so wichtig, vielmehr strotzte das Gästebuch von begeisterten Einträgen und seine beiden Etablissements waren weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt, so dass stets ein enormer Andrang herrschte, dem Rudi nur mit dem Einsatz eines Bestellsystems und von Türstehern Herr werden konnte.
Richard Franke stand vor einem dieser bulligen und furchteinflößenden Männer der ihm geduldig erklärte, dass die Restaurants überfüllt wären und er doch wo anders sein Glück versuchen sollte. Der Schneider hatte sich allerdings in den Kopf gesetzt unbedingt hinein zu gelangen, da Victoria Bustier heute Abend ihre Künste an der Stange zeigen würde. Die junge äußerst attraktive Frau war an den wichtigen Stellen so perfekt gerundet, dass Richard fast jede Nacht von ihr träumte.
Der Riese sah den Schneider verächtlich an und sprach: “Du Lump! du miserabler Kerl!” “Das wäre!” antwortete das Schneiderlein, knöpfte den Rock auf und zeigte dem Riesen den Gürtel, “da kannst du lesen, was ich für ein Mann bin.” Der Riese las: “Siebene auf einen Streich” meinte, das wären Menschen gewesen, die der Schneider erschlagen hätte, und kriegte ein wenig Respekt vor dem kleinen Kerl. Doch wollte er ihn erst prüfen, nahm einen Stein in die Hand, und drückte ihn zusammen, dass das Wasser heraustropfte. “Das mach mir nach,” sprach der Riese, “wenn du Stärke hast.” (4)
Mit aller Entschlossenheit trat er an den Türsteher heran und sagte:
„Lass’ mich rein Kumpel, ich will ja keinen Ärger, aber ich muss dir sagen, dass ich den schwarzen Gürtel in Karate trage, du verstehst mich sicher, hier schau mal“ sprach er ihn an, öffnete seine Jacke und zeigte dem Mann das Shirt mit den sieben niedergeschlagenen Gegnern.
Der andere sah ihn spöttisch an, schob den Ärmel seines Hemdes hoch und ballte die Faust, so dass sein mächtiger Bizeps sichtbar wurde (der Mann war diszipliniert und trainierte dreimal die Woche im Fitnessstudio).
„Schieb’ ab, du halbe Portion“ sagte er lässig „versuch’ doch mich umzuhauen, das schaffst du nie. Pass’ mal auf“ fuhr er fort und riss einen dicken Zweig von einem nahe stehenden Baum ab „was jetzt passiert.“
Er drückte den Zweig mit einer Hand zusammen, der Baum Saft tropfte daraus hervor und der Mann schaute Richard grinsend an. Dieser tat so, als würde er einen Stein vom Boden aufheben (denn in diesem Moment fühlte er den Käse in seiner Jackentasche), platzierte sich vor dem Türsteher, sah ihm in die Augen und presste den Käse zusammen, den er genau vor das Gesicht des anderen hielt. Wie um eine gewaltige Kraftanstrengung zu simulieren verzog er das Gesicht zu einer Grimasse und auch aus seiner Hand tropfte es (allerdings nur der sich verflüssigende Käse), dem anderen fielen fast die Augen aus dem Kopf aber er gab noch nicht auf.
Der Riese wusste nicht, was er sagen sollte, und konnte es von dem Männlein nicht glauben. Da hob der Riese einen Stein auf und warf ihn so hoch, dass man ihn mit Augen kaum noch sehen konnte: “Nun, du Erpelmännchen, das tu mir nach.” (5)
Auch er ging in die Knie und nahm einen Stein, dann sagte er:
„Siehst du den Kirchturm dort gleich gegenüber? Wenn du es schaffst einen Stein bis auf das Dach zu werfen, kannst du vielleicht rein, ich fange an.“
„Nichts leichter als das“ antworte Richard cool, denn er spürte, wie sich der kleine Vogel in seiner Jackentasche bewegte.
Der Türsteher holte weit aus, der Stein schlug auf dem Dach auf, verharrte einen Moment dort und rutschte wieder nach unten, dann prallte er polternd auf dem Pflaster auf. Es war dunkler geworden und Richard ging zu dem Stein, bückte sich (und kickte ihn unauffällig weg), dann nahm er den Vogel in die Hand und lief zurück zum Türsteher. Er tat so, als ob er Anlauf nehmen würde, entfernte sich damit von den anderen und öffnete seine Hand. Der kleine schwarze Vogel schoss befreit empor, überflog das Kirchdach und stieg so weit in den Himmel auf, so dass er bald nicht mehr zu sehen war.
Dem Türsteher stand der Mund offen, vielleicht hatte er die halbe Portion doch unterschätzt.